Zu guter Letzt verstummen die Kandidaten, die Demoskopen legen ihre Klemmbretter nieder und in den USA kehrt die Ruhe des Wahltags ein. Millionen von Amerikanern werden endlich einen lange und erbittert geführten Wahlkampf zum Abschluss bringen, ihre Stimmen abgeben und einen Präsidenten wählen. Und Milliarden Menschen auf der ganzen Welt werden dieses Ereignis verfolgen.
Im Laufe eines gehetzten letzten Tages besuchten Barack Obama und Mitt Romney noch einmal die ausschlaggebenden Staaten. Seinen letzten Wahlkampf, ob er gewinnt oder nicht, beendete Amtsinhaber Obama dort, wo seine „unmögliche Reise“ vor beinahe fünf Jahren begann – in Iowa im Mittleren Westen. Nun kann er kaum noch etwas tun.
Das Schicksal der Kandidaten hängt nun von den Maschinerien ab, die sie an der Basis in Gang gebracht haben, von den Aktionen, mit denen sie auf den letzten Drücker noch so viele Menschen wie möglich dazu bewegen wollen, zur Wahl zu gehen. Und natürlich von den Wählern selbst.
Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bristow, Virginia, gestand Obama in der eisigen Abendluft, dass in dieser Schlussphase alles von der Organisation abhinge. Er selbst sei da nur noch „eine Art Requisite“.
Was die größere Siegessicherheit betrifft, spielt sich die Schlacht weniger zwischen den beiden Kandidaten ab, als zwischen zwei politischen Stämmen: Den Priestern und den Mathematikern.
Die Mathematiker mit ihrer eher wissenschaftlicher Neigung, die Zahlenwälzer und Überanalysten, die den Blogger Nate Silver als säkulare Gottheit betrachten, gehen davon aus, dass die Demokraten den Sieg so gut wie in der Tasche haben.
Die landesweiten Umfrageergebnisse mögen zwar statistisch gesehen ein Unentschieden ergeben. Doch in den entscheidenden Staaten – allen voran Ohio, wohin Romney noch am heutigen Dienstag einen jeder Tradition zuwider laufenden Abstecher machen wird – hält Obama eine knappe, aber durchgängige Führungsposition, die sich am vergangenen Wochenende weiter festigte.
Die Erfahrung besagt, dass die Umfrageergebnisse vom Vorabend der Wahl sich im Wahlausgang bestätigen. Die Mathematiker sagen deshalb, es sei inzwischen so gut wie unmöglich, dass Romney es auf die nötigen 270 Wahlmänner bringen wird.
Um zu gewinnen, sagen sie, müsste er in Staaten wie Virginia oder Colorado über einen komfortablen Vorsprung verfügen, den er aber nicht hat. Als Beispiel führen sie die Wahl von 2004 an, als George W. Bush ebenfalls in den landesweiten Umfragen mit seinem damaligen Gegner John Kerry gleichauf lag, um diesen dann zu schlagen.
Zuversichtlich gehen sie davon aus, dass Obama es wieder schaffen wird. Der Buchmacher Paddy Power hat bereits 400.000 Dollar an diejenigen ausgezahlt, die Wetten auf den Amtsinhaber abgeschlossen hatten. Silver beziffert Obamas Siegeschancen auf 86,3 Prozent.
Die Priester hingegen – eine Bruderschaft, der viele Republikaner angehören – beharren darauf, dass sichere Voraussagen gar nicht möglich seien. Maßgeblich bei einer Wahl seien nunmal die Menschen und da seien einfach zu viele Variablen im Spiel. Sie verweisen auf Umfragen, denen zufolge die Stimmung der unabhängigen Wähler in Ohio zugunsten Romneys umschlage, was in der Regel auf einen Erfolg hindeute. Außerdem, führen sie an, würden diesmal weniger junge Menschen und Afroamerikaner von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen als 2008, was Obama schaden werde. Und sie zeigen auf bestimmte Wahlkreise, in denen die vorzeitig abgegebenen Stimmen darauf hindeuten, dass die Demokraten weniger und die Republikaner erheblich mehr Stimmen erhielten, als die Umfragen prognostiziert hatten.
Das sei kaum eine Überraschung, halten viele Demokraten dagegen. Immerhin hätten republikanische Staatsbeamte versucht, demokratische Wähler daran zu hindern, ihre Stimmen abzugeben, indem sie in demokratischen Gegenden Wahllokale früh schließen ließen und die vorzeitige Stimmabgabe erschwerten. Bezeichnenderweise hält Obamas Wahlkampfteam allein in Ohio 2.500 Anwälte für den Fall auf Abruf, dass es am Ende knapp und unschön werden sollte.
Besonders überraschend war, dass die Republikaner den Bundesstaat Pensylvania einnehmen konnten, was der Partei seit 1988 nicht mehr gelungen ist. Einer Umfrage zufolge hat sich der Vorsprung verflüchtigt, den Obama dort innehatte. Beide Kandidaten liegen nun bei 47 Prozent. Sollte Pennsylvania wirklich wanken, könnte das für Obama eine Katastrophe bedeuten.
Öffentlich sagt das Obama-Lager, die Umfrage sei fehlerhaft und politisch motiviert. Dennoch nahmen sie die so ernst, dass sie ihre schwerste Waffe in Anschlag brachten und einen heiseren Bill Clinton am Montag zu vier Wahlkampfauftritten in Pennsylvania schickten.
Vor allem aber bezieht sich die Priesterschaft auf jene nicht messbaren Faktoren, die den Datenanalysten angeblich entgingen. So sprächen die großen, begeisterten Menschenmengen bei Romneys Auftritten nicht gerade dafür, dass die Zeichen für den Republikaner auf Niederlage stünden. Am Freitag zog eine Romney-Veranstaltung in Ohio zwischen zwanzig- und dreißigtausend Zuschauer an, während Obama in einer anderen Stadt im selben Bundesstaat mit 2.000 Besuchern gerade mal eine Sporthalle zu füllen vermochte.
Doch auch die Demokraten können auf solche Unwägbarkeiten verweisen: Samstagnacht trotzten 25.000 tapfer den eisigen Temperaturen, um jener spätnächtlichen Wahlkampfveranstaltung in Virginia beizuwohnen. Sie jubelten vor Begeisterung, als Clinton und Obama einander High-Five gaben und umarmten – und nichts erinnerte daran, dass die beiden einander vor vier Jahren noch scharf kritisiert hatten. Die Augen der Unterstützer waren nicht so hoffnungs- und erwartungsvoll wie die der 80.000, vor denen Obama 2008 in diesem Bundesstaat am Vorabend der Wahl gesprochen hatte. „Aber jetzt herrscht eine wirkliche Entschlossenheit, ihn seine Arbeit zu Ende bringen zu lassen“, sagte der sechzigjährige Richard Russey. Sharon Jenkins (54), die neben ihm saß, sagte, sie gehöre einer „wahren Armee“ von Pro-Obama-Aktivisten an, die sogar größer sei als 2008.
Es ist verblüffend, dass sich in keinem der beiden Lager das erkennen lässt, was der New York Times-Kolumnist Ross Douthat die „Aura der Niederlage“ nennt und so definiert, dass triviale Themen aufgebauscht werden, um Stammwähler zu mobilisieren und selbst kleine Ausrutscher der Gegenseite aufgegriffen werden. Vor zwei Wochen noch wollte Douthat diese Aura bei Obama ausgemacht haben.
In den letzten Tagen jedoch war davon wenig zu spüren. In Bristow konzentrierte sich Obama zum Schluss fest auf das große Ganze und griff sogar zu Rhetorik im Stile Martin Luther Kings: „Auf euch kommt es an“, sagte er der Menge. „Ihr habt die Macht. Deshalb brauche ich euch, Virginia. Werdet nicht müde, haltet durch.“
Und auch Romney strahlt Zuversicht aus. Am Montag sprach er vor in einer Halle in Fairfax in Virginia vor einer Fähnchen-schwenkenden Menge, die ihm jedes Mal zujubelte, wenn er die Worte „wenn ich Präsident bin“ aussprach und sie zu jener „letzten Anstrengung“ aufforderte, die das „neue Morgen“ bringen werde.
Aber immer mal wieder verfiel er auch in jenen Modus des Verlierers und attackierte Obama für dessen Bemerkung, die Wähler sollten sich an den Wahlurnen „rächen“ – eine Bemerkung, die Fox News und die Republikaner als verschlüsselten Aufruf zum Klassenkampf interpretierten und Romney dazu veranlasste, darauf zu verweisen, dass die Wähler nicht Rache antreibe, sondern die „Liebe zum Land“.
Von größerer Bedeutung sind allerdings die ersten Anzeichen dafür, dass die Republikaner sich gegeneinander wenden. Unter jenen, die Romney jetzt schon kritisieren, herrscht die Meinung vor, es sei dem Kandidaten nicht gelungen, über das weiße Amerika hinaus Leute anzusprechen. Ihre Partei habe sich außerdem zu sehr auf den tiefen Süden und die Großen Ebenen konzentriert.
Die Mathematiker würden sagen, dass die Republikaner diese Debatte jetzt zurecht führen. Die Priester sagen, dass sie warten sollten, denn die Wahlen könnten sie noch überraschen.
Wer wird diese Schlacht Daten gegen Instinkt, Kopf gegen Bauch gewinnen? Der heutige Tag wird es entscheiden – und noch vieles anderes.
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