Zu den liebsten Schreckgespenstern der Brexit-Befürworter und anderer Euroskeptiker zählte lange, dass die Türkei im Jahr 2020 EU-Mitglied werden könnte. Spätestens seit 8. Juni ist dieses Szenario Schall und Rauch. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat ein Gesetz unterzeichnet, das unmissverständlich klarmacht: Die heutige Türkei ist keine Demokratie nach westlichen Maßstäben – und soll es nicht sein. Es folgte der faktische Rauswurf des deutschen Diplomaten Hansjörg Haber, Chef der EU-Mission in Ankara, der in den Augen der Regierung von Premier Binali Yıldırım „das türkische Volk herabgesetzt“ hat. Haber hatte im Blick auf die Verhandlungen über einen Wegfall der Visapflicht ein türkisches Sprichwort gebraucht, was für Ärger sorgte. Brüssel sollte daraufhin „das Nötige tun“, Hansjörg Haber also abberufen.
1993 beschlossen die EU-Staatschefs bei einem Gipfel in Dänemark die „Kopenhagener Kriterien“, 35 an der Zahl, die jeder EU-Aspirant erfüllen muss, bevor er eintreten darf. Dazu zählen eine demokratische Ordnung, unbedingte Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, Redefreiheit und Minderheitenschutz. Das sogenannte Acquis-Kriterium verpflichtet zur Übernahme des gesamten gemeinschaftlichen Rechts (Acquis communautaire) des Staatenbunds. Seit Ende 2005 in Brüssel erste Verhandlungen dazu begonnen haben, hat sich Ankara mit diesen Auflagen schwergetan, sodass im vergangenen Jahrzehnt lediglich das Beitrittskapitel Wissenschaft und Forschung verbindlich ausgehandelt wurde, alles sonst blieb in der Schwebe.
Als „Christenclub“ geschmäht
Mit Erdoğans Absage an eine Reform der Anti-Terror-Gesetze und dem Dekret vom 8. Juni scheint jede Aufnahmediplomatie mit der EU hinfällig zu sein. Die türkische Exekutive maßt sich die politisch motivierte Strafverfolgung von Parlamentariern an, die als Störfaktor empfunden werden. Abgesehen hat es Erdoğan besonders auf die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), der er terroristische Umtriebe unterstellt. Aber auch die sozialdemokratische CHP ist betroffen.
Die EU schmäht der türkische Staatschef gern als „Christenclub“. Insofern erstaunt es nicht weiter, wenn er das Projekt EU-Aufnahme nun demonstrativ abbläst. Schließlich verheißen die jüngsten Maßnahmen: Mit der säkularen Demokratie in der Türkei ist es vorbei. Damit hat sich das religiös-autoritäre Regime für die EU definitiv disqualifiziert. Allein der zuletzt noch einmal forcierte Kampf gegen die Kurden widerspricht, gemessen an den „Kopenhagener Kriterien“, dem Gebot des Schutzes von nationalen Minderheiten.
Entfällt für HDP- und CHP-Abgeordnete die parlamentarische Immunität, sind auch deren Mandate gefährdet. Damit werden aus Sicht der AKP Verfassungsänderungen erleichtert, die den Weg zum Präsidialstaat ebnen, sofern eine Zweidrittelmehrheit in der Abgeordnetenkammer zustimmt.
Führende Mitglieder der HDP sind schon jetzt polizeilichen Einschüchterungen ausgesetzt, manche bereits im Gefängnis, weil sie öffentlich für die Rechte der Kurden eintraten. Gegen 101 Abgeordnete der HDP wie der größten Oppositionspartei CHP wird ermittelt. Den meisten dieser Parlamentarier, wenn nicht allen, drohen Prozess und Haft. Bleibt Erdoğan seiner Linie treu, dürften sich die juristischen Repressalien gegen politische Gegner noch ausweiten – bis auch der letzte Rest an demokratischer Gewaltenteilung in der Türkei geschleift ist. Selahattin Demirtaş and Figen Yüksekdağ, die sich den Vorsitz der HDP teilen und bereits beide wegen der Unterstützung von Terroristen angeklagt sind, haben schon verkündet, sie würden „bis zum Ende“ im Parlament kämpfen.
Das brutale militärische Vorgehen gegen Zivilisten in den Kurdenregionen, die Jagd auf unbequeme Journalisten, Erdoğans Appelle an türkische Frauen, ihren Beruf aufzugeben und mehr Kinder zu bekommen, die Neuauflage der Gezi-Park-Pläne des Präsidenten und dessen Wüten gegen deutsche Politiker, die Tiraden gegen Brüssel – das reicht bei weitem, um EU-Beitrittsambitionen ostentativ abzuschwören. Die knallenden Türen sind kaum zu überhören. Schon im April hat das EU-Parlament eklatante Rückschritte bei Menschenrechten und der Pressefreiheit in der Türkei beklagt. Seither ruft die EU Erdoğan vergeblich zur Mäßigung – ohne Erfolg. Deutschland und Frankreich haben bekräftigt, dass sie einen türkischen EU-Beitritt zur Not per Veto verhindern würden. Und die Hintertür nach Europa, die der Flüchtlingsdeal mit der deutschen Kanzlerin Ankara zu bieten schien, ist wieder geschlossen.
Immunität für Soldaten
Die türkische Opposition wirft Erdoğan vor, beim Umbau des Staats in ein Präsidialsystem quasi-diktatorische Macht anzustreben. Schon jetzt hat er sich die unbeschränkte Kontrolle über die Streitkräfte gesichert (indem er eine Reihe mutmaßlicher Verschwörer vor Gericht brachte), ebenso über staatliche Medien und über weite Teile der Justiz. Der eher moderate Premier Ahmet Davutoğlu musste zurücktreten, weil er die geplante Verfassungsrevision skeptisch sah.
Während Erdoğan politischen Gegnern die Immunität entzieht, will er sie für Soldaten und Polizisten im Anti-Terror-Kampf einführen: Ein Gesetzentwurf sieht vor, dass Sicherheitskräfte, die in Südostanatolien seit vergangenem Oktober Tausende von PKK-Kämpfern und Zivilisten getötet haben und denen zumeist schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, keine Strafverfolgung zu befürchten haben.
Kommentare 3
Vom "Freitag" erwarte ich die Veröffentlichung kluger Stimmen aus der Türkei selber - die es dort in Massen gibt! Warum erscheint statt dessen ein derart einseitiges, stereotypes, nicht-analytisches und primitives Türkei-Bashing im "Freitag"? Es entspricht genau der rechten Mainstream-Meinung, die überall in Stammtischen, Medien und Online verbreitet wird, angereichert durch Personalisierung gegen die Dämonen Erdogan und Putin.
Den Aquis Communitaire (von 1993), den dieser verlogene Artikel zitiert, erfüllt die Türkei besser als die meisten osteuropäischen Staaten - die seitdem aufgenommen wurden! - Wirtschaftlich und politisch ist die Türkei bedeutender, weshalb ja vor allem die CDU Angst vor ihr hat.
Wer Europa ohne seine starken Randstaaten denkt - denn die Türkei und Rußland sind europäische Randstaaten, die keine EU und keine Merkel einfach "einkaufen" kann - versteht nichts von Europa,seinem Wohlstand, Frieden und Existenzbedingungen. Wer Krieg und Armut in Europa will, betreibe Türkei-, Rußland- und Islam-Bashing.
Gehirn einschalten:
Noch vor 15 Jahren hatte derselbe Erdogan seine Politik auf den EU-Beitritt aufgebaut, hatte damit die Regierung gegen die Kemalisten errungen und mehrmals in Wahlen verteidigt. Auf meinen Reisen in der Türkei (faktisch war die erste Fremdsprache noch deutsch), erlebte ich die breite Zustimmung in der Bevölkerung. Sogar in Kurdistan kam es erstmals seit Jahrzehnten (und mehreren 100.000 Toten) unter Erdogan zu einem wirklichen Frieden.
Die Europapolitik der CDU unter Merkel (wie auch ihrer neoliberalen EU-Verbündeten) ist von Angst getrieben und spielt mit Ängsten.
Dadurch kehrt gerade der Faschismus nach Europa zurück. Das ist so gewollt, denn wenn in der kommenden Wirtschaftskrise die Elite ihre Milliardenvermögen retten will, kann sie keine klug aufgestellte Politik gebrauchen.
So verliert Europa an Ansehen und Integrationskraft: Die Türken, die vor 1000 Jahren aufbrachen, um nach Europa zu kommen (und über Jahrhunderte das modernste Reich der Welt führten, den europäischen Kaiserreichen weit überlegen), wollen nun nicht mehr dazugehören. Das ist kein Grund zum Jubeln (wie es dumme "Islamexperten" gerne tun), sondern ein weiteres Zeichen des Verfalls von Europas Integration und Ausstrahlung.
Wenn das der ausgangspunkt ist: "...die „Kopenhagener Kriterien“, 35 an der Zahl, die jeder EU-Aspirant erfüllen muss, bevor er eintreten darf. Dazu zählen eine demokratische Ordnung...", dann ist klar, dass es die EU nur mit solchen mitgliedsstaaten zu tun haben will, die so sind wie ihre jetzigen mitglieder - ein modell, das gerade via Brexit krachend gescheitert ist.
"Demokratie" ist in der EU offenbar nur als parteiendemokratie (möglichst mit 5-prozent-hürde!) denkbar und akzeptiert. Was aber, wenn das volk eines landes beschliesst, das im nationalen parlament nicht nur politische strömungen, sondern auch minderheiten und partikularinteressen vertreten sein sollten - also behinderte, schwule, sportvereine, berufsgruppen, sozialhilfeempfänger, jugendliche und hochbetagte, frauen, männer, transsexuelle etc.? Eine solche repräsentanz kann ganz offensichlich nicht durch parteienwahlen hergestellt werden. Aber ist ein solches land keine demokartie - nach EU massstäben nicht, aber nach volkesmeinung schon!
Die EU hat lieber parlamente, in denen advokaten und (beurlaubte) staatsdiener das gros stellen, während arbeiter/innen, sozialhilfeempfänger und minderheiten nur in einstelligen prozentberechen vorkommen.
Das dem so ist, ist ein wesentlicher grund für das scheitern der EU-der-magnaten-und-konzerne, eine strktur, die inhärent undemokratisch ist, aber im namen der demokratie aller welt dieses system aufzuherrschen versucht.
Hallo, ich hab echt kein lust mehr irgend was über den Idiot was zu lesen oder zu hören.Was er denk und will ,intresiert mich echt nicht,Mich nervt es ihn in fernseher sein namen zu hören.Er ist der grösste Terrorist ,er scheisst auf menschenleben.Er muss weg ,aber desto mehr man von ihn berichtet ,kriegt er irgend welche macht das die ganze welt von ihnm redet auch wenn es nur schlechtes ist . MfG Schloven