Am Ende bleibt Gottvertrauen

Syrien Mit der Schlacht um die Großstadt Aleppo nähert sich der Bürgerkrieg nun womöglich einem unwiderruflichen Finale
Ausgabe 32/2016
Drusenführer Walid Dschumblat (links) bei einem Friedensmeeting in Beirut
Drusenführer Walid Dschumblat (links) bei einem Friedensmeeting in Beirut

Foto: Anwar Amro/AFP/Getty Images

Vier Wochen nachdem Mitte März 2011 der Aufstand in Syrien begonnen hatte, reiste Walid Dschumblat, das Oberhaupt der libanesischen Drusen, nach Damaskus. Er wollte dort Mohammed Nasif treffen, seinerzeit Chef des Nationalen Sicherheitsrates. Der war nicht nur einer der Amtsträger, dem die Assad-Familie das größte Vertrauen entgegenbrachte, sondern auch der wichtigste Mittler für die Kontakte seines Landes zum Iran und zur Hisbollah – ein Mann, dessen Schicksal eng mit dem des Regimes verwoben war. „Damals sagte Nasif zu mir: ‚Entweder wir‘ – gemeint war das Volk der Alawiten, aus dem seit der Unabhängigkeit von 1946 die Elite des Staates kam – ‚oder sie‘, die Sunniten“, erinnert Dschumblat diese Begegnung. „Danach wusste ich, welche Richtung das Ganze nehmen würde, selbst wenn es eine Million Tote kostet.“

Über fünf Jahre später hat der Bürgerkrieg Schätzungen zufolge mehr als ein Viertel dieser Zahl an Toten gefordert, über 250.000 Menschen. Das Sterben hat Ausmaße erreicht, dass die UN-Beobachter im August 2015 aufgehört haben, die Opfer zu zählen. Die konfessionelle Dimension des Konflikts, wie sie Nasif angedeutet hat, ist ebenso bittere Realität wie die Zerstörung urbaner und ökonomischer Infrastruktur, einschließlich der Altstadt Aleppos. Die Metropole im Nordwesten, der eine entscheidende Rolle für den Kriegsverlauf und das Schicksal Syriens zukommt, wurde den gesamten Monat Juli über zu großen Teilen von einer Allianz aus syrischer Regierungsarmee, russischer Luftwaffe und Hisbollah von islamistischen Rebellen zurückerobert.

Letzte Hoffnungen

Mit der Einkreisung der östlichen Viertel scheint der Wendepunkt eines Krieges eingetreten, der so nachhaltige internationale Auswirkungen hatte und so ungewöhnliche Koalitionen hervorbrachte wie kaum ein anderer in der jüngeren Geschichte Arabiens. Eines dieser Bündnisse ergab sich, als Milizionäre der Hisbollah und die Assad-Armee Anfang Juli die – zu diesem Zeitpunkt noch – mit al-Qaida verbundene Dschabhat al-Nusra aus deren Stellungen im Norden Aleppos vertrieben. Während die Schlacht tobte, verhandelten die USA mit Russland über eine gemeinsame Einsatzzentrale für Angriffe auf die Al-Nusra-Front und den Islamischen Staat (IS). Das gefundene Agreement führte dazu, dass in der Opposition letzte Hoffnungsfunken verglühten. Es ist das stille Einvernehmen zwischen Moskau und Washington, das Baschar al-Assad, den Russland und der Iran vor einem Jahr davor bewahrt haben, am Ende seiner Kräfte zu sein, weiter stärkt.

Das Ungemach des Anti-Assad-Lagers wird komplettiert durch die Wiederannäherung zwischen Moskau und Ankara, von dem das Petersburger Treffen der Präsidenten Erdoğan und Putin in dieser Woche Zeugnis ablegte. Zuvor hatte Premier Binali Yıldırım erklärt, in Ankara sei man an einem Frieden mit Damaskus interessiert. Obwohl die Türkei Gegner Assads wieAhrar al-Scham, die Islamische Bewegung der freien Männer in der Levante, weiter unterstützt, konzentriert sich Ankara darauf, syrischen Kurden-Milizen die Kontrolle von Teilen der türkisch-syrischen Grenze wieder zu entreißen. Vorstellungen der US-Regierung, die türkische Armee als Bodentruppe gegen den IS im Osten Syriens einzuplanen, wirken auf Recep Tayyip Erdoğan wenig beflügelnd, solange er die kurdische Autonomiebewegung in Nordsyrien für einen Handlanger der PKK hält.

In der Konsequenz heißt das: Präsident Assad ist außer Gefahr, auch wenn er noch nicht gewonnen hat. Falls die Opposition unter diesen Umständen weiter Einfluss auf die Nachkriegsordnung nehmen will, müsste sie das jetzt tun durch flexibles und konstruktives Verhandeln in Genf. Je klarer die militärischen Erfolge der Regierung, je raumgreifender der Terraingewinn, desto mehr werden die Assad-Gegner an diplomatischem Spielraum verlieren, aller Protektion des Westens zum Trotz. Immerhin wären mit einer vollständigen Rückeroberung Aleppos die Hauptverkehrsrouten von der türkischen bis zur jordanischen Grenze wieder in der Hand des Baath-Regimes (im Küstenstreifen und im angrenzenden Alawitengebirge gilt das ohnehin). Damit bietet sich ein ausreichender strategischer Rückhalt, um in einem nächsten Schritt gegen Raqqa zu drängen, die Hauptstadt des IS in Syrien.

Für den Syrischen Nationalrat, den im Exil beheimateten, zerstrittenen und kaum handlungsfähigen Dachverband der Opposition, ist in dieser Phase des Bürgerkrieges kein Triumph mehr denkbar. Zwar hatten Assads Verbündete, Iran und Hisbollah, die Positionen des Anti-Assad-Lagers schon seit längerem geschwächt, doch hielt sich dort bis zur Schlacht um Aleppo die Überzeugung: Sollte man den Krieg nicht für sich entscheiden können, gelte immerhin das Gleiche für Präsident Assad, der über ein Patt nicht hinauskommen werde. Dieses Lagebild lässt sich kaum mehr aufrechterhalten.

„Ich sitze hier in einem zerstörten Haus im Osten von Aleppo“, sagt Abu Sobhi Dschumail, der seit fünf Jahren auf Seiten der Opposition kämpft. „Ich sehe russische Jets am Himmel, gelegentlich auch syrische Luftwaffe. Östlich von mir liegen ein paar Stellungen des Islamischen Staates, bedrängt von der Hisbollah, dazwischen halten sich Verbände der Dschabhat al-Nusra. Aber die lässt uns im Stich und verbreitet die Parole, wir sollten auf Gott vertrauen. Wenn wir sie um Hilfe bitten, schicken sie uns zum Teufel. Aber ohne deren Kämpfer wären wir schon vor einem Jahr geschlagen worden. Hier geht es nicht mehr um Politik – nur noch um Leben und Tod.“ Wie der Schilderung zu entnehmen ist, bleibt allein eine islamistische Guerilla übrig, die in Aleppo ihr mutmaßlich letztes Gefecht zum Schaden von einer viertelmillion Zivilisten führt. Denen ist es allein wegen des ständigen Beschusses verwehrt, Fluchtkorridore zu erreichen, die von der Regierungsarmee auf russischen Druck hin eingerichtet wurden. Resigniert stellt Abu Sobhi fest, es gäbe im Westen kein wirkliches Interesse mehr, den aushaltenden Rebellen beizustehen. „Alle wollen nur noch, dass es endlich aufhört. Aber ihr werdet für das gerichtet werden, was in Syrien geschieht, auch wenn ich das nicht mehr erleben werde.“

„Wir sind in Aleppo verloren“, sagt auch Suleiman Aboud, der mit seiner Familie aus den von islamistischen Rebellen gehaltenen Vierteln im Osten geflohen ist. „Als Nächstes kommt die Rache der Sieger. Die Revolution gegen Assad war ehrenhaft, vielleicht nicht immer völlig demokratisch, aber die Menschen hatten ein Recht, sich gegen die Unterdrückung aufzulehnen. Und sie haben ein ebensolches Recht auf Sicherheit und Freiheit wie alle anderen arabischen Völker. Im Moment aber leidet die Bevölkerung dieser Stadt gewaltig ...“

Amerikas Dilemma

Vermutungen, wie lange die Schlacht um Aleppo noch dauert, gehen weit auseinander. Vielleicht noch Monate, falls die Regierungsarmee Verluste vermeiden und die Rebellen schlichtweg aushungern will. Möglicherweise ist dann aber die Gunst der Stunde verstrichen, wie sie Präsident Assad jetzt auskosten kann, weil der Westen zu pragmatischen Deals mit Russland neigt, auch wenn Barack Obama resolute Erklärungen gegen dessen Luftoperationen abgibt. Verhindern kann er sie nicht, fürchten muss er sie jedoch wegen der politischen Reaktionen im eigenen Land wie bei den Verbündeten Saudi-Arabien und Israel. Riad müsste bei all seinem Syrien-Engagement der vergangenen Jahre einen peinlichen Prestigeverlust verkraften, sollte es sich an Assad und seinem säkularen Regime verhoben haben. Die Regierung von Benjamin Netanjahu wiederum hält den IS für das kleinere Übel, verglichen mit einem Überleben des Baath-Staates, der beim Streit um die seit 1981 annektierten Golan-Höhen zu keinerlei Konzessionen neigen dürfte. Die Formel in Jerusalem lautet: Übersteht Assad den Bürgerkrieg, stärkt das den Iran und damit den ärgsten Feind der Israelis, das dürfen die USA nicht zulassen.

Martin Chulov ist einer der Nahost-Kolumnisten des Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Martin Chulov | The Guardian

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