Alle werden Israelis

Israel Donald Trump und Benjamin Netanjahu ziehen gar nicht an einem Strang – selbst dann nicht, wenn es um die Ein-Staaten-Lösung geht
Ausgabe 09/2017
Ein Soldat in der zwischen Siedlern und Palästinensern geteilten Stadt Hebron
Ein Soldat in der zwischen Siedlern und Palästinensern geteilten Stadt Hebron

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Eine defekte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an. Das trifft auch auf Donald Trump zu. Nach dem Gespräch mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu hatte er jüngst in einer Pressekonferenz gesagt: Die Zwei-Staaten-Lösung sei nicht mehr der „einfachere“ Weg zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern. Damit hatte er recht. Und er lag ebenfalls richtig mit seiner Auffassung, es liege an den Israelis und Palästinensern, zu entscheiden, ob sie in einem oder zwei Staaten zusammenleben wollten.

Dabei war die Beteuerung des US-Präsidenten, dass es keine Alternative zum Frieden gebe, eine dramatische, wenngleich weitgehend verkannte Zurückweisung der Politik Netanjahus. Der produziert Lippenbekenntnisse zum Frieden en masse – lehnt ihn aber eigentlich ab. Er kann sich darin des ungebrochenen Beistandes seiner Koalitionsregierung mit Parteien wie Jisra’el Beitenu (Unser Haus Israel) oder den Ultraorthodoxen von der Schas-Partei gewiss sein. Die zieht es vor, den Konflikt zu verwalten, indem im Gazastreifen und im Libanon alle paar Monate militärisch eingeriffen wird. Gleichzeitig verschafft sie in der Westbank dank fortgesetzter Landnahme durch israelische Siedler, durch verdeckte Razzien und Massenverhaftungen einem autoritären Besatzungsregime Geltung.

Auch wenn Donald Trump bisher jeden direkten Konflikt mit Netanjahu vermieden hat, verfestigt sich der Eindruck, dass die US-Administration eine solche Politik mit Skepsis quittiert. Er werde, so hört man von Trump, eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung unterstützen, je nachdem, worauf sich Israelis und Palästinenser einigen. Mit dieser simplen Stellungnahme schließt das Weiße Haus die Option auf eine „Verwaltung des Konflikts“, quasi einen ewigen Erhalt des Status quo, aus. Gleichzeitig wird die Ein-Staaten-Lösung, von einem Albtraum oder einer utopischen Vision zu einem Rahmenwerk erklärt, das nicht weniger vorstellbar und weniger erwägenswert ist als zwei separate Einheiten. Die Ein-Staaten-Lösung ist ein Arrangement, bei dem Palästinenser und Israelis gleichberechtigt in einer gemeinsamen politischen Arena regieren,

Natürlich wird es in absehbarer Zeit kein wie auch immer geartetes Friedensabkommen geben. Zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels leben inzwischen im Westjordanland. Schon aus diesem Grund ist eine Zwei-Staaten-Lösung seit nunmehr mindestens zehn Jahren ein „wandelnder Toter“. Die Vorstellung, man könne stattdessen über einen demokratischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer verhandeln, wirkt verwegen und absurd. Dennoch, der einzig sinnvolle Weg für all jene, denen an Frieden, Demokratie und Prosperität in Palästina und Israel gelegen ist, besteht darin, dass beide Konfliktparteien angestoßen werden, auf radikal neue Weise über ihre Situation nachzudenken. Trumps Statement nach dem Treffen mit Netanjahu ließe sich mit etwas gutem Willen so deuten. Gesteht man den Aussagen des US-Präsidenten mehr Gedankentiefe zu, als möglicherweise angemessen ist, lässt sich darin die Einsicht erkennen: Wer heute noch besessen auf einem Staat für Israelis und einem für die Palästinenser beharrt, sucht in einer Realität Zuflucht, die zur Fiktion verkam.

Unter dem Deckmantel langer, hoffnungsloser Verhandlungen unter dem Motto „Land für Frieden“ haben israelische Regierungen die Kontrolle über die Westbank mehr und mehr zementiert. Zugleich bewirkt die Blockade des Gazastreifens, dass dort fast zwei Millionen Einwohner ohne eine wirtschaftliche Perspektive leben und deshalb verelenden. Parallel dazu lassen die jüngste Welle von Terroranschlägen gegen Israelis und unlängst die Wahlen innerhalb der Hamas (der Scharfrichter Jahja Sanwar hat als neuer Führer in Gaza-Stadt Ismael Hanije abgelöst) erkennen, dass die Palästinenser durch einen unaufrichtigen Friedensprozess nur verlieren. Er nährt ihre Verzweiflung und befeuert die Sehnsucht nach Rache.

Zu viel Karussell-Fahren

Ob Donalds Trumps Schwiegersohn Jared Kushner mit seinem orthodox-jüdischen Hintergrund als Nahost-Berater des Weißen Hauses oder irgendein anderes Mitglied der neuen US-Regierung produktive Schritte in Richtung Frieden bewirken kann, lässt sich nur schwer glauben. Aber indem Trump signalisiert, dass er den Friedensprozess als zeitaufwendiges Karussell endloser Bewegungen ohne Fortschritt ablehnt, zwingt er Israelis und Palästinenser, nach Jahren der Stagnation wieder kreativ über ihre Zukunft nachzudenken.

Besteht die in einer Ein-Staaten-Lösung, dann wäre zu fragen, ob sich Israel in seiner jetzigen Form abschafft, wenn ein binationaler Ausgleich unausweichlich wird. Bleibt das Land eine „Ethnokratie“, ist jede Koexistenz mit den Palästinensern wohl ausgeschlossen. Und wie wird der ultraorthodoxe Teil der jüdischen Bevölkerung reagieren, sollte es zur faktischen Neugründung Israels kommen? Aus dieser Klientel rekrutieren sich die treuesten Anhänger der nationalkonservativen Regierungen Netanjahus, die dieser seit nunmehr acht Jahren führt. Tatsächlich scheint zumindest ein israelischer Politiker Mut aus Trumps Äußerungen zu schöpfen. Präsident Reuven Rivlin hat es verurteilt, dass man sich Land in der Westbank aneignet, ohne den davon betroffenen Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft zu gewähren.

Die Westbank annektieren

Israel sollte besser so viel Mut haben, die Westbank vollständig zu annektieren und allen dort lebenden Palästinensern die volle und gleichwertige Staatsbürgerschaft zu geben. Schließlich ist man nach dem gewonnenen Krieg von 1948 genauso verfahren. In der Tat wurden damals die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete annektiert, die Teil eines palästinensischen Staats hätten sein sollen, wie ihn die Vereinten Nationen wollten. Mit der Aneignung dieser Territorien wurden alle Araber, die auf ihnen lebten (ausgenommen jene, die man vertrieben hatte und von einer Rückkehr abhielt), automatisch israelische Staatsbürger.

Um bei Rivlin zu bleiben: Würde nach jenem Muster die Westbank annektiert, wäre eine politische Arena mit immensem Potenzial geschaffen. Die Gegend würde freilich kein Ort der kuscheligen Gefühle und des versöhnlichen Einvernehmens sein. Andererseits hätten sich unproduktive Verhandlungen zwischen Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas erledigt. Es wäre vorbei mit den Nullsummen-Spielen und stattdessen die Gelegenheit vorhanden, einen sicher komplizierteren, aber potenziell produktiveren Wettstreit zwischen palästinensischen und jüdischen Gruppen auszulösen, die sich über die Grenzen ihrer nationalen Gemeinschaften hinweg um Verbündete und Verständigung bemühen müssten.

Natürlich bliebe die aus Juden und Arabern bestehende Bevölkerung weiter in religiöse, ideologische, regionale und wirtschaftliche Fraktionen geteilt. Aber was wäre das für eine Herausforderung, der sich eine notgedrungen interfraktionelle Regierung gegenüber sähe? Sie müsste um Ausgleich bemüht sein – oder würde scheitern. Sie hätte nicht zuletzt zu entscheiden, was mit dem Gazastreifen geschehen soll. Und sie könnte sich der enthusiastischen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sicher sein, die alles tun würde und müsste, um einen neuen Nahostkrieg zu vermeiden.

Gewiss ist es noch zu früh, um von einem solchen Schritt als „der Lösung“ zu sprechen. Aber es ist an der Zeit, sich endlich vorzustellen, dass die zermürbenden Konflikte, mit denen Israelis und Palästinenser seit sieben Jahrzehnten konfrontiert sind, gegen die Herausforderung eingetauscht werden, als Gleichwürdige und Gleichwertige miteinander zu leben. Möglich erscheint das nur, wenn auf beiden Seiten ernsthaft darüber nachgedacht wird, wie sich demokratische Prinzipien und die gleichrangige Legitimität israelischer wie palästinensischer Interessen honorieren lassen. Nur dann können israelische, palästinensische und amerikanische Politiker neues Leben in eine zu lange vom Tod durchstreifte Region tragen.

Ian Lustick lebt in den USA und ist als Politikwissenschaftler auf die moderne Geschichte des Nahen Ostens spezialisiert

Übersetzung: Zilla Hofman

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