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Lebensläufe Seit 21 Jahren folgen britische Forscher dem Schicksal Tausender Mütter und Kinder. Dank "Children of the Nineties" wurde schon manches medizinische Rätsel gelöst

Vergangene Weihnachten bekam Sue Ring eine ungewöhnliche SMS: von einer Gefriertruhe. Es gehe zuende, verlautete sie. Und Ring hetzte los. Nicht nach Hause, sondern an ihren Arbeitsplatz. In die Zentrale des Childrens of the Nineties-Projekt in Bristol.

Im Keller fing sie sofort an, Phiolen mit Blut und Gewebe aus dem angeschlagenen Kühlgerät in einen Reservefroster zu verfrachten. Mehr als 1,5 Millionen solcher Proben von Tausenden Kindern und Eltern sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten in die sechzig Tiefkühlschränken der Zentrale gewandert, und die Röhrchen sind gelinde gesagt: kostbar. Deshalb wird sofort ein automatisches Benachrichtigungssystem aktiviert, wenn die Temperatur steigt.

„Eigentlich sollte ich mich an diesem Tag mit einem tiefgekühlten Truthahn befassen“, erinnert sich Ring. „Stattdessen musste ich Zehntausende Speichel- und Blutproben umquartieren. Sonst wären sie ruiniert gewesen.“ Ihre prompte Reaktion ist beispielhaft für den leidenschaftlichen Einsatz der fast 100 Mitarbeiter im Bristol-Projekt, das unter dem offiziellen Namen „Avon-Langzeitstudie über Eltern und Kinder“ (Alspac) von der Bristoler Pädiatrie-Professorin Jean Golding gegründet wurde, und das jetzt seinen 21. Geburtstag feiert. Zu erwarten war das nicht: Golding hatte sich zu Beginn noch mit großen finanziellen Problemen herumschlagen müssen. Aber ihre Hartnäckigkeit erwies sich als ungemein hilfreich, die ersten Schwangeren aus Avon wurden im April 1991 rekrutiert, nach 21 Monaten standen 13.761 in den Listen.

Die Leben dieser Frauen und ihrer 13.988 Kinder sind seither zum Gegenstand beispielloser Forschung geworden: Jeder Aspekt ihrer Lebensweise, jeder Schnippsel ihres Erbguts wurde eingesammelt, aufbewahrt und untersucht. Die daraus resultierenden Daten haben der Gesundheit der Nation bereits große Dienste geleistet – und sie werden das Verständnis von Kindheit, Kindererziehung und Pubertät revolutionieren, von der Wirkung des Turnunterrichts auf die Zahl der übergewichtigen Schüler bis zur Entwicklung von Kindern, die von einem lesbischen Elternpaar großgezogen werden. In Sachen Autismus, Selbstverletzungen, Menopause, Ernährung, Allergien, plötzlicher Kindstod und viele andere wurde dank der Zahlen aus Bristol schon manches Rätsel gelöst.

Mehr als 650 Forscher nutzen die Ergebnisse, weltweit und vor allem in den USA. „Die Vereinigten Staaten haben keine so detaillierten Langzeituntersuchungen von normalen Menschen“, erklärt die Geschäftsführerin des Projekts, Lynn Molloy. „Wenn US-Forscher lernen wollen, wie sich die Gesundheit, die Konstitution und die Einstellungen der Leute über die Jahre ändern, müssen sie zu uns kommen. Wir Briten sind wirklich weltweit führend in dieser Art Forschung.“

Heikle Fragen

Debbie Lawlor, eine der Leiterinnen des Projekts, weiß auch warum. „Children of the Nineties ist ein modernes Symptom der britischen Datensammelwut. Demografie, Kirche, Temperaturen, Zugnummern – was auch immer ihnen einfällt, wir sammeln es. Das liegt uns im Blut.“ Und je mehr Jahre vergehen, desto mehr Information sammelt sich auch in den Kellern und auf den Computern des Bristol-Projekts. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist rapide gestiegen. George Davey Smith, der wissenschaftliche Direktor, zeigt auf eine Reihe Karteikästen vor seinem Büro. „In dem ersten sind alle Dokumente verzeichnet, die aus den Daten der ersten neun Jahre hervorgegangen sind. Inzwischen können wir jedes Jahr so einen Kasten füllen. Und es wird immer mehr.“

In der Tat: Die Studie hat von Beginn an Daten produziert. Und Schlagzeilen. Als das Projekt anfing, diskutierte man heftig, ob Babys in Rückenlage schlafen gelegt werden sollten um das Risiko für den plötzlichen Kindstod zu senken. Es gab Hinweise auf so eine Wirkung. Einige Wissenschaftler aber fürchteten, dass die Rückenlage einen schlechten Einfluss auf die motorische Entwicklung der Kinder habe, auf ihre Fähigkeit zu krabbeln, sich gegen die Schwerkraft durchzusetzen und damit letztlich auf den Antrieb, die Welt zu erkunden.

„Wir hatten glücklicherweise die Daten, um das aufzulösen“, sagt Davey Smith. „Unsere Analyse zeigte, dass solche Babies zwar wirklich ein wenig langsamer in ihrer motorischen Entwicklung werden, aber auch, dass dieser Effekt nach 18 Monaten verschwindet. Die Rückenlagen-Babies holen ihre Kollegen wieder ein.“ Diese Erkenntnis gab der „Back to Sleep“-Kampagne der Gesundheitsämter massiven Vorschub, die Zahl der Fälle von plötzlichem Kindstod ist seit 1991 auf ein Viertel gesunken. Pro Woche konnten zehn Babys gerettet werden.

Darüber hinaus hat das Projekt gezeigt, dass Erdnussallergien in der Bevölkerung extrem häufig sind; dass es seit Generationen kaum soziale Mobilität in Großbritannien gegeben hat; dass Sportunterricht in jungen Jahren tatsächlich hilft, Übergewicht im Erwachsenenalter zu verhindern. Und es gibt viele Erkenntnisse über Tabak, Alkohol und illegale Drogen: „Wir wollten wissen, ob wir erkennen können, wer in späteren Jahren zu einem schweren Trinker wird“, sagt Smith. „Also haben wir die jüngeren Erwachsenen nach ihren ersten Erfahrungen mit Alkohol befragt. Jene, die schon beim ersten Mal viel trinken mussten, um einen Effekt zu spüren, wurden später besonders häufig Alkoholiker.“ Interessanterweise ist es mit Cannabis genau umgekehrt. Wer viel kiffen muss, um Wirkung zu erzielen, gibt es bald wieder auf.

Forscher, die sich mit solchen Studien befassen, riskieren allerdings den Zorn jener, die glauben, man solle mit Jugendlichen erst gar nicht über Drogen sprechen. Zudem fühlen sich viele Jugendliche bedrängt oder veralbert. „Wenn wir ständig solche heiklen Fragen stellen, dann haben die Kids bald keine Lust mehr und verlassen die Studie“, sagt Molloy. Um das zu verhindern, gibt es einen Beratungsausschuss mit Jugendlichen aus dem Projekt, der die Fragen der Wissenschaftler absegnet – oder ungehend sein Veto einlegt, falls die Fragen zu dumm werden. „Letztlich müssen die Jugendlichen nichts beantworten, was ihnen peinlich ist. Obwohl ihre Aussagen über Drogen und Sex komplett anonym bleiben“, erklärt Kate Sherlock, eine der Betreuerinnen im Projekt und zudem eine der ersten Mütter, die bei Children of the Nineties mitmachte. Ihr Sohn Tom studiert inzwischen. „Ich habe mich für diese Arbeit immer interessiert, aber inzwischen hat sie mich absorbiert. Das hier ist ein Ort, an dem jeder sich nur einem Ziel verschrieben hat: Das Projekt am Leben zu halten.“

Dabei ist es alles andere als einfach, die Teilnehmer einer so großen Studie nicht zu verlieren. „Die Menschen leben heute ein hektisches Leben“, sagt Sherlock. „Und obwohl es nicht viel Mühe und Zeit kostet, steigen immer welche aus. Unsere Teilnehmerzahlen sind trotzdem gut, aber wir wollen sie auch nicht gefährden.“

Die Daten der Probanden werden auf verschiedene Weise gesammelt. Es gibt einfache physische Messungen wie Größe, Gewicht und Blutdruck, die von normalen Arztbesuchen stammen. Es gibt Fragebögen zur Soziologie und Psychologie, die sich auch mit Alkohol, Rauchen und Drogen befassen. Es gibt Verwaltungsdaten, zum Beispiel Kriminalakten. Und es gibt natürlich die biologischen Proben.

„Wir haben so ziemlich alles gesammelt, was wir kriegen konnten“, erzählt Sue Ring. „Wir nehmen immer wieder Blut ab, und Speichel, Urin, Haare. Wir haben die DNA von 10.000 Kindern und ihren Müttern. Von den Plazentas haben wir auch viele Proben, außerdem Milchzähne, aber da mussten wir hart verhandeln, denn die sind den Kleinen viel wert. Wir haben sie erst bekommen, wenn wir den Kindern ein offizielles Papier vorgelegt haben, das von der Zahn-Fee unterschrieben war.“

Frühe Schwergewichte

Angesichts eines solchen Arsenals epidemiologischer Waffen ist es kein Wunder, dass Children of the Nineties so populär unter Forschern und Ärzten geworden ist. Seine Daten haben viel Interessantes offenbart: Dass kleine Kinder viel zu viel Salz essen, dass Flaschenbabys später eher dick werden, wenn sie früh mit fester Nahrung anfangen, und dass Babys mit Durchfall oft in Haushalten wohnen, in denen flüssige oder Sprüh-Lufterfrischer benutzt werden. In vielen Fällen haben die Resultate Fragen beantwortet, an die zu Beginn des Projektes nicht mal gedacht wurde, wie Lawlor betont. „Ein Beispiel: Wissenschaftler hatten den Verdacht, dass Frauen, die zu Beginn ihrer Schwangerschaft sehr stark zunehmen, auch dicke Babys bekommen, welche wiederum als Erwachsene überdurchschnittlich dick bleiben und deshalb anfällig sind für Herzkreislauferkrankungen.“

Das leuchtete auch ein, aber für einen Beleg fehlten die Zahlen – bis das Bristol-Projekt seine Daten einbrachte – und den Verdacht bestätigte. Die Kinder der betreffenden Mütter wiegen im Schnitt ein Kilo mehr, wenn sie neun Jahre alt sind. Ihre Taillen sind breiter, sie haben fast ein Kilo mehr Körperfett und einen leicht erhöhten Blutdruck. „Aber man muss diese These noch genauer prüfen“, sagt Lawlor. „Mütter müssen gut genährt sein, während der Schwangerschaft, und wir wollen nicht, dass sie vom Essen abgeschreckt werden.“

Dennoch ist das Ergebnis ein klares Zeichen für den Wert des Projekts. Man hat viel von den Müttern und Kindern aus Bristol gelernt, und bald kommen neue Daten hinzu: von den Vätern, die seit kurzem in das Projekt eingebunden werden, und den ersten Babys, die von den Kindern der Neunziger jetzt geboren werden. Siebzig dieser Coco90s gibt es schon.

In gewisser Weise haben wir erst angefangen“, sagt Molloy. „Wir werden mehreren Generationen von der Geburt bis zum Tod folgen. Wie wir über Gesundheit denken, und über das, was sie beeinflusst, wird nie mehr sein wie früher.“

Robin McKie ist Redakteur des Observer

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Geschrieben von

Robin McKie | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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