Der Streit zwischen Tokio und Peking um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer droht aus dem Ruder zu laufen, seit China dort eine Luftverteidigungszone reklamiert. In dieser Woche hat US-Vizepräsident Joe Biden mit den Regierungen der Konfliktstaaten sowie Südkorea verhandelt, doch tat er dies nicht etwa als neutraler Vermittler. B-52-Bomber der US-Luftwaffe haben das umstrittene Gebiet zuletzt immer wieder überflogen und ebenso provoziert wie japanische Zerstörer und Schnellboote.
In Yokosuka – dem Heimathafen der japanischen Marine und der Siebten US-Flotte – steht Kapitän Fujii bei grauem Nieselwetter auf dem Hubschrauberdeck seines Schiffs. Hinter ihm schlägt die Flagge mit den roten stilisierten Sonnenstrahlen gegen den Mast. An Bord des Z
Bord des Zerstörers sind Kurzstreckenraketen und Torpedos, ein Geschützturm mit einer 76-mm-Schnellfeuer-Kanone und ein Phalanx-Nahverteidigungssystem. Beim eskalierenden Konflikt mit China genießt Kapitän Fujii seine Rolle in einem sich abzeichnenden Drama. Auf die Frage, ob er sein Schiff nach Süden, in die umstrittenen Gewässer im Ostchinesischen Meer vor den Senkaku-Inseln (s. Karte), dirigieren werde, lächelt der Kommandant und verbeugt sich. Der als Dolmetscher fungierende Stellvertreter erklärt, aus „Sicherheits- und Operationsgründen“ könne darauf nicht geantwortet werden. Wie auch? Schließlich nimmt China die Inselgruppe, die dort Diaoyu heißt, gleichfalls für sich in Anspruch – die Lage ist heikel.MS Murasame, der Name des Seelenverkäufers von Kapitän Fujii, bedeutet so viel wie „vorüberziehender Regenschauer“. Als Japan 2012 beschloss, einen Teil der in Privatbesitz befindlichen Senkakus de facto zu nationalisieren, löste das in Peking einen Proteststurm aus. Seither entsendet China immer wieder Schiffe, um die japanische Küstenwache herauszufordern.Rückfall in alte SehnsüchteBislang blieben bewaffnete Zusammenstöße aus, aber oft fehlte nicht viel bis zum Schlagabtausch – etwa als ein chinesisches Schiff ein japanisches mit seinem Feuerleitradar anpeilte oder ein japanischer Kampfjet Warnschüsse abgab. Vor einer Woche hat die Volksrepublik eine Luftverteidigungszone im Umfeld der Inseln reklamiert. Schiffe und Flugzeuge, die diesen Abschnitt passieren, müssen sich demnach bei den Chinesen identifizieren. Tokio und Washington reagierten mit einem Veto, B-52-Maschinen der Air Force und japanische Zivilmaschinen überfliegen demonstrativ das Gebiet. Und tun es immer wieder. Was daraus folgt, wird mit Bangen erwartet.Für Shinzo Abe, Japans konservativen Premierminister, ist der Senkaku-Konflikt ein letzter Anstoß, die seit 1945 konstitutionell verankerten pazifistischen Prinzipien „anzupassen“ und „energisch für Interessen, Freunde und Werte“ einzustehen. Japan sei wieder da, sagt Abe. „Neuer Nationalismus“, – auf diesen Namen wurde der Tiger, den der Premier reitet, inzwischen getauft.Es ist kein Zufall, dass hochrangige Kontakte zu China und Südkorea auf Eis liegen, seit Abe im Amt ist. Der Premier will Japan weltpolitisch mehr Statur geben und die Allianz mit den USA stärken. All das wird von den Regierungen in Peking und Seoul als bedrohlich empfunden, als Rückfall in schlimme Tage des japanischen Imperialismus. Zudem werden Abe Arroganz und historischer Revisionismus vorgeworfen. Das Erbe des Krieges – etwa die Kontroverse um die koreanischen „Trostfrauen“, die im Zweiten Weltkrieg von japanischen Soldaten zur Prostitution gezwungen wurden – wird heruntergespielt oder ignoriert.Vor der UN-Generalversammlung präsentierte Abe im September eine expansive globale Agenda für das zu neuem Selbstbewusstsein gelangte Japan. Egal, ob es um Syrien, Atomwaffen, UN-Militärmissionen, somalische Piraterie oder Frauenrechte geht – Tokio will mitreden. Künftig werde man die Flagge eines „pro-aktiven Beitrags zum Frieden“ tragen, proklamiert Abe.Mit einem Verweis auf seine Abenomics genannte Strategie zur Dynamisierung der nationalen Ökonomie versprach der Premier, Japan werde „keine Mühen scheuen, um sich mit wiedererlangter Stärke Herausforderungen zu stellen, vor denen die Welt heute stehe. „Unser Wachstum wird für alle von Nutzen sein – Japans Niedergang hingegen wäre ein Verlust für die Welt.“ Um sicherzugehen, dass Peking die Stoßrichtung begriffen hat, ließ Abe keinen Zweifel: Für die Welthandelsnation Japan hänge das „nationale Interesse“ existenziell mit offenen Seewegen im Umfeld der Senkaku-Inseln zusammen. „Eine Veränderung der maritimen Ordnung durch Gewalt oder Zwang könne unter keinen Umständen geduldet werden.“Akio Takahara, Professor für internationales Recht an der Universität Tokio, hält den Senkaku-Konflikt für einen Präzedenzfall, der eine ganze Region betreffe. „Das gilt auch für Vietnam und die Philippinen, die mit Peking ebenfalls um Inseln streiten. Was mit den Senkakus geschieht, das ist ein internationales Thema, kein bilaterales, und als solches sehr gefährlich. China muss die Provokationen einstellen“, so Takahara. „Sollte Japan einknicken, würden Chinas Hardliner triumphieren, die Modernisierer aber wären marginalisiert.“Eine Anti-China-FeierGanz anders sieht das die südkoreanische Zeitung Joongang Daily, die Abe als „rechtesten japanischen Politiker seit Jahrzehnten“ attackiert. „Getragen von der nationalistischen Welle, die Japan überrollt, seit Abe in dem einst pazifistischen Land das Ruder übernommen hat, verfallen rechte Politiker einem militaristischen Weg. So wird ganz Nordostasien destabilisiert.“Abes Verteidiger halten diese Vorwürfe für übertrieben. Wenn es jetzt eine brisante Lage gäbe, dann wegen des aggressiven Verhaltens der Chinesen, die auf regionale Hegemonie zusteuern wollten, heißt es im japanischen Außenministerium. Regierungssprecherin Kuni Sato ergänzt, nach Jahren der Zurückhaltung könne Japan „tun, was andere Länder im Einklang mit dem internationalen Recht ebenfalls tun.“ Yuji Miyamoto, einst japanischer Botschafter in Peking, nennt Abes Ansatz wegen der rasanten Aufrüstung in Chinas Volksbefreiungsarmee „notwendig und gerechtfertigt.“ Nur drei Länder würden diese Politik nicht verstehen – China, Südkorea und Nordkorea, so Vizeaußenminister Nobuo Kishi. Die Mitglieder des südostasiatischen Staatenbundes ASEAN seien größtenteils auf Japans Seite. Shinzo Abe nutzt nun die Gunst der Stunde, um eine robuste Sicherheits-agenda durch einen nationalen Sicherheitsrat absegnen zu lassen, neue Verteidigungsrichtlinien in Auftrag zu geben und – erstmals seit Jahren – wieder den Verteidigungsetat zu erhöhen. Kapazitäten der Marine und des Küstenschutzes werden ausgebaut, auf dass die größte Marine Asiens unter japanischer Flagge fahre. Außerdem versucht Abe, bei Experten Beifall für eine Neuinterpretation von Artikel IX der pazifistischen Verfassung Japans zu finden. Dieser soll künftig „kollektive Selbstverteidigung“ garantieren. Das hieße, würden die USA oder andere Verbündete angegriffen, wäre Japan zu aktivem Beistand bereit. Am 13. Dezember wird Abe zudem in Tokio einen ASEAN-Gipfel ausrichten und auf den Eindruck Wert legen, dass es sich um eine Anti-China-Feier handelt. Schon kurz nach dem Taifun auf den Philippinen hatte er dem Reich der Mitte vorgeworfen, es leiste weniger finanzielle Hilfe als die schwedische Möbelkette Ikea. Japan habe stattdessen Soldaten entsandt und den Philippinen mit großzügigen Geldspenden zur Seite gestanden.Ursache für eine solch aggressive Rhetorik ist die Entschlossenheit, Barack Obamas „Schwenk nach Asien“ zu nutzen. Bei einem Besuch von US-Außenminister John Kerry und Verteidigungsminister Chuck Hagel wurde kürzlich das Militärabkommen zwischen beiden Ländern angepasst und eine „robustere Allianz“ beschworen. Es soll künftig mehr Kooperation bei der ballistischen Raketenabwehr, bei Geheimdienst-Operationen sowie der Weltraum- und Cyber-Kriegführung geben. Zudem werden Drohnen aus den USA nach Japan disloziert. Washington schnurrt geradezu vor Verzückung angesichts Abes kraftstrotzender Energie. „Die USA begrüßen Japans Willen, regional und global einen pro-aktiven Beitrag zu Frieden und Sicherheit zu leisten.“ Das neue Abkommen spiegele „gemeinsame Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, freie und offene Märkte und Respekt für die Menschenrechte“, so Kerry.Was die japanische Öffentlichkeit von dieser Selbstertüchtigung hält, lässt sich schwer beurteilen. 94 Prozent der Japaner stehen Umfragen zufolge China ablehnend gegenüber. Zugleich will ein Großteil der Bevölkerung (80 Prozent) auf harmonische Beziehungen nicht verzichten. Viele hielten sich an alte pazifistische Gewissheiten, sagt Kuni Miyake vom Canon Institute for Global Studies in Tokio. Andere würden geltend machen, dass die Welt um Japan ein unkalkulierbarer Wandel erfasst habe, auf den reagiert werden müsse. „In Ostasien ist eine immense Machtverschiebung im Gange. Wenn China unbedingt eine pazifische Macht sein will und die amerikanisch-japanische Hegemonie nicht anerkennt, ist ein Showdown unausweichlich“, sagt Miyake.
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