Als hätte ich Flügel

Ingrid Betancourt "Es war eine Lehrzeit in Sachen Existenz und Identität" Ein Treffen mit der berühmtesten Ex-Geisel der Welt

Ingrid Betancourt stürmt in das winzige Café, in dem wir uns verabredet haben. Weg von dem Gedränge der Pariser, die ihre Weihnachtseinkäufe in den kleinen Straßen des Quartier Latin erledigen, sagt sie: "Ich liebe die Menge, ich liebe es, wenn die Menschen sich mit den kleinen Dingen des Lebens beschäftigen. Ich liebe es, dass Menschen mich nach sechs Jahren Folter grüßen und mit mir fotografiert werden wollen."

Betancourt ist die französisch-kolumbianische Politikerin, die 2002 entführt und dann sechs Jahre lang von den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, besser bekannt als Farc, im Dschungel gefangen gehalten wurde, bis sie bei einer dramatischen Rettungsoperation im Juli befreit wurde. "In der Gefangenschaft", sagt sie, "verliert man seine Art, mit den kleinen Details umzugehen, die die Grundbedürfnisse des Lebens befriedigen. Um alles muss man bitten: um die Erlaubnis zur Toilette zu gehen, die Erlaubnis, einer Wache eine Frage zu stellen, die Erlaubnis, mit einer anderen Geisel zu sprechen. Sich die Zähne putzen, Toilettenpapier benutzen, alles wird Verhandlungssache. Wenn sie irgendeinen Widerstand bemerken, bekommst du nicht, was du willst. Und ich denke, ich war ein Symbol für alles, was sie gehasst haben - als Frau nicht nur aus der Oligarchie, sondern auch noch als Franko-Kolumbianerin, mit Zugang zu einer Welt, die für sie verschlossen war."

Am 23. Februar 2002 führte der Wahlkampf Betancourt in das umkämpfte Gebiet von San Vicente del Caguán in Südkolumbien. An einem Kontrollpunkt der Farc wurde sie angehalten und gefangen genommen - zusammen mit 15 anderen Personen. Während der Gefangenschaft war für Betancourt jeden Morgen unklar, ob sie einen weiteren Morgen erleben würde. Zusammen mit den anderen Geiseln kampierte sie in Lagern aus Holz und Palmblättern, dann folgten Wanderungen durch den feuchten Dschungel bei 40 Grad, einer hinter dem anderen, aus dem Ungewissen ins Ungewisse. Fünf Mal versuchte Betancourt, aus den nächtlichen Lagern zu fliehen: "Diese Freude, die Wachen los zu sein. Unter den Sternen zu schlafen, statt in einer Hütte, oder unter den Bäumen!" Doch jedes Mal, wenn die Guerilla sie wieder gefangen nahm, "wurde die Folter noch schlimmer".

Betancourt nippt an ihrer Cola. Sie brauche noch Zeit, sagt sie, um zu erzählen, was genau passiert sei. Auf die Frage, wie sie gefoltert wurde, kann sie nur sagen: "Körperlich und psychisch." Nach ihrem ersten Fluchtversuch, erzählt sie dann, sei sie gefesselt worden, erst nur in der Nacht, später 24 Stunden lang. "Einmal musste ich drei Tage und Nächte an einem Baum stehen, mit dem Hals an den Stamm gebunden." Zur Strafe musste sie auch die Holster und Patronengürtel der Guerilleros reparieren. Das Nähzeug benutzte Betancourt, um sich einen Rosenkranz zu knüpfen -"den ich überall mit hinnehme, bis heute."

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben sich mit den Überlebensstrategien von Entführungsopfern befasst. Ein gemeinsames Muster besteht darin, dass der Kampf ums Überleben sich sowohl innerlich als auch äußerlich abspielt. Immer wieder entwickeln Geiseln das so genannte Stockholm-Syndrom, bei dem sich das Opfer seinem Entführer unterwirft. Ingrid Betancourts Verhalten war das Gegenteil.

"Vorher hatte ich meine Persönlichkeit, mein Leben, das Geschenk, eine freie Frau zu sein, und meine Familie", sagt Betancourt. "In dieser Situation aber entstand der Gedanke, dass ich alles noch einmal lernen musste, eine Lehrzeit in Sachen Existenz und Identität ableisten musste. Ich musste anerkennen, dass ich einige Dinge an mir nicht mochte, nämlich diese Person sein zu müssen - gefangen, angekettet, gefoltert. Damit begann die Lehrzeit: Wer bin ich hier? Ich musste in mich hineinsehen, und ich sah, dass ich meinen Gott hatte und meine Würde."

In Berichten von Geiseln, die gemeinsam mit Betancourt gefangen waren, wird sie als ein Gravitationszentrum bezeichnet, als das Leitbild, das ihnen half, Würde zu bewahren. Ein kolumbianischer Polizist namens John Frank Pinchao sagte nach seiner Befreiung: "Ingrid weint nie, sie ist zu stark dafür."

"Vielleicht war ich ein Gravitationszentrum", sagt sie, "aber so einfach ist das nicht. Die anderen waren das auch für mich. Ich habe Hunderte von Malen zu ihnen aufgeschaut und viel von ihnen gelernt - darüber, durch welche Gesten sich die Kommunikationskanäle zu den Wachen öffnen oder schließen würden. Welche Aktionen besser dazu geeignet wären, ein Stück Toilettenpapier oder eine Zahnbürste zu bekommen. Und darüber, wann man schweigen oder stillhalten sollte. Insofern war jeder für den anderen ein Gravitationszentrum."

Betancourt hatte Kontakt zur Außenwelt. Sie hatte ein Radio und hörte die Befreiungs-Aufrufe ihrer Mutter: "Ihre Worte, ihre Stimme, ihre Weisheit, das alles erinnerte mich daran, wer ich war. Meine Mutter zu hören, machte mir deutlich, wie allein ich als Frau in einer Welt war, die vollständig aus Männern bestand."

Dei Befreiung Betancourts hielt sich nicht an die Strategien, die sich in der Debatte über den Umgang politisch motivierten Entführern fast unversöhnlich gegenüberstehen: Äußerste Kompromisslosigkeit auf der einen Seite, Dialogversuche auf der anderen. Die Operation Jaque, sagt Betancourt, "war weder eine Verhandlung noch ein militärischer Einsatz, und das ist wichtig. Es war eine Operation mithilfe des Geheimdienstes. Die Leute, die kamen, um mich wegzuschnappen, machten das wie Trickbetrüger: Sie waren vollständig unbewaffnet."

Der Druck lastete damals extrem auf Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe, nicht nur wegen Betancourts Familie und Anhänger, sondern auch von Seiten der USA. Nach dem Tod von Manuel Marulanda hatte Alfonso Cano im März die Führung der Farc übernommen. Im gleichen Monat wurde Farc-Sprecher Raúl Reyes von kolumbianischen Truppen getötet. Viele fürchteten, jede Hoffnung für Betancourt sei damit verloren: Reyes hatte als potentieller Vermittler gegolten. Im Endeffekt aber führte sein Tod zu Betancourts Befreiung. "In seinem Lager wurden die Schlüssel zur Kommunikation der Farc entdeckt", erzählt sie. "So gelang es, das System zu infiltrieren."

Ein kolumbianischer Geheimdienstler kontaktierte "Cesar" , den Verantwortlichen für die Einheit, die Betancourt gefangen hielt, und gab sich als Alfonso Cano aus. "Cesar dachte, er würde mit seinem neuen Kommandeur reden", sagt Betancourt. "Er wollte guten Eindruck machen und willigte ein, die Geiseln umzusiedeln", um den Farc-Chef zu treffen. Wie befohlen wies Cesar einen Hubschrauber zur Landung ein, an Bord in Che- Guevara-T-Shirts ein "Humanitäres Team". Die Mitglieder halfen Cesar und allen 15 Geiseln einzusteigen. Dann schnappten die Handschellen, während den Geiseln gesagt wurde: "Wir sind die nationale Armee. Sie sind frei." Ein glückliches Ende - und zugleich der Beginn von Ingrid Betancourts neuem Leben.

Durch das Radio wusste Betancourt: Ihre Tochter Melanie hatte eine Kampagne für sie gestartet und ihr Sohn Lorenzo "ebenfalls das Wort ergriffen, als er 18 wurde". "Als ich sie wiedersah, geschah es mit dem Gefühl, dass wir dieselben Menschen waren, aber so sehr verändert. Alles, was ich tun wollte, war, die Lücken in unseren Leben zu füllen."

Das ist seit Juli Betancourts Leben - abgesehen vom Ritterschlag der französischen Ehrenlegion, einem Treffen mit dem Papst, einer Pilgerreise nach Lourdes und "ganz langsamen Vorbereitungen für ein Buch". Ansonsten lebe sie "in einer Art von Einsiedelei, mit meiner Familie": "Ich fülle die Lücken, indem ich wieder eine Mutter bin. Und das ist nicht einfach. Melanie ist in New York, bei ihr läuft alles fantastisch, aber mein Sohn ist 20 Jahre alt, in einigen Fächern durchgefallen und sagt: ›Maman, das ist nur passiert, weil ich ein Jahr damit verbracht haben, für dich zu kämpfen‹."

In ihrem ersten Interview nach ihrer Gefangenschaft hatte Betancourt Paris Match gesagt: "Die Rückkehr in die Zivilisation passiert sofort." Sie bestätigt das noch einmal: "Ja, ich brauchte keine Minute. Jedes Lächeln gab mir Hoffnung." Wie kommt es, dass Verlassenheit und Schock einen Menschen dazu bringen, um so beharrlicher an die Menschlichkeit zu glauben, anstatt den Glauben aufzugeben? "Vielleicht gibt es einen Grund", ist die Antwort. "Ich befand mich in einer Situation, in der ich mich entscheiden musste, den zynischen Weg einzuschlagen oder eine Art von spiritueller Disziplin und Glauben zu entwickeln. Das bedeutet eine innere Auseinandersetzung um das, was dem Leben einen Sinn gibt. Das war hart, aber als ich mich einmal entschieden hatte, war es, als hätte ich Flügel."

Betancourt setzt fort: "Nehmen Sie die anderen Geiseln. Wenn du so viele Jahre lang mit Leuten lebst, denen du sonst nie in deinem Leben begegnen würdest, und auf diese Weise, wird dir klar, dass die Menschheit eine gemeinsame Seele besitzt. Und ich dachte auch: Wenn ich jemals hier herauskomme, wie werden die Wachen sich an mich erinnern? Welche Menschen sind sie in ihren eigenen Augen, wenn sie mitbekommen, dass ich nicht zynisch geworden bin."

Auf die Andeutung, es handele sich hier um den Erlösungsgedanken des Christentums, winkt Betancourt ab. "Sie und ich können es so nennen, aber es ist kein spezifischer Glaube. Es ist ein tiefer Glaube an Gott und an die Menschlichkeit. Und ich habe diesen Glauben nie mehr aufgegeben - weder im Dschungel, noch danach."

Gekürzte Fassung eines Textes aus dem Guardian. Übersetzung Julian Doepp

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Geschrieben von

Ed Vulliamy | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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