Für die in China regierende Kommunistische Partei hätte der Zeitpunkt nicht ungünstiger sein können. Die bemerkenswerte Flucht eines der bekanntesten Menschen- und Bürgerrechtsaktivisten, dem blinden Anwalt Chen Guancheng, aus dem Hausarrest vereint alle Elemente eines Polizei-Thrillers. Sein erstaunliches Auftauchen auf Youtube hat all das in Erinnerung gerufen, was die Propagandamaschinerie der Partei in den zurückliegenden Wochen herunterzuspielen suchte: Willkürliche Festnahmen, Machtmissbrauch und fehlenden Rechtsschutz.
Die Pro-Regierungs-Medien haben sich diese Woche an die Maßgabe der Partei gehalten, dass nach dem spektakulären Sturz des Parteisekretärs Bo Xilai und der Festnahme seiner Frau wegen des Verdachts, den britischen Geschäftsmann Neil Heywood ermordet zu haben, alles ruhig, verfassungsgemäß und gesetzestreu ablaufe. So warf die Global Times westlichen Medien Mitte vergangener Woche vor, sensationslüstern über die Geschichte zu berichten, die sich wiederholt einer effektiven Kontrolle der Regierung zu entziehen drohte: „Westliche Enthüllungsversuche können nicht zuverlässiger und detaillierter sein, als die Ermittlungen der Zentralregierung. Die vernünftige Herangehensweise sollte sein, die Endergebnisse abzuwarten und den Fall Bo auf Grundlage verlässlicher Informationen zu bewerten“, riet die Zeitung.
Doch die Beteuerungen der Integrität des chinesischen Rechts wurden inzwischen von einem anderen Fall zum Platzen gebracht. Xie Yalong, der derzeit wegen Spielmanipulation und Akquise von Bestechungsgeldern vor Gericht stehende ehemalige Chef des chinesischen Fußballverbandes, warf der Polizei der Provinz Liaoning vor, durch Folter ein Geständnis von ihm erzwungen zu haben. Die Polizei wurde zu einer wenig überzeugenden öffentlichen Stellungnahme genötigt, in der sie die Vorwürfe abstritt und ihrerseits Xie beschuldigte, die Öffentlichkeit irrezuleiten.
Bloß 24 Stunden später wurde bekannt, dass der Anwalt Chen Guancheng am 22. April im Schutz der Dunkelheit seinen Wachen entkam, um dann auf YouTube zu schwören, dass er in China bleiben und für die Freiheit seiner Familie kämpfen werde. Der 41jährige Christ ist schon lange eine Cause célèbre für Menschenrechtsaktivisten. Seit seiner Kindheit blind, eignete er sich selbst so viel juristisches Wissen an, dass er für Frauen kämpfen konnte, die von diensteifrigen Beamten zur Durchsetzung der Ein-Kind-Politik zur Abtreibung genötigt wurden.
In gemeinsamer Haft
Chens Kampagne zeigte zwar Wirkung, er selbst aber wurde 2006 wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und befand sich seit seiner Haftentlassung 2010 in seinem Heimatdorf in der Provinz Shandong unter Hausarrest. Diese Form des Freiheitsentzugs ist Teil von Maßnahmen der Justiz, die in China häufiger gegen Menschenrechtsanwälte eingesetzt werden. Weiterhin zählen dazu das Verschwinden-lassen von Personen sowie der Entzug der Berufszulassung. Anwälte, die der Regierung unliebsame Fälle übernehmen – etwa die Verteidigung von Anhängern der Falun Gong-Bewegung – finden sich schon einmal in gemeinsamer Haft mit ihren Klienten wieder.
Seit Chen aus dem Gefängnis entlassen wurde, ließen die Behörden ihn schwer bewachen, um ihn zu isolieren und zum Schweigen zu bringen. Nun hat er dem Staat öffentlich Folter vorgeworfen: „Meine Mutter, meine Frau, mein Kind befinden sich noch in ihren Fängen“, sagte er und rief Premier Wen Jiabao auf, seine Familie vor der „wahnsinnigen Rache“ der Sicherheitskräfte zu schützen.
Chens Aufenthaltsort bleibt geheim. In einem Interview mit dem Wall Street Journal hat Bob Fu, Präsident der in Washington ansässigen Menschenrechtsgruppe ChinaAid bestätigt, dass Chen am 22. April entkommen sei und sich nun an einem „hundertprozentig sicheren Ort" in Peking befinde.
Möglicherweise hat er Unterschlupf beim christlichen Untergrund in China gefunden. Möglicherweise befindet er sich auch unter dem Schutz der US-Regierung: Die US-Botschaft in Beijing wollte sich nicht zu Berichten äußern, dass er dort Zuflucht gesucht habe. Im Februar war Wang Lijun, der ehemalige Polizeichef der Stadt Chongqing ins US-Konsulat von Chengdu geflohen und hatte den bis heute anhaltenden Bo-Xilai-Skandal ausgelöst. Das Asyl wurde ihm allerdings verwehrt. Sollte Chen sich unter dem Schutz der USA befinden, werden die unter Druck stehen, dem gefeierten Verteidiger der Menschenrechte mehr Wohlwollen entgegenzubringen, als einem Polizeichef, dem selbst vorgeworfen wird, seine Opfer zu foltern.
Wie auch immer, der Fall Chen wird wohl peinlich bleiben für die chinesische Regierung, die sich ihrerseits im Griff eines Machtkampfes befindet: Präsident Hu Jiantao bereitet sich darauf vor, Ende 2012 gemeinsam mit sechs Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des Politbüros zurückzutreten. Hus politisches Motto war und ist das der „harmonischen Gesellschaft“.
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