Arabischer Frühling – arabischer Herbst?

Tunesien Vor den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung an diesem Wochenende liegt die islamistische Partei An-Nahda Umfragen zufolge in vielen Teilen des Landes klar vorn

Selbst die stolzesten Tunesier räumen ein, dass ihr Land bis zum Januar in der arabischen Welt nur eine Nebenrolle gespielt hat. Zine al-Abidine Ben Ali war zwar als strikter und effizienter Autokrat bekannt, große Beachtung schenkte man ihm im Ausland aber nicht. Mit seiner starken säkularen Tradition, Frauenrechten, einer großen Zahl von Touristen und engen Beziehungen zu Frankreich war Tunesien schon früher den Kernländern des Nahen Ostens in vielerlei Hinsicht weit voraus. In Anbetracht der direkten Nachbarn – Muammar Gaddafis Libyen und dem noch immer stark vom Bürgerkrieg gezeichneten Algerien war dies auch nicht allzu schwierig.

Trotz hoher Arbeitslosigkeit, Korruption und Vetternwirtschaft hat wohl niemand damit gerechnet, dass in Tunesien eine Revolution beginnt, schon gar nicht eine, die zum Funken für einen ganzen Arabischen Frühling wird. Jetzt steht das Land erneut im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit, denn am Sonntag gibt es die ersten freien Wahlen. Gewählt wird eine Versammlung, die eine neue Verfassung ausarbeitet und den Weg von der Diktatur hin zu einer voll funktionstüchtigen Demokratie skizziert. Der Kontrast zu anderen Ländern könnte offensichtlicher nicht sein: Blutvergießen und erbitterte Konfrontation in Syrien und Bahrain, Gewalt und Patt im Jemen, tiefe Unsicherheit in Ägypten.

Gerüchte hinter den Kulissen

„Es ist ein Versuchslauf für das, was in den anderen Ländern geschehen wird“, sagt der tunesische Politikwissenschaftler Larbi Sadiki. „Wenn Tunesien erfolgreich ist, werden die Leute dies für nachahmenswürdig halten. Wenn es scheitert? Es gibt bereits Leute, die von einem „Arabischen Herbst“ sprechen. Jüngst, bei einem Treffen mit Premierminister Beji Caid el-Sebsi, sprach Barack Obama von dem „großen Anteil“, den die USA an einem erfolgreichen Ausgang nähmen. „Tunesien ist wichtig. Es hat sich gezeigt, schon ein symbolischer Erfolg kann die arabische Welt verändern“, sagt auch der Mahgreb-Experte George Joffe.

Das Interesse in den Nachbarländern ist groß. Das wird schon allein an der Berichterstattung auf den beiden populärsten Satellitensendern al-Jazeera and al-Arabiya deutlich. „In der gesamten arabischen Welt verfolgen die Menschen genau, was in Tunesien passiert“, sagt die tunesische Journalistin Nadia Turki. Sie arbeitet für die in saudischem Besitz befindliche Zeitung al-Sharq al-Awsat. „Wenn die tunesische Revolution erfolgreich ist, könnte sie anderen als Modell dienen. Es gibt natürlich Leute, die daran kein Interesse haben, weil der Druck nach Veränderungen dadurch auch für sie größer wird." Es gibt zudem Gerüchte, das über die Regimewechsel in Tunesien und Libyen zutiefst beunruhigte Algerien sei hinter den Kulissen aktiv. Auch Frankreich und Katar wird eine diskrete Einmischung vorgeworfen.

Unsicherheitsfaktor Wahlbeteiligung

Für den renommierten libanesischen Kommentator Ahmed Asfahani liegt die entscheidende Bedeutung darin, dass es sich beim Sturz Ben Alis um das Werk ganz gewöhnlicher Menschen handelte. „Es war keine Ideologie im Spiel. Es ging nicht um Marxismus, arabischen Nationalismus oder Islamismus. Die Leute wollten Arbeit, Respekt und Würde. Es kam überraschend, denn Ben Ali war es gelungen, den Anschein von Wohlstand und Aufgeklärtheit zu erwecken, so dass den Menschen in den anderen Ländern gar nicht klar war, wie tief die Verzweiflung sitzt.“

Zu den Vorteilen Tunesiens gehört, dass es über eine relativ breite Mittelschicht, eine ethnisch und religiös homogene und gebildete Bevölkerung, eine Zivilgesellschaft mit einflussreichen Gewerkschaften, eine unpolitische Armee sowie enge Beziehungen zur früheren Kolonialmacht Frankreich sowie zu Italien verfügt. Auch wenn Tunesiens Aussichten besser erscheinen als die seiner Nachbarn, so teilt es mit diesen doch einige entscheidende Probleme. Im Zentrum wie im Süden des Landes, entfernt vom Wohlstand der Küstenregionen, ist regionale Ungleichheit ein großes Thema. Die Wahlbeteiligung nach Jahrzehnten der Diktatur und bedeutungsloser Voten bereitet vielen ebenso Sorge wie die Rolle der einst verbotenen, heute aber am besten organisierten islamistischen Partei An-Nahda (Wiedergeburt), die von Rashid Ghannouchi geführt wird. Sie wird den Umfragen zufolge mit 25 Prozent der Stimmen die Nase vorn haben und bei der Abfassung der neuen Verfassung eine entscheidende Rolle spielen. Sie betont zwar immer wieder ihre demokratische Orientierung und spricht nicht davon, die Scharia einführen zu wollen. Dennoch zweifeln viele an ihren Absichten.

Wie die Muslimbrüder in Ägypten will An-Nahda die Menschen nicht schrecken, indem sie zu schnell zu erfolgreich ist. Und wie in Ägypten könnte die wirkliche Gefahr auch in Tunesien aus einer anderen Ecke kommen: Von den Salafisten etwa oder Anhängern des alten Regimes. Die Zusammenstöße der vergangenen Woche in Tunis und Sousse sind ein Warnsignal – Salafisten protestierten gewaltsam gegen das Verchleierungsverbot an Universitäten. Ein weiteres Problem besteht in der Schwäche der neuen säkularen Parteien, von denen einige überdies mit dem Makel behaftet sind, mit Ben Ali in Verbindung gebracht zu werden.

Wer auch immer das Land letztendlich regiert, seine drängendsten Probleme werden wirtschaftlicher Natur sein. Das Wachstum ist von 4,5 Prozent vor der Revolution auf 0,3 geschrumpft – die Einnahmen aus dem Tourismus sind um 40 Prozent zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 13 Prozent.

Was in Tunesien geschieht, hat weit über seine kompakten Grenzen hinaus Bedeutung. Tunesien habe die Form verändert, die für die Politik in den arabischen Ländern einst galt, meint der algerische Experte Saad Dyebbar. „Die Jasmin-Revolution hat den Schleier der Stabilität weggerissen. Wenn der Westen wirklich daran interessiert ist, im arabischen Raum eine neue Ordnung zu schaffen, dann muss er mit Tunesien anfangen.“

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Ian Black | The Guardian

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