Alle hatten Angst

Porträt Rosanna Arquette stammt aus einer Schauspielerfamilie und war selbst ganz oben. Dann traf sie den berüchtigten Produzenten Harvey Weinstein – ihr Ende
Ausgabe 40/2019

Sie klingt panisch. Jemand wolle unser Gespräch verhindern, glaubt Rosanna Arquette. Eine halbe Stunde lang hat jemand von der BBC versucht, für uns eine Konferenzschaltung einzurichten. Dann hat Arquette die Dinge selbst in die Hand genommen und rief mich direkt an. „So etwas passiert die ganze Zeit!“, sagt sie mit lauter werdender Stimme. „Warum werden wir jedes Mal unterbrochen?“, fragt sie. „Irgendwas stimmt hier nicht. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Warum können wir nicht miteinander telefonieren?“ Sie lacht nervös.

Soll ich auf ihre Idee eingehen, dass man versucht hat, uns zu sabotieren? Ich zögere. Ich hatte das für ein kleines technisches Problem gehalten. Wer sollte sie davon abhalten wollen, mit mir zu sprechen? „Über eine Harvey-Weinstein-Doku?“, fragt sie spöttisch. „Viele!“ Es wäre einfach, das als Paranoia abzutun. Doch ist Paranoia eine vernünftige Reaktion auf das, was sie durchgemacht hat. Der BBC-Film Untouchable: The Rise and Fall of Harvey Weinstein ( zu deutsch etwa: Unberührbar – Aufstieg und Fall von Harvey Weinstein)von Ursula Macfarlane geht bis in Weinsteins Schulzeit zurück, um deutlich zu machen, wie er seine Macht eingesetzt hat. Neben Schauspielkolleginnen und früheren Angestellten Weinsteins trägt Arquette ihre eigene Erfahrung eines angeblichen sexuellen Missbrauchs bei. „Ich gehe davon aus, dass sie ‚angeblich‘ schreiben müssen“, sagt sie. Weinstein bestreitet jegliche nicht einvernehmlichen sexuellen Kontakte. Was Arquette nicht wusste, bevor einer der Produzenten ihr den fertigen Film zu Hause vorbeibrachte, war, dass der private israelische Informationsdienst Black Cube ein Profil von ihr für Weinstein angelegt hatte. „Abgehörte Telefone, das Eindringen in Computer und E-Mails, die verschwinden – diese Dinge gehen noch immer weiter“, sagt sie. „Eine Menge Leute haben mit unserem Leid eine Menge Geld gemacht.“ Ihr Lachen klingt traurig. Ich denke, das Wort „Leid“ hat dieses Lachen ausgelöst.

Rosanna Arquette war eine der Ersten, die Details des Missbrauchs durch Weinstein erzählte. Im New Yorker berichtete sie dem Reporter Ronan Farrow davon, in der New York Times Jodi Kantor. Das war vor zwei Jahren, im Oktober 2017, der Beginn von #MeToo. Als die Macher des BBC-Films sie kontaktierten, „hatten alle so viel Angst, dass niemand reden wollte“, sagt Arquette. „Aber wie könnte man das nicht?“

Familiensachen und Ärger mit Twitter

In Hollywood bildeten die Arquette-Geschwister eine kleine Filmdynastie: Rosanna war in den Achtzigern das It-Girl der New Yorker Szene, dem die Rockband Toto einen Song widmete, ihre jüngere Schwester Patricia der Darling des 90er-Indiekinos, Bruder David wurde zeitgleich mit Wes Cravens Scream-Filmen bekannt und die Jüngste, Alexis, wurde ebenfalls Schauspielerin und Sängerin. Die Transfrau starb 2016 an den Folgen von Aids.

Rosanna Arquette wurde 1959 in New York City geboren und stammt aus einer Schauspielerfamilie. Ihr Großvater Cliff Arquette machte sich als Charley Weaver im US-Fernsehen einen Namen, ihr Vater Lewis Arquette galt als einer der besten Improvisationskünstler des amerikanischen Theaters und gründete eine satirische Improvisationstruppe. Ihre Mutter Mardi Arquette war Schriftstellerin. Als Kind der Flower-Power-Zeit trampte Rosanna Arquette mit 15 durch die USA, nahm schließlich mit 17 in San Francisco und in Los Angeles Schauspielunterricht. 1979 kam sie zum Film. In den 1980er/90er Jahren war Rosanna Arquette ein Star, doch irgendwann begann ihr Name aus dem allgemeinen Bewusstsein zu verschwinden. Zuletzt spielte sie in Das etruskische Lächeln (2018) und Die Wurzeln des Glücks (2019).

Im August 2019 hat Rosanna Arquette auf Twitter die Gemüter erhitzt – so sehr, dass das FBI ihr dazu geraten hat, ihren Account zu sperren. Auslöser des Ärgers war ein Tweet, in dem sie sich dafür entschuldigt, weiß und privilegiert zu sein. Nachdem die ultrakonservative Online-Plattform Breitbart über Arquettes Tweet berichtet hatte, brach sofort der Shitstorm los. Rosanna Arquette lebt heute mit ihrer Familie in Kalifornien.

Sie berichtet vor der Kamera von der Zeit Anfang der Neunziger, als sie im Beverly Hills Hotel in Los Angeles eintraf, um sich dort mit Weinstein zu treffen. Während sie dies tut, umfasst sie ihr Handgelenk und zieht ihren Körper zurück. Ihre Hände machen eine Abwehrgeste, als sie seine Stimme nachahmt: Sie verhält sich, als wäre Weinstein körperlich anwesend, als müsse sie auch seine Rolle mitspielen.

„Darin besteht das Trauma“ – immer wieder in den Augenblick zurückversetzt zu werden, in dem Weinstein in seinem weißen Bademantel versucht habe, ihre Hand zunächst in seinen „schmerzenden“ Nacken zu legen und dann an seinen Penis zuführen. Welche Erlösung es gewesen sein muss, den sicheren Fahrstuhl zu erreichen.

„Ich war niemals in Sicherheit“, entgegnet sie, „von dem Moment an, als mir gesagt wurde, ich solle mit ihm zu Abend essen.“ Dann hieß es: Mr. Weinstein empfängt sie oben. „Mein Herz begann zu rasen. Mmmmm.“ Sie macht eine Art Störgeräusch oder Alarm, der nicht aufhört. Diese Panik halte noch bis heute an. Bevor sie floh, warnte Weinstein sie – sie sagt das mit tiefer Stimme: „Rosanna, du machst einen sehr großen Fehler.“ Er habe zwei Frauen genannt, die seiner Aufforderung nachgekommen seien, um ihre Karrieren voranzutreiben. Eine von ihnen hat mittlerweile ihre Sicht der Dinge geschildert, sie habe Weinstein in Wahrheit abgewiesen. „Gwyneth Paltrow“, sagt sie. „Weinstein sagte: ‚Sieh, was ich für Gwyneth Paltrow getan habe.‘ Gwyneth Paltrow war mit Brad Pitt zusammen! Sie hatte bereits Erfolg! Auf gar keinen Fall hat sie einen Deal mit Harry gemacht!“

Doch die Behauptung muss auf ihr gelastet haben. Vor zwei Jahren, als Farrows Untersuchung erschien, habe sie Paltrow angerufen. „Und ich sagte: ‚Ich wollte nur, dass du weißt, was er zu mir gesagt hat.‘“ Was erwiderte Paltrow? „Sie lachte und sagte: ‚Ja, das habe ich gehört!‘“ Natürlich, eine Menge Leute hatten eine Menge über Weinstein gehört. Verschwiegenheit war nie das Problem.

„Ich habe vielen davon erzählt“, sagt Arquette. Wem? „Ich habe es vor Jahren Jane Fonda erzählt. Sie hörte mir zu und war besorgt … Ich redete ohne Unterlass.“ Und Rose McGowan redete ebenfalls. Arquette hörte von ihrer Vergewaltigung durch Weinstein lange vor Farrows Artikel 2017 – und vertraute ihre eigene Erfahrung einer dritten Person an, die es dann McGowan erzählte. All diese halb privaten Gespräche führten zu einer Art Allgemeinwissen, und aus diesem Grund sei Farrow auf sie zugekommen. „Aber wir befanden uns in einer solch fürchterlichen Situation.“ Bereits als sie die Tür zu Weinsteins Hotelzimmer hinter sich gelassen hatte und mit dem Aufzug in die Lobby herunterfuhr, dachte sie: Er wird mich fertigmachen.

Der Tratsch ist dein Feind

Arquette spielte in mehr als 70 Filmen mit, wie in Susan … verzweifelt gesucht (1985), Im Rausch der Tiefe (1988) oder Pulp Fiction (1994) und Crash (1996) – alle schon lange her. „Nun, wie Mira Sorvino sagt, Weinstein (Anm. d. Red.) hat uns eine Menge Zeit unseres Lebens genommen. Unsere Karrieren haben einen bedeutenden Einbruch erlebt. Innerhalb von Minuten sind wir von der Spitze der A-Listen ans Ende der C-Minus-Listen gerutscht. Auf Dinnerpartys hieß es: ‚Pass auf, sie ist eine krasse Nervensäge.‘ Die Leute hören auf so etwas, dabei stimmt es überhaupt nicht!“

Pulp Fiction wurde zwei Jahre nach dem angeblichen Übergriff gedreht und von Weinsteins Firma Miramax produziert. Sie wollte mit Quentin Tarantino arbeiten, sagt Arquette. „Aber ich habe nie auch nur einen Penny daran verdient. Ich bin die einzige berühmte Schauspielerin, die keinen Backend-Deal hatte (eine Gewinnbeteiligung, Anm. d. Red.). Und das zu einer Zeit, als ich das hätte haben sollen!“ Sie stand auf der A-Liste. „Ich hasse es, das zu sagen“, erwidert sie. Ich vermute, sie empfindet das als anmaßend.Sie hat keine Beweise dafür, dass Weinstein andere vor ihr gewarnt hat. Und sie hatte immer Arbeit. „Selbst wenn es ein schlechter Fernsehfilm war, der oben in Kanada gedreht wurde“, sagt sie. „Als Alleinerziehende muss man seine Rechnungen bezahlen.“ Ihre Tochter, Zoë Bleu Sidel, sei 24 und übertreffe sie als Schauspielerin locker, sagt Arquette. Zoës Vater, der Restaurateur John Sidel, war der zweite von Arquettes vier Ehemännern. Seit 2013 ist sie mit dem Investmentbanker Todd Morgan verheiratet. In Hollywood fühlte sie sich „immer isoliert“. Lange hatte sie keinen Agenten, obwohl ihr jetziger wundervoll sei. „Ich habe das Spiel nie wirklich mitgespielt und getan, was man tun muss, um ein Star zu sein – den Mund halten.“

Ich frage mich, ob ihre Geschwister – Patricia, David (mit dem sie am häufigsten spreche) und Richmond – dieses Gefühl teilen? „Nun, ich denke nicht, dass Patricia das tut!“, erwidert sie blitzartig. „Sie ist gerade ganz vorne mit dabei.“ Hat es unter ihnen früher viel Konkurrenz gegeben? Alle Geschwister sind Schauspieler geworden. „In unserer Familie habe ich das nie erlebt“, behauptet sie. Kurze Pause. „Warten Sie, was sage ich da? Mein Vater stand in einer seltsamen Art der Konkurrenz zu mir, die ich nie als sonderlich unterstützend und solidarisch empfand. Alle sagten zwar: ‚Dein Papa ist so stolz auf dich!‘ Worauf ich erwiderte: ,Oh, ist er das? Nun, das ist aber nett!‘ Aber er war ein Schauspieler, der sich sehr mühte und es nicht wirklich geschafft hat. Und dann werden alle seine Kinder, na ja, Sie wissen schon, Stars.“

Als ihre transsexuelle Schwester Alexis eine Frau sein wollte, habe Rosanna Arquette immer den Witz gerissen: „‚Du denkst, du hättest es schwer, einen Job als Schauspielerin zu bekommen? Warte mal, bis du eine Frau bist!‘ Wir fanden das beide sehr lustig.“ Sie atmet lange aus, versuche, ihre Gedanken zu ordnen, erklärt sie. Dann kommt sie wieder auf die Sache mit dem Anruf zurück. „Es ist wirklich schwer, nicht paranoid zu werden, wenn man ausspioniert wird. Ich merke, dass ich so getriggert werde. Da ist dieses intensive Gefühl von Angst, dann trinkt man einen starken Kaffee zum Frühstück und fragt sich: ‚Was geht hier vor sich?‘“ Wieder dieses Lachen.

Nachdem Alexis 2016 an HIV gestorben war, gründete Arquette die Alexis Arquette Family Foundation. „Ich spürte wirklich das Bedürfnis, etwas zu tun“, sagt sie. Auch Patricia brachte sich ein, „sie erhielt ein paar gute Spenden“. Doch die Familie war sich anscheinend nicht einig, welches Pronomen sie verwenden sollte: Richmond verwendete in einem Facebook-Post „er“, Patricia „sie“. „Das war das Großartige an Alexis: sie war ein ‚they‘, bevor dieses Pronomen für das dritte Geschlecht offiziell existierte.“ Heute sagen sie in der Familie „sie“.

„Eternal Flame“

Politisches Engagement war den Arquettes immer wichtig. Ihre Mutter, Brenda Denaut, war eine Aktivistin. Alexis setzte sich für die Rechte von Transsexuellen ein. Patricia nutzte ihre Oscar-Rede 2015, um Lohngerechtigkeit zu fordern. Rosanna Arquette hatte 2002 den Dokumentarfilm Searching for Debra Winger (dt. Suchen nach Debra Winger) gedreht, in dem sie den Mangel an Rollen für ältere Schauspielerinnen anprangert. Sie hält sich ungern mit der Frage auf, was sie für eine Karriere hätte haben können. Wichtiger sei es, „eine Stimme für die zu sein, die keine Stimme haben“. Sie rede jeden Tag mit anderen Frauen über deren Erfahrungen. Wird sie da nicht immer wieder an den Augenblick erinnert, in dem sie selbst missbraucht werden sollte? „Wir müssen umsichtig und aufmerksam sein“. sagt sie. „Männer glauben, es handle sich nur um eine Phase, die Frauen durchmachten. Und wir sind hier, um ihnen zu sagen, dass das nie vorbeigeht. Wir können Missbrauch nicht als etwas Normales behandeln. Das ist es nicht!“

Sie scheint alle Missbrauchsvorwürfe am eigenen Leib zu spüren. Am Tag nach der Anhörung des Supreme-Court-Kandidaten Brett Kavanaugh wachte sie mit Gürtelrose auf. „Es war einfach zu viel, dass er davonkam!“ Sie findet, es bedeute etwas, dass Jeffrey Epstein – der Multimillionär der Minderjährige missbraucht haben soll – an ihrem 60. Geburtstag gestorben ist, so als wären ihre Schicksale miteinander verbunden. Arquette kümmerte sich an dem Tag um viele Frauen, denen Epsteins Tod naheging. Sie kämpft an so vielen Fronten, springt von Weinstein zu Epstein zu Charles Manson. „Habe ich manchmal das Gefühl, ich sollte verdammt noch mal die Klappe halten?“, fragt sie. „Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll.“

Zum Glück habe sie in ihrem Hof später noch ein „totales Rock’n’Roll-Love-Festival“ gefeiert, mit Aktivistinnen, der Sängerin Joni Mitchell und Schauspielerin Ellen Barkin „in all ihrer Pracht“. Patricia konnte nicht kommen, sie war erkältet, aber Arquettes Tochter hielt eine „wunderschöne Rede, wie dankbar sie mir ist, dass ich immer für sie da war“. Susanna Hoff von den Bangles spielte Eternal Flame und Take Me With U von Prince. Arquette singt leise: „I don’t care pretty baby, take me with you …“

Paula Cocozza ist Autorin des Guardian

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Geschrieben von

Paula Cocozza | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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