Angst und Beharrlichkeit

Tokio Ein Spendenskandal hätte Japans Premierminister Naoto Kan in diesen Wochen sein Amt kosten können - nun rückt das Land zusammen. Ein Stimmungsbild aus Tokio

Wie sehr müssen die Japaner sich nach den kaum vergangenen Tage zurücksehnen, als die einzige Krise, um die sie sich sorgten, die Möglichkeit war, dass ein weiterer Premierminister zurücktreten könnte. Derart profane politische Unsicherheiten wurden von der seismischen Katastrophe hinweggefegt, und der Mann, dem letzte Woche noch ein Spendenskandal drohte, wurde in die Rolle des Oberbefehlshabers im Krieg gegen Japans erbittertsten Gegner in Friedenszeiten hineingestoßen: die Naturgewalten.

Und so erlebten die Menschne, die schon halb damit gerechnet hatten, dass Premierminister Naoto Kan sich als nächster in die Reihe der schmachvollen Rücktritte eingliedern würde, wie dieser einen außergewöhnlich leidenschaftlichen Appell für Einigkeit und Durchhaltevermögen aussprach – eben jene Werte, die Japan aus der Verzweiflung nach dem Krieg geholfen hatten. „Japan erlebt die schlimmste Krise seit Ende des Krieges vor 65 Jahren“, erklärte Kan der Öffentlichkeit in einer Fernsehansprache. „Wir alle stehen in Japan vor der Herausforderung, ob wir diese überwinden können. Ich glaube, wir können das.“

Gefühlte Schonfrist

Dort wo die Menschen direkt mit den Auswirkungen des Tsunamis und des Erdbebens zu kämpfen haben, liegen die Nerven blank, doch der Rest des Landes reagiert mit Entschlossenheit und einer kollektiven Trauer, die so aufrichtig wie zurückhaltend ist. Unter denjenigen, die in Regionen leben, die von dem Leid verschont geblieben sind, herrscht kaum Erleichterung; sie haben allenfalls das Gefühl, dass ihnen als Bewohner eines Landes, in dem sich der Erdboden mit erschreckender Regelmäßigkeit verschiebt, einfach nur eine Schonfrist gewährt worden ist. Im Fernsehen sind alle übrigen Nachrichten und so gut wie alle anderen Sendungen verworfen worden, damit die öffentlichen und privaten Sender die vor Entsetzen gelähmte und beunruhigte Bevölkerung mit Updates und Erdbebenwarnungen versorgen können.

In Tokio kommen Nachbarn über die Katastrophe, die sie alle heimgesucht hat, ins Gespräch, die normalerweise nie miteinander geplaudert hätten. Während man auf den Straßen augenscheinlich zu einer Art Normalität zurückfindet, die Züge und U-Bahnen wieder den Betrieb aufnehmen, werden die Ereignisse einige hundert Kilometer entfernt gleichermaßen sorgenvoll mit Eigeninteresse und düsteren Vorahnungen verfolgt, als auch mit Entsetzen und Mitgefühl für die Opfer, deren Leben und Schicksal sie bis dato nicht tangiert hatte.

Stromsperren bis Ende April

Die Bedrohung durch weitere starke Beben und eine nuklearen Katastrophe hat die Bewohner Tokios in einer Art Überlebens-Modus versetzt. Notbedarf wie Batterien, abgefülltes Wasser, Kerzen und frische Lebensmittel sind in den Läden im Zentrum Tokios nicht mehr verfügbar. Unterdessen verlassen ausländische Bewohner in großen Scharen die Insel oder ziehen sich gemeinsam mit ihren japanischen Kollegen in Städte zurück, die weiter vom Epizentrum entfernt sind.

Nach einem Wochenende, das von Angst bestimmt war, fing heute eine Arbeitswoche an, die von Ungewissheiten bestimmt ist. Die Börse öffnet wieder, aber alles andere fühlt sich fremd an, für dieses Land, das mit den Stereotypen zweckdienlich und effizient verbunden und dafür auch beneidet wird. Die Hersteller, die sich während der Finanzkrise daran gewöhnt haben, die Produktion zu drosseln, müssen nun mit einem kompletten Stillstand klarkommen. Die Häuser und Betriebe in allen 23 Tokioter Stadtteilen werden nach einem Rotationssystem drei Stunden ohne Strom sein – danach werden andere Regionen auf Stromsperren verpflichtet, bis die normale Energieversorgung wiederhergestellt ist. Das könnte bis Ende April dauern.

Kritik an der Regierung

Doch inmitten aller Einheits-Bekundungen werden auch ein paar abweichende Stimmen laut. Eine Zeitung schrieb über die „stümperhafte“ Abwicklung der radioaktiven Emission in Fukushima durch die Regierung sowie das langsame Tempo der Evakuierungs-Maßnahmen. Aktivisten verschaffen sich mit ihrer Kritik an Japans Abhängigkeit von der Nuklearenergie wieder Gehör, und kritisieren insbesondere die Unvernunft, an der Küste eines der seismisch aktivsten Länder der Welt Atomkraftwerke zu bauen.

Die Angst vor einer Kernschmelze und die Unsicherheit, was die Zukunft nach dem Beben für die Wirtschaft und die zerstörte Energie-Infrastruktur bedeutet, haben Japan fest im Griff. Doch es kommt mit der Tragödie auf die einzige Art zurecht, die das Land kennt: mit zurückhaltender Beharrlichkeit.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Justin McCurry | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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