Argentinien sucht sich: Vom Schicksal der zwangsadoptierten Kinder
Erbe der Vergangenheit Argentinien: Von mutmaßlich 500 Kindern, die einst ihren Eltern zwischen 1976 und 1983 entrissen wurden, wissen die meisten bis heute nichts von ihrer wahren Identität. Sie kamen in die Familien von Militärs, ohne zu wissen, wer sie waren
An einem Herbstnachmittag des Jahres 1983 wurde der Kinderarzt Jorge Meijide in ein Haus in der Kleinstadt Acassuso nahe Buenos Aires gerufen. Bald zeigte sich, dass der sechsjährige Patient nur erkältet war, doch hatte Meijide das Gefühl, dass in diesem Haushalt etwas nicht stimmte. Die Frau, die behauptete, die Mutter des Kranken zu sein, erschien ihm zu alt dafür. An den Wänden hingen Fotos von einem Mann in Militäruniform, angeblich der Vater des Jungen.
Das Argentinien der frühen 1980er-Jahre kehrte nach den bleiernen Jahren der Militärdiktatur unter General Jorge Videla und anderen Obristen langsam zur Demokratie zurück. Nach dem Putsch von 1976 hatte die Junta versucht, jegliche Opposition zu zerschlagen. Am Ende waren rund 30.000 Frauen u
0 Frauen und Männer getötet worden oder spurlos verschwunden, fast ausschließlich Zivilisten. Schwangere Gefangene ließ man so lange am Leben, bis sie ihre Kinder geboren hatten, danach wurden die Mütter getötet. Mindestens 500 Neugeborene kamen in jener Zeit zu Ehepaaren mit guten Verbindungen zum Militär.1983 waren bereits mehr als 100 dieser „Adoptionen“ ans Tageslicht gekommen. Aber erst 2021 wurden entschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Kinder zu finden. Die argentinische Regierung schickte weltweit Hunderte von DNA-Tests an Konsulate des Landes, weil man viele der Betroffenen im Ausland vermutete. Ziel war es, den bisher nicht identifizierten Opfern einen Namen zu geben und die Kinder der Verschwundenen – in Argentinien „Desaparecidos“ genannt – über ihre wahren Eltern aufzuklären. Vielen von ihnen sind die bis heute nicht bekannt.Der Arzt Meijide teilte seine Beobachtungen bei der Familie des kranken Jungen den „Großmüttern von der Plaza de Mayo“ (Asociación Civil Abuelas de Plaza de Mayo) mit, die damals bereits seit Jahren nach Kindern suchten, die während der Militärdiktatur illegal adoptiert wurden. Der Arzt hatte natürlich kein Foto des Kindes zur Hand, aber als talentierter Hobbymaler konnte er ein Phantombild zeichnen. Es ging an Verwandte von Verschwundenen. Eine Frau aus Mar del Plata, deren Sohn 1977 entführt worden war, meinte, das Kind passe zu ihrer Familie. Das reichte für eine Anzeige bei den Behörden, die einen DNA-Test des Jungen verlangten. Der Militär, dessen Bild an der Wand hing, hieß Jorge Vildoza und war Marineoffizier. Als er aufgefordert wurde, vor Gericht zu erscheinen, verließ er in Panik das Land und nahm das Kind mit.Javier Penino Viñas wurde in einem Internierungslager geborenDer kleine Junge ist heute ein 45-jähriger Banker, der in London lebt. Sein Name ist Javier Penino Viñas, seine biologischen Eltern – Cecilia Viñas und Hugo Penino – wurden 1977 verschleppt. Javier, der illegal von Jorge Vildoza und seiner Frau Ana María Grimaldos adoptiert wurde, ist tatsächlich der Enkel jener Frau, die seine Gesichtszüge zu erkennen glaubte. „Nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 gab es einen Umschwung hin zur Demokratie. Bald begannen Prozesse gegen verantwortliche Militärs“, meint Javier. „Mein Adoptivvater – er hatte einen ziemlich hohen Rang in den Streitkräften – wusste, dass er Probleme bekommen würde. Deshalb wanderten wir nach Paraguay aus und legten uns schließlich eine neue Identität zu.“Javiers biologische Mutter, damals 30 Jahre alt, wurde 1977 in einem illegalen Internierungslager festgehalten. Sie und ihr Mann Hugo Penino waren in linken Gewerkschaftsgruppen aktiv, die Gegner des rechten Militärregimes waren. Am 13. Juli 1977 wurde das Paar in Buenos Aires verhaftet. Cecilia war im siebten Monat schwanger. Frauen, die am gleichen Ort gefangen gehalten wurden, bezeugten später, das Baby sei direkt nach der Geburt in die Arme des Marineoffiziers Jorge Vildoza gelegt worden. Cecilia wurde nach Aussagen mehrerer Zeugen bald darauf in jenem Internierungslager ermordet. In den Jahren des Übergangs zur Demokratie wurden Opfer wie sie in Massengräbern entdeckt oder an Argentiniens Strände gespült. Mit Drogen vollgepumpt, hatte man sie aus einem Militärhubschrauber in den Ozean gestürzt – es war die barbarische Praxis der „Todesflüge“.Der argentinische Historiker Fabricio Laino sieht bei den Adoptionen eine zynische Logik am Werk. „Die Militärs waren überzeugt, dass sie diese Kinder retten und umerziehen könnten“, erklärt er. „Sie wollten sie aus Familien herausholen, in denen sie ihrer Ansicht nach in einem subversiven Umfeld aufgewachsen wären.“Später zog der inzwischen Ex-Marineoffizier Vildoza mit seiner Frau und Javier von Paraguay weiter nach Südafrika, was Cecilias Familie die Suche nach dem Jungen erschwerte. Vildoza war von Überlebenden der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA), eines der grausamsten Foltercamps der Diktatur, schwer belastet worden. Dort hatte man Gefangene jahrelang mit Elektroschocks und Waterboarding gequält, teilweise sogar Amputationen unterzogen. Mehr als 30 Prozent der politischen Häftlinge in der ESMA waren Frauen, die häufig sexuell missbraucht und Opfer von Gruppenvergewaltigungen wurden. Nach Aussagen früherer Gefangener kam die Order zur Folter von ESMA-Leiter Rubén Chamorro wie seinem Stellvertreter, und der hieß Jorge Vildoza.Kidnapping aus Liebe?Als Javier etwa zwölf Jahre alt war, eröffnete ihm seine Adoptivmutter, dass sie und ihr Mann nicht seine leiblichen Eltern seien. „Es war ein sehr emotionaler Tag“, erzählt Javier. „Sie sagte sogar, dass sie mir helfen würde, wenn ich eines Tages herausfinden wollte, wer meine biologischen Eltern sind.“ Mit der Zeit wurde sich Javier seiner wahren Identität als Sohn von „Desaparecidos“ bewusst. „Als ich 18 war, erzählte mir mein Adoptivvater die ganze Geschichte. Wenn man so will, öffnete er sich mir gegenüber, damit ich über ihn urteilen konnte. Er schilderte mir schockierende Einzelheiten über das, was er getan hatte. Ich merkte, dass ich als Einziger in meiner Adoptivfamilie davon erfuhr – von seiner Arbeit in der ESMA und von den Todesflügen.“Ende der 1990er Jahre erfuhr Javier schließlich, dass die Familie Viñas, also die seiner leiblichen Mutter, seit fast 20 Jahren nach ihm suchte. Er traf die Entscheidung, nach Argentinien zurückzukehren, um sich einem DNA-Test zu unterziehen. „Als es dazu kam, kannte ich fast die ganze Geschichte. Ich wusste nur nicht, dass es sich bei der Familie Viñas um meine Familie mütterlicherseits handelte, weil mein Adoptivvater davon überzeugt war, sie sei es nicht.“ Dann aber beseitigte das Testergebnis letzte Zweifel. Nun war klar: Javier ist der Sohn von Cecilia Viñas und Hugo Penino. „Zum ersten Mal die Fotos meiner leiblichen Eltern zu sehen, war sehr berührend“, erinnert sich Javier. „Ich sah sofort die große Ähnlichkeit mit mir. Als ich das Testergebnis kannte, traf ich meine Großmutter mütterlicherseits und den Vater meines Vaters. Das war ein sehr erschütternder Moment, auch weil ich geglaubt hatte, der DNA-Test sei erst der Anfang meiner Suche nach mir selbst. Aber dann war sie schon vorbei, und ich hatte eine neue Familie.“Für Javier gab es allerdings auch unerwartete Folgen. Die Freude, seine wahre Familie gefunden zu haben, schlug in Verwirrung um, als ihn die Justizbehörden zur Zusammenarbeit aufforderten, um seine Adoptiveltern vor Gericht zu bringen. Javier: „Ich sagte, dass ich dazu nicht bereit sei. Gewiss verstehe ich die Suche nach Gerechtigkeit. Aber man sollte nicht erwarten, dass ich mich daran beteilige und meine Adoptiveltern quasi ausliefere. Ohne sie gäbe es mich so nicht. Sie haben mich mit Liebe aufgezogen. Dass ich plötzlich alles umstoße und erkläre: ‚Das sind böse Menschen, ich hasse sie‘ – das war eine unmögliche Forderung. Meine Adoptiveltern liebten mich sehr. Sie verließen das Land, versteckten sich und lebten mehr als 20 Jahre auf der Flucht vor Interpol.“ Javiers Reaktion ist bei Kindern von „Desaparecidos“ häufig zu beobachten. Viele von ihnen sagen, die Kidnapper hätten aus Liebe gehandelt. Oft führen sie die Beziehung zu ihren Adoptiveltern auch fort, nachdem sie die Wahrheit erfahren haben.Schwur am Grab der Ermordeten„Ihnen wurden bestimmte Werte eingeimpft“, glaubt die Leiterin der Gruppe für psychologischen Beistand bei den „Abuelas“. „Es gibt Familien, in denen die Adoptivkinder von Vätern erzogen wurden, für die alles, was die Armee ihnen sagte oder beibrachte, die oberste Wahrheit war. In diesen Fällen ist es sehr schwer, den Adoptierten klarzumachen, dass sie bei Leuten aufgewachsen sind, die direkt für den Tod ihrer wahren Eltern verantwortlich waren.“Mehr als 1.000 argentinische Folterer und Mörder wurden mittlerweile vor Gericht gestellt. In 700 Fällen kam es zu Verurteilungen. Andere Täter befinden sich weiter auf der Flucht. Dass eine Suche nach den illegal adoptierten Kindern überhaupt begann, ist den „Abuelas“ zu verdanken, die schon gegen Ende der Diktatur an die Öffentlichkeit traten. Weiße Kopftücher tragend, protestierten sie schweigend vor dem Nationalkongress und verlangten Informationen über vermisste Söhne und Töchter. Bis heute sind sie ein Symbol des Muts zum Widerstand und des Kampfes für Gerechtigkeit.Bisher wurden 132 der etwa 500 gekidnappten Kinder gefunden. Die „Abuelas“ bauten nicht zuletzt in europäischen Ländern ein Netzwerk auf und riefen eine weltweite Kampagne unter dem Motto #ArgentinaTeBusca (Argentinien sucht dich) ins Leben. Wer Zweifel an seiner Identität hat, kann die „Abuelas“ kontaktieren und im nächstgelegenen argentinischen Konsulat einen Test machen. Die Probe wird dann an die Nationale Genetische Datenbank in Buenos Aires geschickt. „Da man dort die DNA der Kinder nicht mit der ihrer verschwundenen Eltern abgleichen kann, wird auf die der Großeltern zurückgegriffen, soweit das möglich ist“, sagt Mariana Herrera, die Leiterin der Datenbank.Zum Jahreswechsel 2022/23 teilten die „Abuelas“ mit, dass sie zwei weitere „geraubte“ Kinder finden konnten, und warnten zugleich, dass man keine Zeit mehr verlieren dürfe. Es müsse schnell gehandelt werden, die Großeltern der Zwangsadoptierten würden nach und nach sterben. Die derzeitige Vorsitzende der „Abuelas“, Estela de Carlotto, ist 92 Jahre alt. „Kurz nach dem Mord an meiner Tochter Laura schwor ich an ihrem Grab, dass von nun an kein Tag mehr vergehen würde, ohne dass ich für Gerechtigkeit für sie und ihren Mann kämpfen würde. Ich schwor ihr außerdem, dass wir nach all den entführten Kindern suchen würden“, versichert sie. „Dies zu tun, ist unser Leben.“ Ihre Tochter Laura war 22, als das Militär sie 1978 tötete. Während der Haft gebar sie ihren Sohn Guido. Estela de Carlotto fand ihn 2014 – „nach Jahrzehnten in der Hölle einer nie nachlassenden Trauer“.„Ich verstehe, dass der Drang nach Gerechtigkeit und Sühne stark ist“, meint Javier. „Ich bin auch froh, dass es mir möglich war, der Wahrheit und Gerechtigkeit näherzukommen, sowohl was meine biologische Familie als auch was meine Adoptivfamilie betrifft. Aber glauben Sie mir, es war sehr hart. Hinzu kommt, dass ich 45 Jahre danach immer noch nichts absolut Sicheres über das Schicksal meiner biologischen Eltern weiß.“Placeholder authorbio-1
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