Alles im Griff

Porträt Anne Tyler ist Erfolgsautorin und Spezialistin fürs normale Leben: Man schadet sich, verletzt die anderen und kriegt es irgendwie wieder hin. Wie jetzt im neuen Roman
Ausgabe 09/2015

Im Arbeitszimmer in ihrem Haus in Baltimore lässt Anne Tyler meist die Fenster offen. Um das Leben draußen mitzubekommen. Ihre Texte schreibt sie per Hand, dann tippt sie sie ab, dann macht sie eine Tonaufnahme davon und überarbeitet das Geschriebene schließlich am Computer. Währenddessen hört sie, was sich auf der Straße so tut, Kindergeplapper, einparkende Autos, Alltagsgeplauder. Am liebsten, sagt sie, beobachte sie Arbeiter: wie sie redeten, wie sie zupackten. An der Wand hängt ein Auszug aus Richard Wilburs Gedicht Walking to Sleep (1969): „So wirf dich guten Mutes in die Leere deines Kopfes. / Etwas wird zu dir kommen.“ – „Für mich handeln diese Worte davon, eine Idee zu haben, ein Buch zu schreiben“, sagt Tyler. „Ich werde nicht nervös. Es wird zu dir kommen, lass es herein.“

Ein solches Vorstadthaus mag untypisch erscheinen für einen Literatursuperstar. Aber es passt genau zu dem Stoff, aus dem Anne Tylers rund 20 Bücher geschaffen sind: Es geht ums Familienleben, um Liebe, Enttäuschungen, zerstrittene Geschwister, Todesfälle. Ihr gerade auf Deutsch erschienener neuer Roman Der leuchtend blaue Faden (siehe Info) spielt in ebendiesem Viertel von Baltimore, in Roland Park.

Frisch aus der Druckerei

Mit dem jüngsten Roman der US-Amerikanerin kommen Anne-Tyler-Fans wieder voll auf ihre Kosten: Im Mittelpunkt von Der leuchtend blaue Faden (Kein & Aber, 452 Seiten) steht das alternde Ehepaar Abby und Red Whitshank. Vier Kinder haben sie gemeinsam großgezogen, doch der Nachwuchs ist inzwischen selbst erwachsen – und das Haus für das Ehepaar jetzt eigentlich viel zu groß. Zwar kommen die Familienmitglieder immer wieder dort zusammen. Aber auch wenn alle die vertraute Heimeligkeit bewahren wollen, lösen sich viele vermeintliche Gewissheiten nun nach und nach auf.

Zum Beispiel in dieser Szene: „Im Juli 1994 bekamen Red und Abby Whitshank spätabends einen Anruf von ihrem Sohn Denny“, heißt es. Denny spricht dann mit seinem Vater Red, kurz und knapp, um dem alten Herrn am Hörer möglichst schmerzfrei mitzuteilen, dass er schwul ist. „Und du legst einfach auf?“, fragt Abby, die Mutter, entsetzt. „Nein, Abby. Er hat zuerst aufgelegt. Ich hab bloß gesagt: ,Was zum Teufel‘, und er hat aufgelegt. Klick. Einfach so“, antwortet der Vater.

Im englischsprachigen Raum fielen die Kritiken für Anne Tylers Leuchtend blauen Faden gemischt aus. Der neue Roman „recycelt rein routinemäßig so ziemlich alle Themen und Wendungen, die man von Anne Tyler bereits kennt“, maulte die New York Times. Der britische Guardian lobte dagegen die Kraft des Erzähltexts, die aus „den ruhelosen Tiefen unter der bruchlosen Oberfläche“ erwachse. Als weltweit erfolgreiche Autorin, Trägerin des Pulitzer-Preises (im Jahr 1989 für Atemübungen) und des Sunday Times Award für ihr Lebenswerk kann die 73-Jährige leichte Kritteleien aber bestimmt ganz locker wegstecken. Tim Teeman/Katja Kullmann

Mit Atemübungen (1988), dem Porträt einer alt gewordenen Ehe, gewann sie den Pulitzer-Preis, aus dem Beziehungsgewirr von Die Reisen des Mr. Leary (1985) wurde ein Hollywoodfilm mit William Hurt und Geena Davis in den Hauptrollen. Etliche Schriftstellerkollegen haben sich als Tyler-Fans bekannt, etwa John Updike, Eudora Welty, Nick Hornby und Jonathan Franzen.

Die Leere im Kopf zulassen

Bevor sie nun den Faden schrieb – der wieder in einer Mittelschichtsfamilie voller Spannungen spielt –, hatte Tyler angekündigt, sie plane eine Familiensaga über so viele Generationen, dass sie nie enden würde. Ihre Kinder sollten dann nach ihrem Tod entscheiden, ob sie das Werk veröffentlichten oder nicht. Daraus schloss mancher, die 73-Jährige betrachte den Faden als ihr letztes Buch. Tyler erklärt darauf gelassen: „Ich habe nicht gesagt, ich schreibe nie wieder etwas, sondern dass diese Generationensaga nie zu Ende sein wird – das ist ein feiner Unterschied. Ich mache niemandem einen Vorwurf, der das falsch versteht.“

Der Ruhestand kommt für sie nicht in Betracht? Nein, sagt Tyler. „Leider habe ich keinerlei Hobbys entwickelt, das war sehr kurzsichtig von mir. Ich muss also weiter schreiben.“ Auf Autopilot schalte sie dabei aber nicht: „Wenn ich ein Buch beende, denke ich nie: So, jetzt das nächste. Ich brauche eine Weile, um wieder aufzuladen. Am glücklichsten bin ich, wenn ich mitten im Schreiben stecke. Dann reden die Figuren mit mir. Manchmal machen sie einen Witz, auf den ich selbst nicht gekommen bin.“ Das „Aufladen“ dauere bei ihr meist ein knappes Jahr. „Eine Mutter fragt man ja auch nicht gleich nach der Geburt, wann ihr nächstes Kind kommt.“ In den Nichtschreibphasen wird sie, wie sie selbst sagt, zur Turbohausfrau, dann putzt sie alle Schubladen aus und schmeißt Dinnerpartys. In gewisser Weise ist sie selbst eine Figur wie aus einem ihrer Romane. Ihr Haus wirkt jedenfalls makellos sauber.

Der Titel Der leuchtend blaue Faden bezieht sich auf eine Garnrolle, auf die eine der Romanfiguren in einem entscheidenden Moment der Geschichte stößt. So wie es Tyler selbst einmal erging: Nach dem Tod ihrer Mutter wollte sie ein Hemd für ihren Vater flicken, da fiel ihr aus einem Wandschränkchen eine blaue Garnrolle in die Hände: „Als hätte meine Mutter sie mir gereicht.“ Die Sterblichkeit ist in ihren Büchern ein Dauerthema. „Als meine Großeltern alt wurden, dachte ich, es muss furchtbar sein, sich dem Lebensende zu nähern. Heute erscheint es mir natürlich. Ich möchte nicht immer weiterleben, der Tod schreckt mich nicht sehr.“ Abby, der Matriarchin im Faden, entgleitet nach und nach der Verstand. Mehrfach ist in Tylers Familie Alzheimer aufgetreten, ihre Mutter starb an den Folgen. „Bei Alzheimer bin ich immer wachsam. Wenn ich beim Einkaufen jemanden treffe und mir der Name nicht einfällt, denke ich: Geht es jetzt los?“

Als Tyler sechs Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit ihr in eine Quäkerkommune in den Appalachen. Ihr Vater war Drogist, ihre Mutter Sozialarbeiterin. Anfangs unterrichtete ihre Mutter sie zu Hause, erst als Elfjährige kam sie auf eine Regelschule. „Ich bin keine Verfechterin des Heimunterrichts. Vor allem wünschte ich mir andere Kinder um mich herum.“ Ihre Mutter habe sie zudem als ziemlich launisch erlebt: „Ich verließ mich eher auf die Beständigkeit meines Vaters.“ Sich selbst sieht sie als säkulare Quäkerin. „Ich bin nicht religiös, aber mir gefällt die Ethik der Quäker, die auf Frieden und Gleichberechtigung baut. Mit sieben entschied ich, dass ich nicht an Gott glauben konnte. Ich bin kein spiritueller Mensch, der Sinn des Lebens interessiert mich überhaupt nicht.“

Der Mann war ein Zufall

Künstlerin wollte sie eigentlich werden. „Aber der Welt ging nicht viel verloren, als ich diese Idee über Bord warf.“ Stattdessen studierte sie Russisch an der Columbia-Universität. „Es war das haarsträubendste Hauptfach, das man sich aussuchen konnte. Wir befanden uns ja im Kalten Krieg, und der Fakultätschef sagte: ‚Soweit ich weiß, ist ein FBI-Agent auf mich angesetzt, und auf Sie, meine Studentin, bald wohl auch.’ Das fand ich toll.“ Übersetzerin oder Dolmetscherin hatte sie werden wollen. Aber dann kam sie zu dem Schluss, dass sie zwar Dostojewskis Russland liebte, nicht aber die trostlose Sowjetunion. Sie begann, in einer Bücherei zu jobben. Nachts schrieb sie an ihrem ersten Roman. Jenen Erstling, Wenn je der Morgen kommt, veröffentlichte sie 1964, mit gerade einmal 23 Jahren.

Ihr Schreiben sei nicht autobiografisch, darauf besteht sie. Aber es spiegle durchaus viele ihrer persönlichen Lebensstadien wider. „Morde und große Spannungsmomente gibt es bei mir nicht. Ich erzähle meine Geschichten an der Zeit entlang: Leute kriegen Kinder, heiraten, sterben, die normalen Ereignisse.“

Ihren Mann, den im Iran geborenen Kinderpsychologen und Autor Taghi Modarressi, lernte sie kennen, als sie 21 war und er 30. „Ich war damals mit einem anderen verlobt, ich war eigentlich immer verlobt. Taghis erster Satz zu mir lautete: ‚Warum bist du bloß so abweisend?’ Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick, aber sieben Monate später heirateten wir. Es war dann purer Zufall, dass er der Richtige war. Ich suchte damals bloß nach etwas, das mich aus dem Bibliothekarinnentrott reißen konnte.“ Gelegentlich sah sich das Paar rassistischen Anfeindungen ausgesetzt, etwa wenn ein Nachbar „Iraner raus!“ schrie. Tylers Roman Tag der Ankunft (2006) schildert die kulturellen Knackpunkte – und Unverträglichkeiten – zwischen einer US-amerikanisch-iranischen Familie und einem All American-Elternpaar, das koreanische Kinder adoptiert.

Tyler übersetzte Modarressis Bücher, gemeinsam polierten sie dann den Text. „Das war eine wunderbare Erfahrung, die mir jetzt sehr fehlt. Mein Mann war mein bester Freund – ein Klischee, aber es ist wahr.“ 1997, mit 65 Jahren, starb Modarressi an Lymphdrüsenkrebs. Anfangs, sagt Tyler, sei die Trauer unerträglich gewesen: „Ich fragte mich, wie halten die Menschen das aus? Wie soll mein Leben weitergehen? Aber dann sah ich um mich herum kleine alte Damen, die ihre Schoßhündchen ausführten, und dachte: Die haben das auch durchgemacht. Es wird schon gehen. Ich vermisse ihn immer noch furchtbar, aber ja, das Leben ist weitergegangen.“

„Und das war das Ende“, heißt es im Faden beim Tod einer der Figuren. Tyler sagt: „Ich glaube, so ist es mit dem Sterben. Ein Teil von mir malt sich gern einen Himmel aus, in dem ich meinen Mann und meine Eltern wiedersehen kann und meinen verstorbenen Bruder. Aber ich glaube nicht wirklich daran. Ich glaube, du siehst das Auto auf dich zurasen – und dann nichts mehr. Das ist das Ende.“

Bisher war Dinner im Heimweh-Restaurant ihr Favorit unter den eigenen Romanen, doch nun hat Der leuchtend blaue Faden diesen Rang eingenommen. Während das Dinner eine zutiefst unglückliche Familie zeigt, ist es im Faden eine sehr glückliche – und beide Romane sind Musterbeispiele für Tylers Schreiben. „Jedes Mal, wenn ich ein Buch anfange, denke ich, dieses wird nun ganz anders. Und dann klappt das schon wieder nicht. Ich habe meine Grenzen. Mich fasziniert eben, wie Familien funktionieren. Endlos mühen wir uns ab. Wie oft verletzt man einander, entfernt sich voneinander, schadet einander – und versucht es dann doch wieder von Neuem. Das ist so ermutigend wie anrührend.“

Die andere große Konstante in ihrem Werk ist die Stadt Baltimore, einst eine der wichtigsten Industriemetropolen in den USA, heute vom Strukturwandel gebeutelt. Die Fernsehserie The Wire, die in Baltimore spielt, liebt Tyler sehr. Sie hat alle fünf Staffeln gesehen, und zwar schon zweimal, der dritte Durchlauf sei schon geplant. „Die Lokalpolitiker hier schimpfen gern über The Wire. Aber ich sage: Die Stadt ist darin sehr treffend porträtiert.“ 1967 zog sie mit ihrem Mann dorthin, als dieser eine Stelle an der Universität Maryland antrat. „Ich lebte plötzlich unter alten Damen in einer muffigen Reiche-Leute-Gegend. Das war eine Zeitmaschine, fand ich, und ich begann darüber zu schreiben.“

Für besondere Beobachtungen und beiläufig aufgeschnappte Sätze hat Tyler eine kleine Schachtel. „Neulich erzählte meine Steuerberaterin, ihre Großmutter habe gesagt, wenn man etwas nicht wiederfindet, soll man in der Küche eine Zwiebel mitten auf die Arbeitsplatte legen – dann taucht das gesuchte Objekt wieder auf. So etwas muss man doch aufschreiben! Da überlege ich gleich, wie ich das verwenden kann.“

Gut befreundet ist sie mit einem anderen prominenten Baltimorer, dem Independentregisseur John Waters (Hairspray, Pink Flamingos). „Ich gehe aber nicht mit ihm in Motorradkneipen. Einmal im Jahr kommt er zu mir zum Abendessen, einmal im Jahr esse ich bei ihm. Er ist ein bezaubernder Mann.“ Lachend berichtet sie von einem Mittagessen mit Waters, einem Helden der schwulen Undergroundkultur, und einer ihrer Töchter. Diese war im Teenageralter und wollte sich tätowieren lassen. Waters habe dem Mädchen ins Gewissen geredet: „,Stell dir vor, wie das auf deiner schrumpeligen Haut aussieht, wenn du 65 bist‘, sagte er zu meiner Tochter.“

Aktuell arbeitet sie an einer Bearbeitung von Der Widerspenstigen Zähmung, als Teil einer Gruppe prominenter Autoren, die Shakespeares Dramen zu modernen Romane umschreiben. „Ich hasse es“, sagt Tyler über das Original, „es ist frauenfeindlich. Ich weiß, das soll lustig sein, ist es aber nicht. Es handelt bloß von Leuten, die schäbig miteinander umgehen.“

Und wie gestaltet sie selbst heute den Umgang mit anderen? Hat sie nach Modarressi eine weitere Beziehung gehabt? Sie seufzt. „Vor Jahren sagte mir John Waters, er fände die Idee schön, jemanden zu haben. Aber dann würde er sich vorstellen, wie der andere sagt: ,Wollen wir nicht dieses Bild von mir da an die Wand hängen?‘ Und schon wäre wieder Schluss.“ Sie lacht. „So ähnlich denke ich auch. Ich möchte nicht mehr Platz für jemand anderes machen. Mir geht es gut so. Ich habe Freunde, Töchter, Schwiegersöhne, Enkelkinder. Das ist für mich ein erfülltes Leben.“

Tim Teeman schreibt für das Webmagazin Daily Beast und für den Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Tim Teeman | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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