In der Redchurch Street gibt es einen Laden, in dem altmodische Haushaltswaren wie Emailletöpfe und hölzerne Scheuerbürsten zu neumodischen Preisen verkauft werden. Hier im Ostlondoner Bezirk Shoreditch sind Gebrauchsgegenstände der Arbeiterklasse zu Objekten der Begierde für die Mittelschicht geworden. Ein paar Türen weiter gibt es ein Café und eine Konditorei, Kunstgalerien, eine teure Boutique mit einem Kino im Keller und einen Laden, der echte und gefälschte Antiquitäten spielerisch miteinander mischt und anbietet.
Es ist von hier nur ein Croissantwurf bis zu der Gegend, in der sich früher der Old Nichol befand, einst der miserabelste Slum von ganz East London. Denn es gab eine Zeit, da war diese Gegend noch weltberühmt für ihre Elendsqartiere. In der Redchurch Street aber kann man besonders gut sehen, wie sehr das East End in den letzten Jahren aufgewertet wurde. Heute empfinden die Londoner das einst finstere East End als einen Ort der Möglichkeiten. Es ist die Nachbarschaft, in der auch ein Großteil der olympischen Sportstätten entstanden ist. Allerdings: Die Frage, ob mit den Spielen auch mehr Möglichkeiten für die Bewohner entstehen, ist noch völlig offen.
Rushanara Ali sitzt für den Bezirk Bethnal Green and Bow im britischen Unterhaus. Sie stammt von hier und erinnert sich noch gut daran, wie sehr sie sich in den Achtzigern und frühen Neunzigern immer über Journalisten geärgert hat: „Jedes Mal, wenn man eine Zeitung in die Hand nahm, stand darin entweder etwas darüber, wie heruntergekommen die Gegend sei oder etwas über Rassismus. Heute hat East London ein positiveres Image.“ Als Ali Mitte der Neunziger an die Uni ging, „erschraken die Leute, wenn ich ihnen erzählte, woher ich komme. Als ich dann meinen Abschluss machte, zogen einige von diesen Leuten dann selbst in die Gegend.“
Die schicken Coffee-Shops in der Redchurch Street aber sind nur ein Teil der gewaltigen Veränderungen, die sich im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte im East End vollzogen haben – einem großen Gebiet mit nur sehr ungenau definierten Außengrenzen. Den Kern aber bilden die Quartiere Whitechapel, Bethnal Green and Bow. Oder zumindest stammen von hier die berühmtesten East End-Geschichten – die Gegend gehört wohl zu den weltweit am stärksten mythologisierten urbanen Gebieten.
Durch den Hafen ist das East End seit jeher ein Ort der Ankunft, und es dauert, wenn man hier mit Leuten spricht, nie lange, bis jemand die Einwanderungswellen aufzählt: Hugenotten, Juden, Chinesen, Bangladeshis, Somalier. Wahrscheinlich wurde das Viertel deshalb immer wieder als das Andere, als geheimnisvoll und bedrohlich wahrgenommen. Unbekanntes überzieht man gern mit Stereotypen.
Gleichzeitig wurde hier immer wieder mit großer Geste von außen eingegriffen. Die Olympischen Spiele stellen dabei nur den letzten gut gemeinten, aber kolonialen Eingriff dar. So wurde schon im frühen 18. Jahrhundert eine Reihe von Kirchen von außergewöhnlicher Erhabenheit nach den Entwürfen von Nicholas Hawksmoor erbaut, um die Massen zu erleuchten und sie vor Atheismus und konkurrierenden Sekten zu bewahren. Die Sozialwohnungsanlage Boundary Estate sollte den Lebensstandard ebenso heben wie das moralische Verhalten.
Eine koloniale Geste
Als vor 30 Jahren die Docks geschlossen wurden und viele Arbeitsplätze im Hafen verloren gingen, machte sich die London Docklands Development Corporation (LDDC), eine Erfindung der Regierung Thatcher, hier breit und versuchte gezielt, Gewerbe und Unternehmen mit Steuer- und Mietanreizen anzulocken. Wahrscheinlich wollte man eigentlich nur Kleinunternehmen und Händler in die Gegend bringen, aber die Sache geriet außer Kontrolle. Diese Initiativen führten zusammen mit der Deregulierung der Finanzmärkte zur Entstehung einer strahlenden Business City von unvorstellbaren Ausmaßen: Canary Wharf, jener gigantische Bürokomplex, in dem die höchsten Gebäude Großbritanniens stehen.
Es dauerte eine Weile, bis hier Mieter einzogen, die auch die hohen Mieten bezahlen konnten. Zuerst kamen Zeitungen wie der Daily Telegraph und der Independent. Schließlich zogen Unternehmen wie HSBC, Barclays, Citigroup and JP Morgan ein, was dazu geführt hat, dass Canary Wharf eine Art Synonym für den Londoner Finanzdistrikt geworden ist.
Iwona Blazwick leitet die Whitechapel Gallery. Sie erzählt, dass heute mehrere Tausend Künstler hier wohnen. Tracey Emin, Rachel Whiteread und Cornelia Parker. „Künstler“, sagt Blazwick, „können aus dem, was sie vorfinden, oft das Beste machen. Sie geben der Schäbigkeit einen gewissen Glanz. Sie sind zum Beispiel in die Beck Road in Hackney gezogen, wo die Müllhaufen in den Gärten so hoch waren wie die Gebäude selbst.“ Danach kamen Mittelschichtler, die sich Eigentumswohnungen kauften. Normalerweise nennt man das „Gentrifizierung“, aber für Iwona Blazwick ist der Begriff zu negativ: „Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem wir leben können. Es ist eine Wohltat, eine Straße entlanggehen zu können, in der es keine Ratten und keinen Müll gibt.“
Rushanara Ali, die mit sieben aus Bangladesch nach London gekommen ist, erinnert sich an extreme Spannungen zwischen den Communitys, an die Feindseligkeit, die ihr damals überall begegnet ist. Ein Bengale sei einmal aus Fenstern heraus mit Milchflaschen beschmissen worden. 1993 kam eine Gruppe Weißer aus einer Kneipe in der Commercial Road, schlug einen asiatischen Studenten zusammen und ließ ihn mit einer Gehirnverletzung liegen. Die Polizei war nicht in der Lage, die Täter zu überführen. Ali glaubt jedoch, dass die Atmosphäre seit Mitte der Neunziger besser geworden ist: „Jetzt kann hier jeder wohnen, auch wenn es in manchen Gegenden nach wie vor Spannungen gibt.“
Die Geschichte Ostlondons und der wiederholten Eingriffe von außen – der Blitz, wie die Briten die deutschen Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs nennen, traf das East End in ganz besonderem Maße, die Stadtsanierung, das LDDC – kann man heute an der disparaten Bausubstanz ablesen, die sich hier findet. Ziegelhaussiedlungen wechseln sich mit Sozialwohnungen ab, verlassene Industriebrachen werden nur notdürftig wiederbelebt. Canary Wharf erhebt sich auffällig zusammenhangslos wie eine Insel des Wohlstandes aus einer immer noch schmuddeligen Umgebung. Relikte von Philanthropie und Ausbeutung bestehen nebeneinander fort. Reste der riesigen Hafenmauer, ursprünglich ein Bau aggressiver Ausgrenzung, zeugen von der Vergangenheit. Es mangelt an Einheit, Kontinuität und an Verbindendem.
Die Olympischen Spiele haben diesem Flickenteppich weitere disparate Elemente hinzugefügt: Die urbane Integration des Stadions, des Schwimmzentrums, des Velodroms, des olympischen Dorfs und des Orbit-Tower stehen noch aus. Es mangelt an erkennbarem Willen, etwas Zusammenhängendes, Ganzes zu gestalten. In der entgegengesetzten Richtung, in der Mile End und Whitechapel Road, stehen die Dinge etwas besser, da die English Heritage in die Restauration historischer Straßenzüge investiert und darauf geachtet hat, dass Leuchtreklamen durch handbeschriebene Schilder ersetzt wurden.
Auch Parks und Bürgersteige wurden mit Bedacht, wenn auch mit zu wenig finanziellen Mitteln ausgebessert. Diese Projekte gehören zu der sogenannten High Street 2012, wie die Route von der Innenstadt hin zum Olympiagelände genannt wird. Man wollte die Marathonstrecke etwas herausputzen und zeigen, dass die Spiele, wie versprochen, etwas für die heruntergekommenen Kieze leisten. Schließlich aber hat man sie dann doch in die schickeren Viertel verlegt.
Ein heterogener Stadtteil
Die zusammengewürfelte Architektur ist ein Spiegelbild des sozialen Gefüges. East London bietet seinen unterschiedlichen Bewohnern sehr verschiedene Erfahrungen. Es gibt nicht viel Kontakt zwischen den neu ankommenden Einwanderern aus Bangladesch, den alteingesessenen weißen Arbeitern, den zugezogenen Mittelschichtlern, den Bankern von Canary Wharf und den Kreativen aus Shoreditch.
Das größte Thema ist, wie überall in London, Wohnraum. Steigende Mieten und eine Politik, die das Eigenheim favorisiert, machen es zunehmend schwierig, erschwingliche Wohnungen zu finden. „Auf der Warteliste des Bezirks Tower Hamlets stehen 20.000 Leute“, sagt Ali. „Die Überbelegung ist gravierend. Zu mir kommen Leute, weil sie zu sechst oder siebt in einer Zweizimmerwohnung leben.“ Es gibt nicht viele Anzeichen dafür, dass die Politik daran etwas ändern würde.
Das Sinnbild von Erfolg und Misserfolg im modernen East End ist Canary Wharf. Hier wurden Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen, hier wurde dafür gesorgt, dass eine Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs entstanden ist, die noch vor 30 Jahren kaum existiert hat. Sir George Iacobescu, Chef der Eigentümer- und Betreibergesellschaft Canary Wharf Group betont gerne, wie sich die ganze Gegend zum Positiven verändert hat: „Sie würden nicht glauben, wie viele Leute früher gesagt haben, sie würden nie auf die östliche Seite der Tower Bridge gehen. Da hat eine gewaltige Veränderung stattgefunden.“
Gleichzeitig aber kann man den Gegensatz zwischen einem gigantischen Reichtum in seinem Inneren und der Armut wenige Straßen weiter schwer ignorieren. Iacobescu sieht diesen Kontrast auch, meint aber, es bedürfe nun mal viel Zeit und Anstrengung, um eine Gegend wirklich zu verändern. „Der Hafen war das Herz der Gegend, und dieses Herz hörte auf zu schlagen. Wir waren eine Herztransplantation. Die positiven Effekte sickern nicht einfach durch, man muss eine Verbindung schon aktiv herstellen“, sagt er.
Rushanara Ali sagt, Iacobescu habe das Herz am richtigen Fleck, aber er könne seinen Mietern nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hätten: „Es ist ziemlich skandalös, dass die Mieter sich so wenig Mühe geben, Absolventen aus der Gegend einen Job zu verschaffen.“ East London habe eine der höchsten Raten an Hochschulabsolventen im ganzen Land, und wenn die Finanzunternehmen mehr von ihnen einstellen wollten, „dann bräuchten sie es nur zu tun.“
So sind auch hier, wie so oft, nicht die ärmeren Bewohner die Nutznießer eines Projekts, das eigentlich ins Leben gerufen wurde, um deren Chancen zu verbessern. Man kann nur hoffen, dass nach den Olympischen Spielen die Zeit der rhetorischen Gesten vorübergehen wird und weniger glamouröse, konkretere und praktischere folgen werden. Wirklich zu erwarten ist das freilich nicht.
Rowan Moore ist britischer Architekturkritiker und schreibt für den Guardian
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