Umdenken Vor 50 Jahren entwickelte Thomas Kuhn mit "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" den oft missbrauchten "Paradigmenwechsel“. Eine Begriffsklärung
Und was, wenn man Kuhns Theorie auf Kuhn selbst anwendet?
Foto: Bill Pierce/Time Life Pictures/Getty Images
Vor 50 Jahren ist eines der einflussreichsten und am häufigsten zitierten Bücher des 20. Jahrhunderts erschienen. Seinen Autor Thomas Kuhn und den Titel Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen werden die wenigsten kennen, und doch haben Kuhns Ideen unser aller Denken geprägt: Den Begriff „Paradigmenwechsel“ werden die meisten schon benutzt oder zumindest gehört haben.
Thomas Kuhn hat im Alleingang unsere Vorstellung von der historischen Entwicklung der Wissenschaft verändert. Vor Kuhn wurde unsere Sicht der Wissenschaft von philosophischen Vorstellungen dominiert, wie diese sich entwickeln solle („die wissenschaftliche Methode“), sowie von einem heroischen Narrativ des wissenschaftlichen Fortschritts als „Hinzufügung neuer Wah
2;Hinzufügung neuer Wahrheiten zu den vorhandenen oder der fortwährenden Annäherung von Theorien an die Wahrheit nebst gelegentlicher Korrektur von Fehlern aus der Vergangenheit“, wie es in der Stanford Encyclopaedia of Philosophy heißt. Anders ausgedrückt herrschte vor Kuhn die sogenannte Whig-Interpretation der Wissenschaftsgeschichte vor, der zufolge die Wissenschaftler und Forscher vor uns den langen Marsch, wenn nicht zur Wahrheit, dann doch zumindest in Richtung eines immer größeren Verständnisses der natürlichen Welt angetreten waren.Wo die meisten einen beständigen, kumulativen „Fortschritt“ sahen, erkannte Kuhn Diskontinuitäten, abwechselnde Phasen von „Normalzustand“ und „Revolution“, in denen bestimmte Gruppen von Spezialisten auf ihren jeweiligen Gebieten Umbrüche, Unsicherheit und Angst erleben. Die revolutionären Phasen – etwa der Übergang von der Newton’schen Mechanik zur Quantenphysik – korrespondieren mit großen konzeptuellen Durchbrüchen und sind die Grundlage für eine anschließende Ruhephase, in der alles einfach seinen Gang geht. Was sich heute so selbstverständlich anhört, war 1962 höchst kontrovers, stellte es doch die mächtigen, etablierten philosophischen Annahmen in Zweifel, wie Wissenschaft funktioniert und funktionieren sollte. Und dann war Kuhn noch nicht einmal Philosoph, sondern Physiker.Unglaubliche FehlerKuhn wurde 1922 in Cincinnati geboren und studierte in Harvard, wohin er nach dem Krieg zurückkehrte. 1949 promovierte er und wäre vielleicht bis ans Ende seiner Tage bei der Quantenphysik geblieben, wenn er nicht den Auftrag erhalten hätte, einen Kurs für Studenten der Geisteswissenschaften zu veranstalten, in dem es hauptsächlich um historische Fallstudien gehen sollte. Kuhn musste dafür zum ersten Mal alte wissenschaftliche Texte genau studieren. Dabei wurde für ihn die Begegnung mit den naturwissenschaftlichen Arbeiten von Aristoteles zu einem Schlüsselerlebnis, das sein Leben und seine Karriere verändern sollte. „Ich wollte herausfinden, wie viel Aristoteles über Mechanik wusste und wie viel er Leuten wie Galilei oder Newton noch zu entdecken übrig gelassen hatte. Ich stellte jedoch schnell fest, dass Aristoteles so gut wie nichts über Mechanik wusste und außerdem ein furchtbar schlechter Physiker gewesen sein muss. Besonders seine Schriften über die Bewegung erschienen mir voll ungeheuerlicher Fehler – sowohl was die Logik als auch was seine Beobachtungen betraf.“Kuhn war auf die grundlegende Schwäche der Whig-Interpretation gestoßen. Gemessen an den Standards der gegenwärtigen Physik sah Aristoteles aus wie ein Idiot. Wir wissen jedoch, dass er keiner war. Kuhn verstand plötzlich, dass man, will man die Aristotelische Wissenschaft verstehen, die intellektuelle Tradition verstehen muss, in der er stand und wirkte. Etwa, dass für ihn der Begriff „Bewegung“ jede Art der Veränderung umfasste, nicht wie heute nur die reine Positionsänderung eines physischen Körpers. Um eine wissenschaftliche Entwicklung zu verstehen, muss man den intellektuellen Rahmen kennen, in dem ein Wissenschaftler sich bewegt.Kuhn blieb bis 1956 in Harvard und ging dann nach Berkeley, wo er Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen schrieb und 1961 eine Professur erhielt. Im folgenden Jahr wurde die Erstausgabe veröffentlicht, die Kuhn trotz ihrer 172 Seiten stets als bloßen „Entwurf“ bezeichnet hat. Die relative Kürze trug jedoch maßgeblich zum Erfolg des Buches bei. 1,4 Millionen Exemplare wurden inzwischen verkauft.Grobschlächtige ZusammenfassungKuhns zentrale Behauptung lautet, dass die Weiterentwicklung in allen wissenschaftlichen Bereichen in verschiedenen Phasen verläuft. In der ersten Phase – Kuhn nennt sie die „Normalwissenschaft“ – versuchen Wissenschaftler, die ein intellektuelles Bezugssystem (auch „Paradigma“ oder „disziplinäre Matrix“ genannt) teilen, Rätsel zu lösen, die sich aus den Diskrepanzen (Anomalien) zwischen den Vorhersagen des Paradigmas und den Ergebnissen von Beobachtungen oder Experimenten ergeben. Meistens werden diese Anomalien entweder durch marginale Änderungen des Paradigmas aufgelöst oder es werden Fehler entdeckt.Mit der Zeit jedoch häufen sich die unerklärten Anomalien, bis schließlich der Punkt erreicht ist, an dem einige Wissenschaftler das Paradigma selbst infrage stellen. Nun beginnt für die Disziplin eine Krisen-Priode: Unzufriedenheit und Kritik werden lauter geäußert. Man ist bereit, alles Mögliche auszuprobieren, debattiert die Grundlagen und geht zurück zu den philosophischen Wurzeln. Am Ende wird die Krise durch einen revolutionären Wandel der Weltsicht beendet und das unzureichend gewordene Paradigma durch ein neues ersetzt. Der Paradigmenwechsel, wie ihn der allgemeine Sprachgebrauch versteht, ist vollzogen, die Wissenschaftsdisziplin kehrt mit neuem Bezugsrahmen zur Normalwissenschaft zurück ...Diese grobschlächtige Zusammenfassung wird der Komplexität und Subtilität des Kuhn’schen Denkens zwar nicht gerecht, lässt vielleicht aber ahnen, warum sein Buch einschlug wie eine Bombe. Karl Popper, der einflussreichste Wissenschaftsphilosoph jener Zeit, wollte echte Wissenschaftler (im Gegensatz etwa zu Psychoanalytikern) daran erkennen können, dass sie versuchen, ihre Theorien zu widerlegen, statt sie zu bestätigen. Das sah Kuhn völlig anders. Seiner Meinung nach wollen Wissenschaftler für gewöhnlich als Allerletztes die in ihrem Paradigma verankerten Theorien widerlegen. Viele ereiferten sich auch über die Behauptung, die wissenschaftliche Arbeit gleiche zu großen Teilen dem Lösen eines Puzzels. Dass sie aber durchaus zutreffend ist, kann beispielsweise sehr gut am Beispiel der Suche nach dem Higgs-Teilchen beobachtet werden, dessen Existenz durch das herrschende Paradigma – das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik – vorhergesagt worden war.Die Anomalien häufen sichFür die größte Aufregung sorgte die These, verschiedene, miteinander konkurrierende Paradigmen seien „nicht vergleichbar“, es existiere keine objektive Möglichkeit, ihren relativen Nutzen zu bestimmen. Es lasse sich zum Beispiel keine Checkliste anfertigen, mit der die Vorzüge der Newton’schen Mechanik (die sich auf Billardkugeln und Planeten anwenden lässt, aber nicht auf Dinge, die sich im Inneren eines Atoms abspielen) und der Quantenmechanik (die sich mit den Vorgängen auf subatomarer Ebene befasst) gegeneinander abgewogen werden könnten. Bedeutet das dann aber nicht, dass wissenschaftliche Revolutionen einer rationalen Grundlage entbehren? Und sind Paradigmenwechsel, die wir als intellektuellen Durchbruch feiern, dann nicht lediglich die Folge psychologischer Rudelbildung?Kuhns zentraler Gedanke – das Paradigma als intellektueller Rahmen, der die Grundlage jeglicher Forschung ist – entwickelte rasch ein reges Eigenleben. Verkäufer und Wirtschaftsprofessoren griffen ihn auf, um ihren Klienten zu erklären, dass es manchmal notwendig ist, seine Weltsicht radikal zu verändern. Sozialwissenschaftler wiederum sahen in seiner Adaption eine Möglichkeit, sich Respekt und Drittmittel zu sichern, was zu ungesunden Paradigmenwechseln in Bereichen wie der Ökonomie führte, wo auf einmal die Mathematik mehr galt als das Verständnis dessen, wie das Bankenwesen funktioniert.Wie aber sieht es aus, wenn man Kuhns Theorie auf ihn selbst anwendet? Nachdem er den Wandel unseres Wissenschaftsverständnisses vom Whig- zum Kuhn-Paradigma eingeleitet hat, kann heute vieles, was auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftsphilosophie unternommen wird, als „Normalwissenschaft“ innerhalb dieses neuen Paradigmas angesehen werden. Doch die Anomalien häufen sich: Während Kuhn, ähnlich wie Popper, davon ausging, Wissenschaft bestehe in der Hauptsache aus Theoriebildung, wird ein immer größerer Teil der Forschung eher von Daten angetrieben. Und während die Physik zu Kuhns Zeiten unangefochten die Königin unter den Wissenschaften war, hat sie dieses Zepter nun an Molekulargenetik und Biotechnologie weitergereicht. Behält Kuhns Analyse auch unter diesen Voraussetzungen ihre Gültigkeit? Und wäre es andernfalls nicht Zeit für einen Paradigmenwechsel?
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