„2015“ darf sich wiederholen

Afghanistan Viele Politiker im Westen spielen mit der Angst vor vermehrter Migration. Aber wir sollten – und können – denen helfen, die vor den Taliban fliehen
Afghanische Flüchtende an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien
Afghanische Flüchtende an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien

Foto: Damir Sagolj/Getty Images

Zwei bezeichnende Bilder aus dem Jahr 2021 zeigen Menschen auf der Flucht. Auf dem einen sieht man Afghanen, die verzweifelt einem US-amerikanischen Airforce-Jet auf der Startbahn im Flughafen der Hauptstadt Kabul hinterherrennen, als die 20-jährige Besatzung Afghanistans durch den Westen zu Ende ging. Das andere Bild zeigt Passagiere an Deck einer Fähre, die wegen der Waldbrände auf der griechischen Insel Euböa evakuiert werden und zurückblicken, während die Silhouette der Insel von apokalyptischem Rot umgeben ist.

In beiden Fällen erzählen die Bilder davon, wie schnell Menschen im Katastrophenfall alles aufgeben müssen. Selten bleibt Zeit für eine geordnete Warteschlange, für korrekte Papiere oder die Mitnahme von Besitz, wenn man zur Flucht gezwungen ist. Zudem sagen die Bilder etwas über die Macht derjenigen aus, die die Wege in die Sicherheit kontrollieren.

Allzu häufig wird unsere Reaktion auf Katastrophen von düsteren Prophezeiungen bestimmt: Dass es einfach zu viele Menschen sind, um zu helfen; dass das Risiko besteht, dass sie uns mit sich herunterziehen. Der Schatten der Flüchtlingskrise von 2015 mit ihrem plötzlichen Ansturm von Menschen nach Europa, die sich mit den Worten von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet „nicht wiederholen sollte“, bestimmt die Politik des Westens gegenüber Afghanistan.

Dabei ist es wichtig, dass wir diesen Ängsten widerstehen. Migration ist weitaus komplexer als es die vorherrschende Darstellung der „Flüchtlingskrise“ vermuten lässt. Anstatt sich in Spekulationen über die Zukunft zu verlieren, ist es vor allem wichtig, den Bedürfnissen der Menschen in der Gegenwart gerecht zu werden.

Niemand braucht gegenseitige Schuldzuweisungen

Als in den vergangenen Tagen die Kritik an der britischen Regierung wegen der schleppenden Bemühungen um die Evakuierung von Afghanen, die von Repressalien der Taliban bedroht sind, lauter wurde, kam es zu gegenseitigen Schuldzuweisungen. Sie sind ein Beispiel dafür, was uns erwartet, wenn wir versagen. Laut Sunday Times vom Wochenende beschuldigten „hochrangigen Militärquellen“ das britische Innenministerium, die Bemühungen um eine verstärkte Aufnahme von Afghanen zu behindern. Dieses wies die Vorwürfe dagegen entschieden zurück. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace warf unterdessen dem Außenministerium vor, seine Diplomaten aus Kabul abgezogen und die Bearbeitung der Visumsanträge „18-jährigen einfachen Soldaten“ überlassen zu haben.

Ähnliche Gefechte finden auch andernorts in Europa und darüber hinaus statt, während die Regierungen darum kämpfen, auf die schnelle Machtübernahme der Taliban zu reagieren. Ein Großteil der oberflächlichen Rhetorik ist hehrer Natur: „Denjenigen, denen Verfolgung droht, muss Asyl gewährt werden“, erklärte Europaparlamentspräsident David Sassoli. Doch die Reaktionen der europäischen Regierungen sind ebenso sehr von der übertriebenen Angst vor Migration geprägt. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte diese Woche, Frankreich werde „denen, die unsere Werte teilen“, zur Seite stehen. Gleichzeitig forderte er aber einen „robusten“ EU-Plan zur Eindämmung „irregulärer Migrationsströme nach Europa“.

Manche Länder bestehen darauf, die Abschiebung abgelehnter afghanischer Asylbewerber fortzusetzen: Österreich fordert „Abschiebezentren“ in Drittländern, solange die Menschen nicht sicher nach Afghanistan selbst zurückgebracht werden können. Die britische Regierung denkt verspätet über eine Ausweitung der Aufnahme von Afghanen nach, die von Repressalien der Taliban bedroht sind. Gleichzeitig treibt sie ein Grenzgesetz voran, mit dem Menschen bestraft werden sollen, die auf „falsche“ Weise Asyl in Großbritannien suchen, indem sie auf eigene Faust einreisen.

Europas Grenzpolitik ist zunehmend von dem Wunsch bestimmt, eine Wiederholung von 2015 zu vermeiden. Das hat die Regierungen einiger ihrer Nachbarländer ermutigt, die Sache zu manipulieren: In den vergangenen 18 Monaten versuchten die Türkei, Marokko und Belarus in verschiedenen Fragen politischen Druck auszuüben, indem sie Gruppen von Migranten erlaubten, auf EU-Gebiet einzureisen.

Dabei streben nicht alle Vertriebenen automatisch in die reichen Teile der Welt: Die große Mehrheit der Flüchtlinge wird nicht von den Industrieländern aufgenommen. Wenn Menschen versuchen, den Westen zu erreichten, haben sie normalerweise nirgendwo anders Sicherheit gefunden. Auch sind es meist nur diejenigen mit Geld, Kontakten oder der Willensstärke, den bereits jetzt schon scharfen Abwehrmaßnahmen zu trotzen, die es versuchen.

Das Gespenst „Flüchtlingswelle“

In Wahrheit fliehen seit mehreren Jahren Menschen in großer Zahl aus Afghanistan wegen eines Krieges, dessen „primäres und definierendes Merkmal die Schädigung von Zivilisten“ ist, „durch massive Verletzungen der Menschenrechte und Kriegsverbrechen von allen Seiten“, wie es Human Rights Watch im Juli ausdrückte.

Dies zu verschleiern, passte den an der Fortsetzung des Krieges beteiligten Regierungen gut. Asylbewerber, so sagte es der damalige englische Innenminister David Blunkett in einem verfrühten Moment des Triumphs im Jahr 2002, „sollten nach Hause zurückkehren und ihre Länder wieder aufbauen, die wir von der Tyrannei befreit haben, sei es Kosovo oder jetzt Afghanistan“. 2015 dann ordnete ein britisches Gericht an, dass Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt werden sollten, weil das Land nicht sicher sei. Die Regierung ging in Berufung und die Entscheidung wurde ein Jahr später wieder aufgehoben.

Das drohende Gespenst einer neuen Flüchtlingswelle kann vielen politischen Zielen dienen. Es kann benutzt werden, um eine schärfere Grenzpolitik zu rechtfertigen; je nach politischer Präferenz kann es entweder für die Verurteilung oder die Befürwortung der westlichen Militärintervention herhalten. Aber anstatt zu moralisieren, sollte eine Diskussion auf der Realität der existierenden Migration basieren, nicht wie unsere führenden Politiker sie gerne hätten.

Während Großbritannien und andere Regierungen ihre Anstrengungen zur Evakuierung und Aufnahme von Afghanen verstärken müssen, wird das nicht ausreichen. Laut den neuesten Zahlen der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR wurden seit Anfang des Jahres in Afghanistan bereits 550.000 Menschen intern vertrieben, 80 Prozent davon Frauen und Kinder; viele von ihnen sind jetzt in Kabul obdachlos, ohne Zugang zu grundlegender Versorgung oder medizinischer Hilfe. Sie kommen noch zu den 2,9 Millionen Binnenflüchtlingen hinzu, die es bereits Ende 2020 gab. Einige Länder, darunter Großbritannien, haben in den vergangenen Jahren die Hilfe für Afghanistan gekürzt; die UNHCR fordert eine Erhöhung der Mittel, um den Bedarf der Menschen bis Ende Dezember decken zu können.

Erforderlich ist auch eine abgestimmte internationale Anstrengung, die Afghanistans Nachbarländer darin unterstützt, ihre Grenzen offen zu halten und denen Schutz zu gewähren, die ihn brauchen. Dort hält sich nämlich die Mehrheit der afghanischen Flüchtlingsdiaspora auf, die infolge von 40 Jahren Invasion und Bürgerkrieg eine der größten der Welt ist. Die meisten Menschen werden wahrscheinlich auch dort bleiben. Aber man kann von Ländern wie Iran und Pakistan nicht erwarten, das sie das allein stemmen. Kanada hat angeboten, 20.000 gefährdete Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Diesem Beispiel sollten andere Länder folgen, die die Kapazitäten dafür haben. Großbritannien sollte zudem afghanische Asylbewerber:innen, die bereits im Land sind, nicht abschieben und Familiennachzug erleichtern.

Wenn in Sachen Rückzug des Westens aus Afghanistan alles gesagt ist, wird sich die Debatte in Großbritannien wahrscheinlich nach innen verlagern, indem die Kommentatoren den Verlust von Großbritanniens internationalem Einfluss betrauern. Den Luxus, das Thema zu wechseln, haben die Menschen, die vom Krieg und jetzt von den Folgen des Siegs der Taliban betroffen sind, nicht.

Daniel Trilling ist Autor des Guardian und schreibt über die europäische Migrationspolitik sowie die Neue Rechte in Großbritannien

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Daniel Trilling | The Guardian

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