Freda Kelly führt ein überschaubares Leben. Jeden Morgen fährt sie von ihrem Zuhause auf der Halbinsel Wirral zu einer Anwaltskanzlei in der 90.000-Einwohner-Stadt Birkenhead in der Nähe von Liverpool. Dort arbeitet sie als Sekretärin. Sie beginnt um neun Uhr morgens, bearbeitet Gerichtsakten, macht Termine aus und tippt Briefe mit der gleichmäßigen Geschwindigkeit von 50 Worten pro Minute. Der Tacker auf ihrem Schreibtisch ist mit ihrem Namen beschriftet. Sie arbeitet dort seit 21 Jahren.
In jüngster Zeit hat sich Freda Kelly, 68, aber im Zentrum unerwarteter Aufmerksamkeit wiedergefunden. Das hat sie überrascht. „Wer möchte die Geschichte einer Sekretärin hören?“, fragt sie und schüttelt ungläubig den Kopf.
Im Fall dieser Sekretärin wären Hunderttausende Menschen rund um den Globus wohl eher eine konservative Schätzung. Kelly ist nicht irgendeine ältere Schreibkraft. Ab 1962 war sie elf Jahre die Sekretärin der Beatles. Jetzt ist sie die Hauptperson eines Dokumentarfilms, Good Ol’ Freda, in dem sie einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen der berühmtesten Band des 20. Jahrhunderts gibt. Trotz der Unmenge von Texten und Filmen, die sich der „wahren Geschichte“ der Beatles widmen – gerade erst ist mit On Air – Live at the BBC 2 ein neues Album mit bisher unveröffentlichtem Material erschienen –, hat Kelly nie zuvor über diese Zeit gesprochen. Und doch war sie, während sie seit ihrem 17. Lebensjahr für die Band arbeitete, ein Teil des innersten Kreises.
Die Beatles-Schwester
Zu Kellys Pflichten gehörte die Arbeit für den Beatles-Manager Brian Epstein und das Betreuen des Fanclubs. Ihre Privatadresse war eine Weile die Anschrift des Beatles-Fanclubs. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs bezeichnete eine Zeitung sie als „das meistbegehrte Mädchen der Welt“. Selbst aus Liverpool stammend, verstand Kelly den Background der Jungs wie niemand sonst. Die Familien lebten in Gehweite ihres Hauses. George Harrison fuhr sie nach Hause. Paul McCartneys Stiefmutter sagt im Film: „Die Beatles sahen sie als ihre Schwester.“
Mehrere gut dotierte Buchangebote hat Kelly über die Jahre abgelehnt. „Es hätte sich nicht richtig angefühlt, die Erinnerungen zu verkaufen.“ Sie häufte in ihrer Zeit bei der Band einen beträchtlichen Vorrat an Memorabilien an, gab das meiste aber nach der Trennung 1970 an Fans weiter. „Sonst könnte ich jetzt Millionärin sein“, sagt sie ohne Bedauern in der Stimme.
Heute stehen nur noch vier Kisten auf ihrem Speicher, alle vollgestopft mit den von ihr selbst geschriebenen Beatles-Fanzines. Sie hat auch die Telegramme aufbewahrt, die ihr die Bandmitglieder zu ihrem Hochzeitstag geschickt haben, sowie eine Locke von George Harrison. „Ich bin nicht verrückt nach Geld – ich brauche nur genug zum Leben“, sagt Kelly, als wir uns an einem nieseligen Freitag treffen. Sie hat es so eingerichtet, dass das Gespräch in ihrer Mittagspause stattfindet, damit ihre Arbeit nicht gestört wird. Wir sitzen uns an einem Furniertisch in einem Besprechungsraum der Kanzlei gegenüber. „Die Hälfte der Leute hier weiß nichts über meine Vergangenheit“, sagt Kelly. „Man hängt das nicht an die große Glocke. Ich würde keiner Frau an der Bushaltestelle erzählen: Hallo, ich hab für die Beatles gearbeitet.“
Sie habe die Buchverträge abgelehnt, weil sie davon ausging, dass die Verlage Klatsch und Tratsch wollten. Und das will sie nicht. Weil sie sich der Band gegenüber nach wie vor loyal fühlt? Kelly nickt. In einer Zeit, in der Promis praktisch alles erzählen und der Appetit nach Klatsch immer größer wird, wirkt diese Loyalität auf sympathische Weise aus der Zeit gefallen. Einmal erwähnt sie im Gespräch kurz, in jeden der Fab Four zu einer bestimmten Zeit einmal verknallt gewesen zu sein. Wurde jemals etwas Ernsthaftes daraus? „Kein Kommentar.“ Sie lächelt kurz. „Wir waren Teenager – lassen Sie ihre Phantasie spielen.“
Von ihrer Tochter Rachel wurde Kelly überredet, ihre Geschichte doch einmal zu erzählen. „Meine Tochter sagte: ‚Tue es, bevor die Demenz einsetzt.‘“ Sie lacht laut. „Ich wollte einen kleinen Film für meinen Enkel machen, damit er weiß, was seine Oma in ihrer Jugend getan hat. Damit er stolz ist.“ Sie setzte sich mit dem amerikanischen Regisseur Ryan White in Verbindung, den sie über Freunde kannte. Als White realisierte, an welche Zeitzeugin er geraten war, überzeugte er Kelly, eine abendfüllende Dokumentation zu drehen, und sammelte per Crowd Funding 50.000 Dollar ein, um den Dreh zu bezahlen.
Der Film feierte in diesem Jahr auf einem Festival in Austin, Texas seine Premiere, mittlerweile ist er auf DVD erhältlich. Während des Abspanns in Austin erhielt Kelly stehende Ovationen. Der Titel „Good Ol’ Freda“ stammt von der Weihnachtsplatte der Beatles von 1963, die sie für ihren Fanclub aufnahmen. Auf der Scheibe dankt Harrison „Freda Kelly in Liverpool“. Die drei anderen Beatles rufen: „Good ol’ Freda!“
White schaffte auch das beinahe Unmögliche und erhielt die Freigabe, vier Original-Songs der Beatles zu nutzen – eine beachtliche Leistung, da sowohl die Zustimmung von Paul McCartney und Ringo Starr als auch die der Erben von John Lennon und George Harrison erforderlich war. „Ich bin nicht leicht zu beeindrucken“, sagt Kelly. „Aber als mir der Regisseur mitteilte, dass wir vier Songs bekommen, hatte ich einen Kloß im Hals. Sie erinnern sich noch.“
Kellys Vater wollte erst nicht, dass sie den Job bei der Band annahm. Sie war mit 16 von der Schule abgegangen und hatte Stenotypistin gelernt. Sie hatte bereits einen Job in Liverpool, als ein Kollege ihr in der Mittagspause vorschlug, in den Cavern Club zu gehen, wo die Beatles spielten. Als sie sie das erste Mal hörte, war es um sie geschehen. „Es war nicht nur, was sie spielten, es war alles an ihnen“, sagt sie. „Die Art, wie sie auf der Bühne standen. Niemand außer ihnen trug damals Leder. Auf der Bühne neckten sie einander. Du sahst sie herumalbern und wolltest mitmachen.“
Sie hing immer öfter im Cavern Club herum, mit seinem unverwechselbaren Geruch nach „Desinfektionsmittel, Schweiß und faulem Obst“ vom Obstmarkt gegenüber. Kelly freundete sich mit den Bandmitgliedern an. Manchmal fuhr sie abends einer von der Band nach Hause, und sie saßen draußen und unterhielten sich mitten in der Nacht zu laut, bis Kellys wütender Vater in seinem Morgenmantel schimpfend die Treppe hinunterkam.
Die Beatles spielten 294 Mal im Cavern Club. Kelly schätzt, dass sie bei etwa 190 Auftritten war. Jeder gewöhnte sich daran, ihr Gesicht zu sehen. Als Brian Epstein, der den NEMS-Plattenladen in Liverpool betrieb, ankündigte, er wolle die Beatles managen, kam er auf Kelly zu. Er stattete einen Lagerraum im ersten Stock des Ladens mit Tisch und Schreibmaschine aus. Kellys Vater sagte, den Job würde es kein Jahr geben. „Ich sagte: ‚Gib mir das Jahr, und wenn ich 18 bin, werde ich klein beigeben‘. Aus dem Jahr wurden zehn.“ Sie hatte eine Ahnung, dass die Beatles es schaffen würden. „Ich wusste, sie würden eines Tages berühmt werden.“ Aber sie hatte keine Ahnung wie berühmt.
800 Briefe täglich
Ihre wichtigste Aufgabe bestand in der Betreuung des Beatles-Fanclubs – der wichtigsten Informationsquelle über die Band. Zuerst gab sie ihre Privatadresse an und beantwortete die Briefe persönlich. Aber dann veröffentlichte die Band „Love Me Do“, das 1962 Platz 17 erreichte. Ihre zweite Single „Please Please Me“ folgte fünf Monate später und landete auf Platz eins. Schon bald stand der Postbote mit 800 Briefen täglich vor der Tür. Ihr Vater war nicht erfreut. Sie änderte die Fanclub-Adresse, sodass die Briefe fortan ans Büro gingen.
Da sie selbst ein Fan war, gab sich Kelly alle Mühe, die Ansprüche von anderen jungen Frauen zu erfüllen. Als die Beatlemania das Land im Griff hatte, wurde sie mit immer bizarreren Bitten überschwemmt. Eine junge Frau schickte einen Kissenbezug, auf dem Ringo eine Nacht schlafen sollte. Kelly brachte ihn zu Starrs Mutter und nahm ihr das Versprechen ab, Ringo dazu zu bringen. Ein anderer Fan stand irgendwann unangekündigt vor Kellys Tür. „Ich hatte sie zwei Wochen bei mir im Haus. Ich habe sie gefüttert. Ich glaube, sie war von zu Hause weggelaufen. Ich nahm sie mit zur Arbeit, irgendwann wurde sie aber schwierig.“
Kelly sammelte sogar das abgeschnittene Haar bei den Friseuren der Beatles ein und bewahrte es in Tüten auf, sodass sie jeder Bitte eines Fans nach einer Locke entsprechen konnte. Die Bandmitglieder kamen an den meisten Tagen im Büro vorbei, und jedes Mal ließ Kelly sie Autogramme schreiben. „Auf Paul konnte man sich immer verlassen. Er war der Gute. George war sehr aufmerksam. Ringo lachte immer. Er war Mr. Happy. Johns Stimmungen wechselten. Die Leute denken, John Lennon sei sehr hart gewesen. Er konnte es sein, aber es gab auch eine fürsorgliche Seite.“
Mit der Prominenz wuchs die Fangemeinde. Lennon war seit 1962 mit einer Frau verheiratet, die er als Student kennengelernt hatte. Obwohl Cynthia Lennons Existenz den anderen Mitgliedern der Band bekannt war, bestand Brian Epstein darauf, dass die Ehe und später die Schwangerschaft – der Sohn Julian wurde 1963 geboren – ein Geheimnis blieben, um die weiblichen Fans nicht zu verprellen. Kelly fiel das sehr schwer. „Eine Freundin von mir ging zu dieser Zeit mit John Lennon aus, und ich konnte nichts sagen. Ein anderes Mädchen, das ich kannte, ein großer John-Lennon-Fan, sagte zu mir: ‚Ich weiß, dass er verheiratet ist und eine kleine Tochter hat.‘ Ich habe geantwortet: ‚Er hat keine kleine Tochter‘, weil das zumindest wahr war.“
1965 verlagerte Epstein den Kern des Beatles-Betriebs nach London. Kellys Vater wollte nicht, dass sie mitging. Als sie zu kündigen versuchte, bestand Epstein aber darauf, dass sie in Liverpool blieb und ein paar Tage im Monat nach London fuhr.
Gegen Ende der sechziger Jahre wurde die Nähe, die einst den Charme der Beatles ausgemacht hatte, zerstört. Epstein starb 1967 an einer Überdosis Schlaftabletten. „Das war verheerend“, erinnert sich Kelly. McCartney und Lennon versuchten, alles zusammenzuhalten, aber jedes Mitglied wollte zunehmend seine Solo-Projekte verfolgen. Ab 1968 sorgte Lennons Affäre mit Yoko Ono noch für weitere Spannungen.
War sich Kelly der wachsenden Unruhe bewusst? Sie nickt kurz. Die Auflösung wurde 1969 von McCartney in einem Interview bestätigt. Kelly, die zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet war und ihr erstes Kind erwartete, war erleichtert. Aber obwohl sie offiziell aufhörte, für die Band zu arbeiten, beantwortete sie weitere drei Jahre zu Hause jeden Abend nach dem Essen Fanbriefe. Warum? „Man kann einen Fanclub nicht einfach über Nacht schließen.“
Elisabeth Day schreibt für den Observer vor allem Porträts und Reportagen.
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