An der Grenze

Libanon Ausgerechnet in der kalten Jahreszeit könnte die Zahl der syrischen Flüchtlinge auf über zwei Millionen steigen
Ausgabe 47/2013
An der Grenze

Foto: Spencer Platt / Getty

Wenn Menschen aus dem Nordlibanon die Checkpoints der Armee auf dem Weg nach Wadi Khaled passieren, erhalten sie eine Textnachricht auf ihr Mobiltelefon: „Das Tourismusministerium heißt Sie in Syrien willkommen.“ Dieser Teil des Libanon, der wie ein Knöchel nach Syrien hineinragt, ist so nahe am Krieg, dass man von hier aus beobachten kann, wie Raketen einschlagen und Rauschwolken die Hänge hochkriechen. Kinder drängeln sich im ersten Stock eines halbfertigen Rohbaus und zeigen aufgeregt in die Richtung, in der sie die Außenbezirke der Stadt Homs vermuten. „Ich kann unser Haus genau sehen“, schreit der sechsjährige Satash.

Seine Mutter Maro (28) steht niedergeschlagen hinter ihm. „Die älteren Mädchen verbringen Stunden hier oben und starren nach Syrien hinüber. Ich kann es nicht.“ Satashs Haus steht in Wahrheit schon lange nicht mehr. Zusammen mit seinen Eltern und Großeltern, seiner dreijährigen Schwester und sechs verwaisten Cousins lebt er auf der anderen Seite der Grenze in einer Hütte, in der früher Hühner und Enten geschlachtet wurden. Die Mutter der Cousins starb in Homs, weil sie wegen eines Bombardements ihre Medikamente nicht bekommen konnte. Den Vater tötete ein Granatsplitter.

Nachdem ein verirrtes Geschoss ihren Hof traf, floh die Großfamilie mitten in der Nacht. Sieben Stunden zu Fuß, bis sie den Libanon und schließlich das Dorf Knaisse im Wadi Khaled erreicht hatten, ganze sechs Kilometer von ihrem Zuhause in Syrien entfernt.

In ihrer Hütte versuchen die Bewohner seither, das Innere mit Plastiktüten trocken zu halten, indem sie das undichte Dach abdichten. Die Großmutter liegt schlummernd auf einer kaputten Matratze. Für Medizin zur Behandlung ihrer Gebrechen fehlt das Geld. Im Augenblick leben Maro und ihre Familie von einer kleinen monatlichen Zuweisung der Vereinten Nationen. Wie die meisten fast anderthalb Millionen Syrer, die in den Libanon geflohen sind – ein Land mit gerade einmal 4,2 Millionen Einwohnern –, sorgen sie sich wegen des Schnees, der in wenigen Wochen die Berge von Wadi Khaled bedecken wird. Es wäre der zweite Winter, den sie hier verbringen müssen. „In diesen Monaten wird der Raum zu einem Kühlschrank. Der Wind ist so verdammt kalt“, sagt Ahmad, Maros Mann. Er ist nervlich zermürbt und ruft immer wieder: „Die, die geblieben sind, liegen tot in den Trümmern!“

„Es gibt keine Arbeit für ihn“, sagt Maro entschuldigend. „Die Leute sagen uns, wir sollten Gott danken, dass wir ein Dach über dem Kopf hätten. Sie sehen, wie schlecht wir uns ernähren und wie schlecht wir uns kleiden, und denken, wir seien daran gewöhnt. Sie wissen nicht, welches Haus wir in Homs hatten, sie kennen unseren Garten nicht, unseren Olivenhain. Das alles haben wir verloren – nicht das Gebäude, aber das Zuhause, in dem mein Mann und ich unser Leben verbracht haben. Unsere Töchter rennen ins Dorf und sehen sich die Klamotten-Läden an, wie alle Mädchen in diesem Alter. Aber sie haben nur eine Garnitur, und die müssen sie die ganze Zeit tragen.“

Zerfallene Gesellschaft

Der Libanon hat seinen Wiederaufbau nach dem eigenen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) noch nicht abgeschlossen. Seine Gesellschaft zerfällt in Sektionen und Fraktionen – in Sunniten, Schiiten, Drusen, Christen. Wer aus Syrien kommt, ist größtenteils sunnitischen Glaubens und kann die fragile religiöse Balance der Zedern-Republik aus dem Gleichgewicht bringen. In Beirut werden wichtige Regierungsämter bis zum Präsidenten und Premier nach einem festen Schlüssel unter den Konfessionen aufgeteilt. Derzeit regiert ein Übergangskabinett, Neuwahlen sind überfällig, aber sie könnten der inneren Stabilität mehr schaden als nutzen.

Vor genau einem Jahr, im November 2012, hatten 300.000 Syrer die Grenze zum Libanon überschritten. Mittlerweile sind so viele hinzugekommen, dass nun jeder vierte im Libanon aus dem Nachbarland stammt. Das Registratur-Zentrum des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR in Tripoli hat Mühe, alle Neuankömmlinge zu erfassen. Anfang 2014 werde vermutlich die Zwei-Millionen-Grenze durchbrochen, heißt es. In Beirut werden Stimmen lauter, die Grenzen zu schließen. Was Beifall findet, seit die steigende Kriminalitätsrate die Gemüter erregt. Zudem sind im Libanon die Lebenshaltungskosten weit höher als in Syrien. Es gibt Engpässe bei der Versorgung mit Wasser und Elektrizität, und selbst wer es geschafft hat, aus Syrien Ersparnisse zu retten, muss mit ansehen, wie schnell das Geld hier verbraucht ist.

Wegen der schlechten Erfahrung mit palästinensischen Flüchtlingen – 400.000 von ihnen leben bis heute in Lagern, in denen Gewalt, Verwahrlosung und Depressionen grassieren – hat sich die libanesische Regierung geweigert, dem Beispiel Jordaniens zu folgen und Flüchtlingslager für die Exilanten aus Syrien einzurichten. Keine Unterkunft darf mehr als „eine einfache Holz-und-Plastik-Struktur“ aufweisen. Alles, was robuster ist und auf ein Camp deutet, bleibt den Syrern verboten.

Dadurch verdienen viele Libanesen gutes Geld. Vermieter kassieren Miete für eigentlich kaum bewohnbare Ställe, teilweise sogar Toilettenhäuschen. Zudem lassen sich die Geflohenen leicht als billige Arbeitskräfte ausbeuten. Die Regierung erhält Militärhilfen aus den USA und der EU, wo man daran interessiert ist, dass die libanesische Armee die Landesgrenzen verteidigen kann. Doch wer als Libanese versucht, syrische Familien wie die eigene zu versorgen, erhält keinen Beistand. Der Unmut wächst.

Nachtschicht in der Schule

Bar Elias liegt an jenem Korridor, den Flüchtlinge durchlaufen, wenn sie das Bekaa-Tal passieren. Bevor der syrische Bürgerkrieg ausbrach, zählte die Stadt 50.000 Einwohner – jetzt 100.000. Die Syrer hausen in Zelten, Rohbauten, Garagen und vormals leer stehenden Zimmern. Bürgermeister Saad Maita trauert seinem Lieblingsprojekt nach – zwei neuen städtischen Parks. Auch an einer Umgehungsstraße sind die Bauarbeiten seit Ankunft der ersten Syrer zum Erliegen gekommen. „Flüchtlinge mussten untergebracht werden, bevor auch nur ein Libanese seinen Fuß auf dieses Parkgelände setzen konnte. Uns fehlt das Geld – manchmal können wir nicht einmal all unsere städtischen Angestellten bezahlen.“ Man habe immer schon mit einer maroden Müll- und Abwasserentsorgung leben müssen. Jetzt gäbe es den doppelten Bedarf, aber keine neuen Fahrzeuge, kein zusätzliches Personal.

„Der Trinkwasserkonsum hat sich verdreifacht, Flüchtlinge zapfen die Leitungen an, um sich zu versorgen“, erzählt der Bürgermeister weiter. „Wir haben nur drei Polizisten, sodass ich jedes Mal selbst die Konflikte schlichten muss, wenn es Streit mit den Syrern gibt. Die Bewässerungskanäle zu unseren Höfen werden von ihnen blockiert. Außerdem haben sich die Mieten teils verdreifacht, selbst für Betriebe und andere Firmen.

Den Libanesen ging es noch nie sonderlich gut. Sie geben den Geflüchteten trotzdem, was sie entbehren können, aber jetzt ist langsam eine Grenze erreicht. Es wird zu aufreibend. Ich bitte um Hilfe, aber von der Regierung und den Vereinten Nationen erhalten wir immer nur Versprechungen. Wir hoffen, dass die Sache ein gutes Ende nimmt, aber ich fürchte, am Ende könnten zwei Länder zusammenbrechen.“

Wie in vielen libanesischen Städten hat man auch in Bar Elias damit begonnen, in den Schulen Nachtschichten einzuführen, um einige der syrischen Kinder zu unterrichten, die vielfach seit mindestens zwei Jahren keinen Unterricht mehr erhalten. Die Regierung in Beirut zögert die Entscheidung hinaus, ob sie von episodischen Ansätzen zu einem Bildungsprogramm für die Exilanten übergehen soll. Dies würde zu einer Verdoppelung der jetzt etwa 300.000 Kinder führen, die augenblicklich unterrichtet werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass mit den sechs- bis sechzehnjährigen Emigranten-Kindern eine Generation von unzufriedenen, erwerbsunfähigen Außenseitern heranwächst, sollte sich der Krieg in Syrien noch Jahre hinziehen.

Sonia Zambakides ist Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation „Save the Children“im Libanon und sich darüber im Klaren, wie unter armen Libanesen der Unmut über die Geflüchteten wächst. „Es muss deshalb Projekte geben“, sagt Zambakides, „die beiden Communitys offenstehen. Sicher eine enorme Herausforderung, trotzdem wollen wir Ende des Jahres 70.000 Flüchtlingskinder auf der Schulbank haben. Mit dem Schuljahr 2014/15 sollen dann alle syrischen Kinder wieder lernen können, falls unser Bildungsministerium mitspielt.“

Kinder aus Flüchtlingsfamilien haben nicht selten unsagbare Schrecken miterlebt. Die Schule kann ihnen ein Gefühl für Normalität und Struktur zurückgeben. Müssen sie im Exil darauf verzichten, werden sie der Traumatisierung nur schwer entkommen. Unabhängig davon drohen ihnen Ausbeutung und Kinderarbeit oder frühe Zwangsheiraten bei Mädchen. Dürfen sie jetzt nicht zurück in die Schule, könnte es für viele zu spät sein, aus dem Schatten des Krieges zu treten.

„Save the Children“ hat viel zu wenig Geld für seine ehrgeizigen Vorhaben, dennoch müht sich die Nichtregierungsorganisation gerade, das größte Projekt ihrer Geschichte zu meistern. Es geht darum, für Hunderttausende die leichten Unterkünfte mit Dämm-Material, Plastikplanen, Decken und Sperrholz winterfest zu machen. Die Frage, wie man die kalte Jahreszeit am besten bewältigt, steht bei den Flüchtlingen an oberster Stelle. In wenigen Wochen wird der Nordlibanon von Schnee und Eis bedeckt sein. In einer der Zeltsiedlungen in Bar Elias schlachten die Menschen alles nur mögliche aus, um ihre klapprigen Unterkünfte zu isolieren. Sie graben sich Erdhöhlen und eigene Latrinen, auch wenn das die Ratten und Schlangen anzieht.

Abu Fadi hat für seine elfköpfige Familie eine wackelige Konstruktion errichtet. „Ich habe noch nicht genug Holz. Den Boden werde ich mit Sand bedecken. Aber auch dann besteht die Gefahr, dass unser Zeltdach vom Gewicht des Schnees eingedrückt wird. Ich habe Glück, denn zu Hause in Syrien habe ich auf dem Bau gearbeitet und daher eine ungefähre Idee, was zu tun ist. Ich hoffe einfach nur, dass wir so lange durchhalten, bis wir wieder in die Heimat gehen können.“

Im Dorf Knaisse macht sich Maro Sorgen, weil ihre Kinder im Dreck spielen. „Sie werden krank. Ich bemühe mich, dass sie drinnen bleiben. Aber es ist kalt, und sie haben keine Spielsachen. Ich habe Angst, dass sie niemals wieder zur Schule gehen – und bin wütend. Einmal habe ich sie sogar geschlagen. Ich schäme mich dafür – in Syrien hätte ich das nie getan. Wären wir nur geblieben. Selbst im Krieg hatten wir dort wenigstens unsere Würde. Es muss einen Weg zurück geben.“

Tracy McVeigh ist Chefreporterin des britischen Observer

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tracy McVeigh | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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