Erinnerung Phil Spectors „Wall of Sound“ versprühte ansteckende Leichtigkeit. Er selbst war bitter und gewalttätig – und tötete Lana Clarkson. Nun starb er im Gefängnis
Drei Jahre bevor der Sänger und Songschreiber Gene Pitney 2006 starb, interviewte ich ihn, und das Gespräch kam unweigerlich auf Phil Spector, dessen Durchbruch-Single Pitney geschrieben hatte: den No1-Hit der Gruppe The Crystals im Jahr 1962 „He’s a Rebel“. Die Single war unumstritten eine der größten der Pop-Geschichte, eine perfekte Mischung aus getragener Melodie, echoreicher Produktion und Darlene Loves triumphierender Stimme.
Ein Jahr zuvor hatte Pitney „Every Breath I Take“ gesungen. Mit den dröhnenden Pauken, überdimensioniertem Hintergrundgesang und der dramatischen Orchestrierung war der Song eine der wenigen frühen Spector-Produktionen, die den Mehr-ist-mehr-„Wall-of-Sound“-Ansatz vorwegnahmen, der ihn z
Spector-Produktionen, die den Mehr-ist-mehr-„Wall-of-Sound“-Ansatz vorwegnahmen, der ihn zu einer Legende machen sollte. Davon abgesehen war Spector zum Zeitpunkt des Interviews „ein brandheißes Nachrichtenthema“, wie Pitney es ausdrückte: Der Musikproduzent stand kurz vor einem Gerichtsprozess wegen Mordes.Wie viele Leute, die Spector kannten, schien Pitney geschockt, aber nicht übermäßig überrascht über eine solche Wende der Ereignisse. So als hätte das früher oder später kommen müssen: der Alkohol, die Drogen, die offensichtliche Instabilität, die Obsession mit Waffen und die Gewalt gegen Frauen in der Vergangenheit. Spector habe von Anfang an immer Probleme gehabt. „Als ich am Tag seiner Ankunft in New York mit ihm zu Abend aß, sagte er zu mir, seine Schwester sei in einer Nervenklinik und sie sei noch die gesündeste in der Familie“, erinnerte sich Pitney. „Ich dachte, was soll das bedeuten?“In Wahrheit wussten alle, wie Phil Spector war, bevor er Lana Clarkson tötete. Er selbst hatte einmal gesagt, die Verletzungen in seiner Kindheit durch den Selbstmord des Vaters und die Tyrannisierung durch die Mutter und Schulkameraden hätten „Teufel in mir“ hinterlassen.Die Ehe? HorrorDie 1990 veröffentlichte Autobiografie seiner Ex-Frau Ronnie Spector unter dem Titel „Be My Baby“ legte den ganzen Horror ihrer Ehe offen: das Haus umgeben von Stacheldrahtzaun und Wachhunden; die Drohungen, sie zu töten, entweder selbst oder durch einen Auftragskiller; der goldverzierte Sarg mit Glasdeckel, den er im Keller aufgestellt hatte, mit der Drohung, nach der Ermordung darin ihre Leiche zur Schau zu stellen.Zahlreich sind auch die Geschichten über Aufnahme-Sessions, die aus dem Ruder liefen. 1973 schoss Spector bei Aufnahme-Arbeiten mit John Lennon mit einer Pistole in die Decke der A&M Studios in Los Angeles. Ein andermal zielte er mit einer Waffe auf Leonard Cohens Kehle, woraufhin Cohen ihn mit Hitler verglich. Und laut dem Bassisten der Gruppe Ramones, Dee Dee, hielt Spector die Gruppe während der Aufnahme von „End of the Century“ 1980 mit vorgehaltener Waffe als Geiseln. Der Autor Sean O’Hagan bezeichnete einmal die außergewöhnliche Musik, die Spector zwischen 1962 und 1966 schuf, als „Akt der Rache gegen eine Welt, die ihn als Kind unheilbar schwer verletzt hatte“. So als sei jeder Hit eine Rehabilitation seines Ansehens, von der er hoffte, dass sie seine tief verwurzelten Minderwertigkeitsgefühle verringern würde.Doch „He’s a Rebel“, „Da Doo Ron Ron“ und „Be My Baby“ klingen nicht wie Racheakte. Sie klingen durch und durch fröhlich, unschuldig. Verständlicherweise ist Spectors Tendenz zum Übermaß als Produzent viel Aufmerksamkeit geschenkt worden: die zig Musiker*innen, die nötig waren, um seine Singles zu produzieren, die Verdoppelung und Verdreifachung der Instrumentierung. Doch das Übergepäck erdrückte seine Platten-Aufnahmen nie. Fröhlich laufen sie vor sich hin. Selbst die düstersten seiner Balladen – „Is This What I Get for Loving You?“ und „I Wish I Never Saw the Sunshine“ von den Ronettes, letzteres vermutlich der künstlerische Höhepunkt der „Wall of Sound“-Jahre, kommen bemerkenswert leicht daher. Irgendwie wusste er, Singles zu schaffen, die klanglich dicht waren, aber auch ein Gefühl von Raum vermitteln. Sie klingen nie „drüber“ oder klaustrophobisch – ausgenommen vielleicht Ike und Tina Turners „River Deep, Mountain High“. Das Lied war Spectors Favorit unter seinen Werken, hätte aber möglicherweise von einem stärker zurückhaltenden Ansatz profitiert.Nach dem Erfolg folgte SchlimmeresDer US-Misserfolg von „River Deep, Mountan High“ schickte Spector in einen Abwärtsstrudel, von dem er sich nie wirklich erholte. Sein nächster hochkarätiger Job, die Produktion des Beatles-Songs „Let It Be“ war eine Katastrophe. Das Ausgangsmaterial war nicht das Beste der Gruppe. John Lennon bezeichnete es prägnant als „die beschissenste Ladung schlecht aufgenommener Scheiße mit einem lausigen Feeling, die es je gab“. Dennoch: Spector verkleisterte gute Songs mit einem unpassenden Orchester- und Chorsirup. Seine Produktion von George Harrisons „All Things Must Pass“ war ähnlich umstritten – „Zu viel Echo“, beklagte Harrison Jahre später, und sein Sohn Dhani erklärte, der größte Wunsch seines Vaters sei gewesen, „das Album klarer klingen zu lassen“. Dagegen leistete Spector bei Lennons beiden ersten Solo-Studioalben „John Lennon/Plastic Ono Band“ and „Imagine“ fantastische Arbeit: Intensiv, minimal, das Gegenteil dessen, was man erwarten würde – nur das fabelhaft explosive Schlagzeug auf der Single „Instant Karma!“ aus dem Jahr 1970 war ein Echo seiner Arbeit in den 60er Jahren.Der Rest seiner Karriere brachte nur noch vereinzelte Momente, die seine frühere Größe andeuteten, vor allem die Titel, die er 1975 für Dions Album „Born To Be With You“ aufnahm. Beendet wurde Spectors Aufnahmekarriere schließlich damit, dass ihn ausgerechnet die britische Indie-Rock-Band Starsailor feuerte. Damals wirkte das wie ein unwürdiger Ausgang. Schließlich war er für eine Reihe Ära-definierender Klassiker verantwortlich gewesen. Sein Werk hatte Brian Wilson dazu angeregt, das Beach Boys-Album „Pet Sounds“ zu schaffen, das regelmäßig zum größten Album aller Zeiten ausgerufen wird. Sein 60er-Sound war als Einfluss praktisch überall zu hören, nicht zuletzt im Klang von Bruce Springsteens E Street Band. Und dann ein solches Ende. Aber wie sich herausstellte, sollte noch viel Schlimmeres folgen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.