Wo im Westen von Phoenix 43nd Avenue und Thomas Road aufeinander treffen, ist das Stadtbild von derselben monotonen Abfolge von Tankstellen, Fast-Food-Restaurants, Apotheken und Kleiderläden geprägt wie in jeder anderen modernen Stadt des amerikanischen Kernlandes auch. Erst, wenn man genauer hinsieht, bemerkt man die irritierende Besonderheit: Hier steht ein Immobilienbüro leer, da hat eine Panaderia – eine Bäckerei – zugemacht, und auch der Laden für Kinderbekleidung gleich nebenan ist verschlossen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist der Eingang zu einem Handy-Laden mit Brettern vernagelt, der große Supermarkt ist ebenfalls verschwunden. In einem mexikanischen Restaurant wirbt zwar immer noch ein Schild stolz mit der Aufschrift
Arizona Panicking
USA Das neue Einwanderungsrecht des US-Bundesstaats droht, die amerikanische Gesellschaft zu spalten. Tausende Latinos verlassen in Panik das Land
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ift „Tacos seit 1975“, aber hier werden keine Tacos mehr gemacht. Auch in einem benachbarten Restaurant lädt ein Schild zur Einkehr ein: „Drive Thru Open“, doch an dem Gebäude haben bereits die Abrissarbeiten begonnen. Ein von Hand beschriebener Zettel am Eingang besagt: „Se cierra el negocio porque nos mudamos de estado“ – das Restaurant ist geschlossen, weil wir den Bundesstaat verlassen haben.Es wirkt, als verwandle sich die ganze Gegend in eine jener touristischen Geisterstädte, für die der Westen der USA berühmt ist. Aber das ist eigentlich überhaupt nicht geplant. Das hier ist das belebte Phoenix, die Hauptstadt von Arizona, und eine der am schnellsten wachsenden und dynamischsten Metropolen der USA. Ich frage Sergio Diaz, was hier vor sich geht. Ihm gehört eine Englisch-Sprachschule gleich neben Marly’s Restaurant, in der in einem Raum junge Schüler englische Verben üben. „Uns gibt es seit 2000, Ende des Monats schließen wir. 90 Prozent meiner Schüler haben keine gültigen Papiere“, sagt er und meint damit die zum Großteil aus Mexiko stammenden illegalen Einwanderer, die seine Schule besuchten. „Noch vor drei Monaten hatten wir bis zu 200 Schüler täglich, heute sind es nur noch 15. Alle gehen, oder bereiten sich darauf vor.“ Diaz sagt, seine Schüler flöhen vor dem umstrittenen neuen Einwanderungsgesetz SB 1070, das in ganz Arizona am 29. Juli in Kraft tritt. Ein Gesetz, das ein so hartes Vorgehen gegen Einwanderer ohne Aufenthaltsgenehmigung implementiert, wie es Amerika seit einer ganzen Generation nicht mehr gesehen hat. Es hat Arizona zur Speerspitze einer landesweiten Kampagne gegen Einwanderung gemacht, mit der die einzelnen Bundesstaaten gegen die Obama-Regierung und Weiße gegen Latinos aufgehetzt werden sollen.Die Stimmung ist umgeschlagenIm Zentrum dieser Kampagne stehen ungefähr zwölf Millionen als illegal bezeichnete Einwanderer, die meisten von ihnen Mexikaner, die bereits in den USA leben und arbeiten, 500.000 von ihnen in Arizona. Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg haben sie sich zu einem festen Bestandteil des amerikanischen Alltags entwickelt, sich ein Zuhause aufgebaut, Familien gegründet und die schlecht bezahlten Arbeiten verrichtet, die nur wenige Amerikaner anzunehmen bereit sind. Bislang waren sie weitgehend toleriert und existierten knapp unter der Oberfläche der amerikanischen Öffentlichkeit: Sie schickten ihre Kinder zur Schule, bezahlten Steuern und kamen nur dann mit der Polizei in Konflikt, wenn sie schwerwiegende Straftaten verübt hatten. Verletzungen der Einwanderungsgesetze wurden bislang grundsätzlich eher als zivilrechtliche, denn als kriminelle Angelegenheiten betrachtet.Aber in den vergangenen Monaten ist die Stimmung umgeschlagen, und dies nirgends so sehr wie in Arizona, über dessen Grenze zu Mexiko die meisten Mexikaner ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in die USA einreisen. Der sich auf mexikanischer Seite ausweitende Drogenkrieg, im Zuge dessen im April auch ein Beamter der Polizei von Arizona erschossen wurde, hat die weiße Bevölkerung gegen die Einwanderer aus dem Süden aufgebracht. In den Medien wurde breit über alle mit dem Drogenkrieg zusammenhängenden Vorkommnisse berichtet.„Wollt ihr etwa die Polizei rufen?“Die Forderungen von Politikern nach einer besseren Sicherung der Grenzen und einer verstärkten Rückführung illegaler Einwanderer führte schließlich zur Verabschiedung von SB 1070, das die nicht gemeldeten Bewohner Arizonas de facto zu Kriminellen stempelt, für die fortan nun die Polizei und nicht mehr, wie bislang, die Einwanderungsbehörden zuständig sind. Jeder, dessen Papiere nicht den Vorschriften entsprechen, kann nun im Verdachtsfall überprüft und schnell abgeschoben werden, sobald er beispielsweise wegen eines defekten Bremslichtes mit der Polizei in Berührung kommt. Schwierigkeiten kann auch jeder bekommen, der einer nicht-registrierten Person hilft, sei es, indem er ihr eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt oder ihr auch nur etwas zu essen gibt oder sie im Auto mitnimmt.Lydia Guzman, eine Gemeindearbeiterin bei Somos America – einem Verbund von Gruppen lateinamerikanischer Einwanderer in Phoenix – sagt, die Stimmung innerhalb der Latino-Familien habe sich im Laufe der vergangenen zwei Monate vor dem Inkrafttreten des Gesetzes stark verändert: „Panik hat eingesetzt.“ Auch unter den weißen Amerikaner ist die Stimmung umgeschlagen. Viele von ihnen haben die zunehmend aggressive Sprache der Politiker als Freifahrtschein verstanden, ihre eigenen Ressentiments zum Ausdruck zu bringen. Gängelungen von nicht-registrierten Latinos durch Arbeitgeber, Vermieter und Nachbarn haben zugenommen. Wenn die Opfer protestieren, werden sie häufig mit dem Satz verspottet: „Na, und was wollt ihr dagegen machen, etwa die Polizei rufen?“Extreme MetaphernDie Feindseligkeit hat ein solches Ausmaß angenommen, dass Guzman sich einer extremen Metapher bedient – sie sagt, eine „Gestapo-Community“ formiere sich da gerade. „Erst vergangene Woche erzählte uns eine Familie, dass die Nachbarn, die sie seit zehn Jahren kennen, sie bei der Polizei angezeigt haben, weil ihr Hund zu viel belle. Der Vater wurde vor den Augen seiner drei Kinder verhaftet.“ Bereits zwei Woche vor Inkrafttreten des Gesetzes machten sich Tausende daran, Arizona zu verlassen. Auch Sandra Soto hat bereits in der ersten Juliwoche ihre Koffer gepackt und die Stadt, in der sie 20 Jahre lang gelebt hat, in Richtung New Mexico verlassen. Sie, ihr Mann und zwei ihrer Kinder haben Papiere, nur das dritte Kind nicht. Doch das genügte, damit sie nur noch weg wollte. Davon abgesehen sei das allgemeine Klima zu unfreundlich geworden, sagt sie. „Es spielt keine Rolle, dass ich rechtmäßig hier bin. Das erste, nach dem man mich dieser Tage fragt, sind meine Papiere – nur, weil meine Haut ein wenig dunkler ist, weil ich Lateinamerikanerin bin. Das ist alles, was sie sehen.“Stephanie ist Mitglied bei der hispanischen Community-Gruppe Puente. Ihre erweiterte Familie besteht aus 20 bis 30 Leuten. Viele haben Papiere, einige nicht. Vor kurzem wurde eine ihrer Nichten von Einwanderungsbeamten mitgenommen und eine ganze Woche lang in Gewahrsam gehalten. Einer ihrer Neffen, der in Phoenix gelebt hat, seit er ein Baby war, wurde vergangenen Monat nach Mexiko abgeschoben – ein Land, das er kaum kennt. „Wir haben uns an jede einzelne Regel in dieser Stadt gehalten, um zu zeigen, dass wir gute Bürger sein können. Ich habe zwei Jobs gleichzeitig gemacht, am Tag und in der Nacht Hotels sauber gemacht – mit die härteste Arbeit, die es gibt. Aber sie sagen, wir würden versuchen, sie zu bestehlen.“Ein Schnitt ins eigene FleischMeinungsumfragen haben ergeben, dass mehr als zwei Drittel der Einwohner Arizonas das neue Gesetz gutheißen. Weiße Wähler rechtfertigen das rigorose Vorgehen mit der Behauptung, illegale Einwanderer seien für eine Welle von Gewaltverbrechen verantwortlich, obwohl der Staat, abgesehen von den Straftaten, die zum überwiegenden Teil die Drogenkartelle unter sich ausmachen, eine Periode relativ geringer Kriminalität erlebt. Ebenfalls wird behauptet, illegale Einwanderer strömten in Rekordzahlen über die Grenze, dabei sind die Zahlen seit zehn Jahren rückläufig.„Sie nehmen uns unsere Jobs weg“, lautet eine weitere Anschuldigung. Dabei haben Untersuchungen des Morrison Institute for Public Policy an der Arizona State University gezeigt, dass papierlose Einwanderer durch die Steuern, die sie auf ihre Löhne und Anschaffungen zahlen, Arbeitsplätze schaffen und den öffentlichen Dienst stärken.Oder nehmen wir die Schulen. Es wird zwar vor Beginn des neuen Schuljahres keine genauen Zahlen geben, aber bereits jetzt deutet alles darauf hin, dass viele aus Lateinamerika stammende Familien ihre Kinder von den Schulen in Phoenix nehmen und sich darauf vorbereiten, das Land zu verlassen. Fallende Schülerzahlen werden die Finanzierung der Bildungsausgaben kollabieren lassen, da das Geld dahin fließt, wo das Kind zur Schule geht. Dies hat zur Folge, dass die Qualität der Erziehung für alle Kinder sinken wird, auch für die der weißen Amerikaner. Auch Talente werden vergeudet. Der 23-jährigen Silvia Rodriguez wurde für das kommende Jahr ein Studienplatz in Harvard angeboten, um dort Geisteswissenschaften und Pädagogik zu studieren. Sie lebt in Phoenix, seit sie zwei Jahre alt ist, aber weil sie nicht den Status eines legal resident hat, hat sie keinen Anspruch auf ein Stipendium und muss die Studiengebühren selbst zusammenbringen.Zunächst war sie recht erfolgreich damit, das Geld über Stiftungen und Spendensammler zusammenzubekommen, aber vor ein paar Wochen versiegte die Unterstützung. „Die Leute haben Angst, weil man nach dem neuen Gesetz keinem ohne Papiere helfen darf“, sagt sie. Jetzt fürchtet sie, dass sie die 23.000 Dollar nicht mehr zusammenbringen wird, die ihr noch fehlen und auf die Chance verzichten muss, an Amerikas renommiertester wissenschaftlicher Einrichtung zu studieren.Ein Gesetz, das Freiheit raubtAll diese Beispiele legen nahe, das Arizona sich mit der Einführung von SB 1070 ins eigene Fleisch schneidet. Aber es gibt auch Menschen, die das Gesetz aus grundsätzlicheren Gründen ablehnen als dem puren Eigeninteresse. Die weiße Amerikanerin Bobbie aus Ohio glaubt, dass das Gesetz den Amerikanern eben jede Freiheit raubt, die das Land groß gemacht hat. Bobbie ist seit elf Jahren mit Roberto [Name geändert] aus Oaxaca verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat, die beide die US-amerikanische Staatsangehörigkeit haben. Roberto ist nicht gemeldet. Im vergangenen Jahr wurde er bei einer Razzia an seinem Arbeitsplatz in Phoenix aufgegriffen und nach Mexiko abgeschoben. Im vergangenen Juli war das Bedürfnis, seine Familie wieder zu sehen, so groß, dass er sich zu Fuß aufmachte, die lebensgefährliche Grenze nach Arizona zu überqueren. Vier Tage lang ging er ohne einen Tropfen Wasser in sengender Hitze. Als Bobbie nichts von ihm hörte, glaubte sie, er sei tot.„Ich habe gebetet und gebetet, habe Kerzen über seinem Bild angezündet und noch mehr gebetet.“ Dann rief er an und sagte, er habe es geschafft. Bobbie holte ihn zurück nach Phoenix, seitdem lebt er wieder mit seiner Familie zusammen. Doch das Leben, das er jetzt führt, ist nur ein halbes. „Er ist hier wie ein Gespenst. Er hat Angst. Wir gehen nicht einkaufen und machen keine Familienausflüge zusammen. Wenn das neue Gesetz in Kraft tritt, werde ich ihn auf dem Rücksitz unseres Wagens verstecken müssen, um ihn zur Arbeit zu schmuggeln.“Bobbie, die 31 Jahre in Phoenix gelebt hat, spart jetzt, um Arizona verlassen und nach Las Vegas oder Florida ziehen zu können. Sie empfindet das, was gerade geschieht, als Verletzung ihrer Rechte als Amerikanerin. „Sie sagen mir, wen ich heiraten kann und wen nicht. Meine Kinder sind Amerikaner, sehen aber trotzdem aus wie Latinos – werden also auch sie angehalten und ausgefragt werden? Es kommt mir vor, als würde ich nicht länger in Amerika leben.“ Autumn Rose, die Tochter von Bobbie und Roberto, die in den USA geboren wurde und mittlerweile neun ist, mischt sich in die Unterhaltung ein. „Als mein Papa weggegangen ist, hatte ich das Gefühl, er würde niemals zurückkommen. Aber als er dann doch zurückkam, war das wie ein Wunder.“ Dann wendet sie sich an Bobbie und sagt: „Wenn er noch mal weggeht, will ich mit ihm gehen. Es ist mir egal, wenn du nein sagst ... Ich werde mit ihm gehen, um ihn zu beschützen.“
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