90.000 werden bleiben

Afghanistan Die Fieberkurve der Gewalt zeigt derzeit nach oben. Auch deshalb fällt wohl der von Präsident Obama bis Jahresende angekündigte Truppenabzug eher bescheiden aus

Das Große Spiel – das geostrategische Schachbrett britischer Kolonialisten, afghanischer Könige und russischer Zaren des 19. Jahrhunderts – ist das wohl älteste Afghanistan-Klischee. Es bestehen insofern kaum Zweifel daran, dass mit Beginn eines phasenweisen US-Rückzugs eine neue Runde des politischen und militärischen Ringens um das gefährlich fragile Land eingeläutet ist. Kurzfristig wird Barack Obamas Ankündigung größeren Einfluss auf die US-Politik haben als auf die afghanische Sicherheit. Nur zehn Prozent der stationierten US-Soldaten sollen noch 2011 abrücken – 90.000 werden bleiben. Man vergisst leicht, das US-Kontingent umfasste noch vor sechs Jahren 12.000 Mann.
Allerdings werden nun Friedensgespräche mit den Taliban beginnen, wie das der scheidende Verteidigungsminister Robert Gates zu verstehen gab. Es sind die ersten derartigen Kontakte, die in Washington bestätigt werden.

Außerdem scheinen einst geschmähte Personen wie der ehemalige Taliban-Minister Mulvi Qalamuddin rehabilitiert zu sein. Ebenso fünf weitere Taliban, die Präsident Karzai in einen Hohen Friedensrat berufen hat, der bei Verhandlungen mit den Aufständischen behilflich sein soll. Viele Afghanen stehen diesem Prozess mit gemischten Gefühlen gegenüber. Thomas Ruttig von Afghanistan Analysts Network berichtet von einem Besuch an der Universität von Kabul, wo er mit Studenten sprach: „Sie waren verängstigt und hatten die Sorge, dass die Taliban letztendlich wieder die Macht übernehmen, wenn es hart auf hart kommt.“

Zu wenig Polizisten

Diese Unsicherheit ist auch dem Mangel an Informationen über die Forderungen der Aufständischen geschuldet. „Wir müssen wissen, ob sie wirklich reden wollen und – das ist die Schlüsselfrage – bereit sind, eine pluralistische Gesellschaft zu akzeptieren“, so Ruttig. Derweil besteht das Ziel des Westens darin, die Sicherheitskräfte zu „afghanisieren“. Wie das funktioniert, wird sich im Juli zeigen, wenn die NATO die Kontrolle über zwei kleine Provinzen und fünf städtische Ballungsgebiete, darunter Teile Kabuls, an die afghanische Armee übergibt. Die Afghanen sind nach eigenen Angaben vorbereitet. Die Armee soll – so das Verteidigungsministerium – bis Oktober über 170.000 Mann und ein Arsenal von aus dem Westen bereitgestellter Waffen verfügen. Es bleibt fraglich, inwieweit afghanische Soldaten in der Lage sind, diese Waffen gegen eine respekteinflößende Guerilla einzusetzen. Die Fieberkurve der Gewalt jedenfalls weist in die falsche Richtung. Der Mai war der Monat mit der höchsten Zahl an zivilen Opfern seit langem. Für die Mehrzahl der 368 Toten übernahmen Taliban die Verantwortung.

Auch die zivilen Sicherheitskräfte geben ein eher schwaches Bild ab. So kommen in der Stadt Herat im Westen auf 750.000 Einwohner nur 180 Polizisten, von denen einige nach Angaben der Einwohner drogenabhängig und andere hoffnungslos korrupt sind. Auch in der Entwicklungshilfe bahnen sich ein Wandel an. Ein Jahrzehnt der Unterstützung durch den Westen macht sich auf den Straßen Kabuls sichtlich bemerkbar. Eine kleine Elite hat vom Zusammenspiel aus legalen Geschäften, politischer Korruption und lukrativen Sicherheitsverträgen profitiert. Die Immobilienpreise sind in die Höhe geschossen, Straßen wurden geteert, die Elektrizitätsversorgung verbessert. Viele Afghanen allerdings sind noch immer bitter arm. Nun wird der Auszug der Soldaten den Fluss des Geldes aus dem Westen weiter verlangsamen.

Wer wird sie ersetzen?

Kanadas Regierung hat angekündigt, die Entwicklungshilfe zu halbieren, wenn noch in diesem Jahr das Gros der eigenen Soldaten abzieht. Das World Food Programme will gleichfalls Projekte in etlichen Gebieten streichen. Die größte aller Veränderungen aber wird sich 2014 ereignen, wenn für sämtliche US- und britischen Kampftruppen der Abzug beginnt, sofern es bei den abgegebenen Versprechen bleibt. Die derzeit drängendste Frage lautet, wer wird an ihre Stelle treten.

In jüngster Zeit hat Hamid Karzai seine westlichen Alliierten teils heftig kritisiert. Erst kürzlich gab es einen erbitterten Wortwechsel mit dem US-Botschafter. Pakistan, Indien, Russland und China – auf ein Friedensabkommen schielend – bringen sich bereits in Stellung. In dieser Hinsicht ist vieles noch ungewiss. Und die Vertreter des Westens ihrerseits müssen der Tatsache ins Auge sehen, nach zehn Jahren, in denen Milliarden an Auslandshilfe gezahlt wurden, nur bescheidene Erfolge verbuchen zu können.

In Afghanistan ist es um die Bildung weiter schlecht bestellt. Es bleiben viele arm, die Korruption in den ordnungspolitischen Systemen ist endemisch. Viele Entwicklungshelfer hat der Angriff einer Menschenmenge auf die UN-Gebäude in Masar-i-Sharif am 1. April entsetzt, bei dem acht Ausländer – davon zwei durch Enthauptung – getötet wurden. „Das hat viele in der internationalen Gemeinschaft grundlegend verstört“, berichtet ein NGO-Vertreter. „Sie beginnen zu fragen, was um alles in der Welt tun wir hier überhaupt.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Declan Walsh | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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