Alzheimer? Mal googeln

Diagnostik In Zukunft könnten Demenzerkrankungen mit Hilfe von Algorithmen früher und zuverlässiger erkannt werden
Das Hirn in ASCII: Wenn Sie diesen Code nicht entschlüsseln können, hat das nichts mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu tun
Das Hirn in ASCII: Wenn Sie diesen Code nicht entschlüsseln können, hat das nichts mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu tun

Illustration: der Freitag

Heute hängt eine Alzheimer-Diagnose von einer ausführlichen Befragung des Patienten ab. In Zukunft jedoch könnten Algorithmen an ihre Stelle treten, wie sie in Suchmaschinen verwendet werden.

Wie man sich das vorstellen muss? Eine Ärztin sieht sich auf einem Bildschirm einen Gehirnscan an. Da ihr Patient über zunehmende Vergesslichkeit klagt, speist sie den Scan in ihre Diagnose-Software ein und erhält umgehend das Ergebnis: Alzheimer im Frühstadium. Der Schläfenlappen weist einen schleichenden Gewichtsverlust auf. Der Computer zeigt an, wie groß dieser Schwund im Laufe der vergangenen fünf Jahre war und schlägt eine Medikamentierung mit Anti-Amyloidose-Präparaten vor. Die Patientin ist 110 Jahre alt, wir befinden uns vielleicht im Jahr 2050.

Noch ist dies Science Fiction, aber die Möglichkeit, mit einer speziellen Diagnose-Software einen Gehirnscan zu „googeln“, könnte schon in naher Zukunft realisiert werden. Solche automatisierten Diagnoseverfahren stützen sich auf Software, die derzeit für maschinelles Lernen entwickelt wird, und auf mathematische Algorithmen, deren Anwendung für den Augenblick allerdings zum Großteil noch auf kleine experimentelle Anordnungen beschränkt ist. Es besteht jedoch großes Potenzial, diese Ansätze auch in einem größeren klinischen Rahmen anwenden zu können. Für Alzheimer werden diese Instrumente dringend benötigt, da sich die Zahl der Erkrankungen in den kommenden 40 Jahren voraussichtlich verdreifachen wird.

In den vergangenen Jahren wurde erkannt, wie wichtig es ist, eine Schädigung möglichst früh zu diagnostizieren. Zu diesem Zweck wurde die Kategorie der leichten kognitiven Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment, kurz MCI) eingeführt. MCI ist ein Stadium zwischen dem Zustand gesunden Alterns und Alzheimer. Patienten mit MCI weisen ein erhöhtes Alzheimer-Risiko auf, müssen jedoch nicht unweigerlich daran erkranken.

Viele Anwendungsgebiete

Die Diagnoseverfahren sind heute noch äußerst schwerfällig. Gegenwärtig sind wir auf lange Fragebögen und Tests angewiesen, die verschiedene Facetten des Erinnerungs- und Sprachvermögens sowie der Konzentrationsfähigkeit untersuchen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese traditionellen Methoden mit einer Genauigkeit von 70 bis 80 Prozent nicht besonders exakt sind. Wenn der gesamte Prozess beschleunigt und präzisiert werden könnte, würde dies die Voraussetzungen für die Diagnose und Behandlung von MCI und Alzheimer entscheidend verbessern.

Eben dies war das Ziel eines Papers, das Mitarbeiter des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main unlängst gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Dublin und Frankreich im Journal Public Library of Science One (PLoS One) veröffentlichten. Die PloS ist ein nicht-kommerzielles Open-Access-Projekt, das zu einer öffentlichen Bibliothek für wissenschaftliche Publikationen im Netz wachsen soll. Die Arbeit der Wissenschaftler konzentriert sich auf den Einsatz von Support Vector Machines (SVM), einen Algorithmus mittels dessen Computer wesentliche Eigenschaften verschiedener Gehirntypen „lernen“ können. Support Vector Machines sind auf vielen Anwendungsgebieten äußerst erfolgreich. Sie werden zum Beispiel zur Analyse von Kreditkarten-Daten eingesetzt, um Betrug zu erkennen. Im medizinischen Bereich ist die Genetik wegweisend, hier haben bahnbrechende Studien gezeigt, wie Support Vector Machines spezifische Genprofile verschiedener Tumore oder Krebsarten lernen können.

Das PLoS-One-Paper zeigt, wie SVMs lernen können, zwischen gesunden älteren Gehirnen und Gehirnen mit MCI zu unterscheiden. Hat der Algorithmus diese Kategorien durch Übungen mit einer großen Anzahl bekannter Beispiele gelernt, so ist er in der Lage, einen neuen, ihm unbekannten Scan einzuordnen. Dazu kommt, dass die Klassifizierung eines neuen Scans extrem schnell und mit einer Genauigkeit von 90 bis 95 Prozent erfolgt, wenn das System erst einmal trainiert wurde.

Im Vergleich zu den traditionellen Tests und Fragebögen, wäre das ein entscheidender Fortschritt. Eine schnellere und genauere MCI-Diagnose mithilfe von SVMs könnte einen wichtigen Zeitgewinn für einen klinischen Eingriff verschaffen, mit dessen Hilfe der MCI-Zustand stabilisiert und das Risiko eines tatsächlichen Ausbruchs der Krankheit minimiert werden könnte.

Weniger Komplex als Google

Diese Fortschritte sind zwar ermutigend, doch die Geschwindigkeit, mit der die Entwicklung vorangeht, ist immer noch äußerst gering, gerade auch wenn man sie mit verwandten Gebieten wie der Internet-Recherche vergleicht. Suchwerkzeuge fürs Internet zeichnen sich durch ihre große Benutzerfreundlichkeit aus und werden permanent und überall benutzt, während automatisierte Diagnosen bislang auf Versuchsanordnungen beschränkt bleiben. Das liegt zum Teil daran, dass Tools für maschinelles Lernen im Allgemeinen nicht in Form von Software angeboten werden, die Nicht-Experten auf diesem speziellen Gebiet der IT eine einfache Anwendung ermöglicht.

Dabei sind die Support Vector Machines, die bei der automatisierten Diagnose zum Einsatz kommen, wohl weniger komplex als die Algorithmen, die heute schon jeden Tag Millionen von Menschen verwenden, wenn sie Suchmaschinen wie Google benutzen. In der Zukunft werden Gehirnscans mit großer Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Form mit einer speziellen Diagnose-Software „gegoogelt“ werden, um eine Diagnose in Echtzeit zu erstellen. Natürlich wird medizinische Fachkompetenz noch unerlässlich sein. Benutzerfreundlichere Diagnose-Software, die es einem Klinikarzt ermöglicht, diese maschinellen Lernalgorithmen bequem einzusetzen, ist jedoch dringend vonnöten.

Unter praktischen Gesichtspunkten birgt die Möglichkeit, MCI und Alzheimer bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu erkennen, nicht nur für Demenz-Gefährdete enorme Vorteile, sondern auch für die Weltwirtschaft. Schätzungen zufolge könnte die Zahl der weltweiten Demenz-Fälle um fünfzig Prozent zurückgedrängt werden, wenn man in der Lage wäre, den Ausbruch der Krankheit auch nur um fünf Jahre hinauszuzögern. Doch ein solcher Aufschub des Ausbruchs ist vielleicht nur mit einer Therapie möglich, die zu einem früheren Zeitpunkt ansetzt, als heute möglich, und bei der Medikamente zum Einsatz kommen, die erst noch entwickelt werden müssen.

Im Augenblick fehlen uns also sowohl wirksame Medikamente zur Behandlung von Alzheimer als auch wirksame Instrumente für eine schnelle Früherkennung. Die Publikation dieser neuen Diagnose-Technik in PLoS One und die Initiative, derartige Techniken in einer Reihe verschiedener Forschungszentren in Europa zur Anwendung zu bringen, deutet aber darauf hin, dass auf dem Gebiet Fortschritte gemacht werden.

Laurence O’Dwyer ist Fellow am Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und Co-Autor des hier erwähnten Papers

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Laurence O’Dwyer | The Guardian

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