Alptraum in zwei Teilen

Bikini Der Bikini und seine unheimliche Geschichte: Im Namen quasi atomar belastet, stand er zunächst für sexuelle Befreiung. Heute ist er Instrument weiblicher Selbstkontrolle

Auch in diesem Sommer werden Frauen jeden Alters wieder einmal in Boulevardzeitungen und Hochglanzmagazinen dazu angehalten, sich die perfekte „Bikini-Figur“ zuzulegen. Viele versuchen dann auch, dem märchenhaften Lebensstil der Prominenten Bikini-Figur-Inhaberinnen der Woche nachzueifern, indem sie sich mit speziellen Anti-Zellulitis-Cremes einschmieren oder bizarre Hungerdiäten exerzieren.

Dabei leben wir nicht in Bankok oder auf den Bermudas, sondern in Mitteleuropa. Die überwiegende Mehrheit der Frauen hat überhaupt nicht die Gelegenheit dazu, sich einfach mal eben schnell die Kleider vom Leib zu reißen, in einen Bikini zu schlüpfen und zum Strand runter zu gehen. Einen Urlaub im Ausland können sich gegenwärtig die wenigsten leisten. Insgesamt kann eine Frau, wenn überhaupt, nur äußert wenig Zeit im Bikini zubringen. Wozu also der Aufwand?

Quelle von Schuldgefühlen

Der Bikini selbst blickt auf eine eher unheimliche semiotische Geschichte zurück. Er wurde 1946 von dem französischen Damenunterwäsche-Händler Louis Réard im Rahmen eines Wettbewerbs um den Entwurf des kleinsten Badeanzugs erfunden. In jenem Sommer war eine Ansammlung kleiner Koralleninseln im Pazifischen Ozean in den Schlagzeilen, weil dort unter dem Codenamen Operation Crossroads eine Reihe von Atomtests durchgeführt wurde, für die die Bevölkerung evakuiert werden musste. Réard benannte seinen Entwurf nach dem verwüsteten Schauplatz der Versuche, weil man zu jener Zeit mit einem Wort wie „atomar“ noch Gefahr und Skandal assoziierte. Diejenigen, denen an der Mythologisierung des Kleidungsstücks gelegen ist, betrachten die namensgebenden Inseln heute oft lediglich als Synonym eines tropisches Paradieses, dabei ist die Bikini-Ideologie in mehr als nur einer Hinsicht mit dem kulturellen Abfall der Mitte des 20. Jahrhunderts belastet.


Als er in den Sechzigern schließlich populär wurde, war der Bikini ein Symbol für körperliche Befreiung und die Reaktion schöner Frauen auf die sexuelle Prüderie der vorausgegangenen Jahrzehnte – jetzt konnten sie soviel Haut zeigen, wie sie wollten. Heute assoziiert man das Tragen eines Bikinis, wie so viele andere Dinge, die in den Sechzigern in einer Rhetorik der Emanzipation daherkamen, nicht mehr länger mit Lust und Gewagtheit, sondern häufiger mit Angst, Diät, Ritual und freudloser körperlicher Performance.

Prominente Frauen, deren „Bikini-Figuren“ für akzeptabel befunden werden, erhalten öffentliches Lob für die chirurgischen Eingriffe, die strapaziösen Diäten und Fitnessprogramme, die sie auf diese Ebene der Transzendenz emporgehoben haben. Wer wie das britische Model Tyra Banks oder Tony Blairs Frau Cherie scheitert, muss mit der öffentlichen Verachtung klarkommen. Eine Bikini-Figur fällt einem nicht von Natur aus zu, sie stellt einen quasi-religiösen mythischen Zustand dar, den zu erreichen man die Natur überlisten muss, was nur die Allermutigsten schaffen.


Moralischer Standard der Perfektion

Die Rituale der Bikini-Figur verbinden die obsessive Selbstverleugnung, die zur Parole des weiblichen Sozialkapitals geworden ist, mit einer auf tragische Weise ehrgeizigen Fluchtfantasie. Für diese Fantasie, die uns vormacht, wir müssten jederzeit bereit sein, an einen exotischen Strand gebracht zu werden, wo Fotografen lauthals danach verlangen, uns in unseren knappsten Badeklamotten zu fotografieren, verschwenden Frauen jede Menge Zeit und Geld und verzichten auf unzählige Mahlzeiten.

Die Bikinifigur ist zum kulturellen Kürzel für einen moralischen Standard weiblicher Perfektion geworden, nach dem körperliche Abweichungen als Quelle von Schuldgefühlen und Hemmschuh kollektiver Fantasien von Glanz und Glück angesehen werden sollten. Der Bikini war einst ein Symbol sexueller Emanzipation, doch für die Frauen des 21. Jahrhunderts sind seine ursprünglichen Konnotationen von Selbstermächtigung und Selbstbestimmung zu einem weiteren Set von Regeln der Selbstkontrolle verkommen.

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Laurie Penny | The Guardian

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