David Pollens betreibt in Manhattan eine bescheidene Erdgeschosspraxis auf der Upper East Side, also in einer Gegend, deren Therapeutendichte weltweit wohl nur noch die Gegend genau auf der anderen Seite des Central Park toppen könnte, die Upper West Side. Pollens, Anfang 60, lichtes Silberhaar, sitzt auf einem Lehnstuhl am Kopfende der Couch, auf der seine Patienten sonst liegen: den Kopf von ihm abgewandt, damit sie ihre Ängste oder Fantasien besser erkunden können. Viele kommen mehrmals in der Woche hierher, manche über Jahre. Die Erfolgsbilanz des Psychoanalytikers kann sich sehen lassen. Er kuriert Angststörungen, Depressionen und andere Seelenleiden bei Erwachsenen und Kindern.
Im Gespräch mit ihm taucht man gleich in diese ganz eigene Freud’sche Sprache ein, „Widerstand“ und „Neurose“, „Übertragung“ und „Gegenübertragung“. Pollens strahlt eine warmherzige Neutralität aus. Man kann sich gut vorstellen, ihm intimste Geheimnisse anzuvertrauen. Wie in seiner Zunft üblich, sieht er sich als Archäologe in den Katakomben des Unbewussten: einer, der das verborgene Wirken des Sexualtriebs ans Licht bringt, den Hass auf jene, die wir zu lieben glauben, und andere unappetitliche Wahrheiten über uns selbst – von denen wir oft nichts wissen wollen.
Allerdings dominierte in den vergangenen Jahrzehnten die Ansicht, Pollens und seine psychoanalytischen Mitstreiter stünden auf der falschen Seite der Geschichte. Zum einen galt Freud als widerlegt: Kleine Jungen begehren nicht ihre Mutter und haben keine Angst, dass ihr Vater sie kastriert; heranwachsende Mädchen verspüren keinen Penisneid. Es, Ich und Über-Ich konnten bisher auch bei keinem Hirn-Scan verortet werden. Die Praxis, Patienten saftige Honorare dafür zu berechnen, dass sie jahrelang über ihre Kindheit nachgrübeln – und jeden Einwand ihrerseits als „Widerstand“ zu kategorisieren, der weitere Psychoanalyse erforderlich mache –, erschien vielen daher als Humbug. „Kaum eine andere große Gestalt der Geschichte lag so falsch mit so gut wie allem, was sie dachte“, stänkerte der Philosoph Todd Dufresne über Freud. Und schon 1975 nannte Medizin-Nobelpreisträger Peter Medawar die Psychoanalyse „die erstaunlichste Bewusstseinstäuschung des 20. Jahrhunderts“.
Gedanken-Diagramme
Im Gefolge von Freud entstand ein Wust von Therapien, wobei die Psychologen vor allem um eine festere empirische Grundlage für ihre Arbeit bemüht waren. Doch von all diesen Ansätzen – darunter humanistische, interpersonelle und transpersonale Therapie, Transaktionsanalyse und so weiter – setzte vor allem einer sich durch: die kognitive Verhaltenstherapie. Als betont bodenständige Behandlungsweise beschäftigt sie sich nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Gegenwart. Nicht mit verborgenen Trieben, sondern damit, wie sich Denkmuster ändern lassen, die negative Gefühle hervorrufen. Im Kontrast zu den mäandernden Gesprächen der Psychoanalyse besteht eine typische verhaltenstherapeutische Übung darin, ein Diagramm mit verunsichernden „automatischen Gedanken“ zu erstellen, die einen bei jedem kleinen Rückschlag heimsuchen.
Vor allem Linke beargwöhnten die Verhaltenstherapie stets, weil sie ein Lieblingskind von Spar-Politikern war: zum einen billig, zum anderen darauf ausgerichtet, Patienten schnell wieder zu voller Arbeitsleistung zu bringen. Doch auch wer ideologische Vorbehalte hatte, zweifelte selten die Wirksamkeit der Methode an. Seit sie in den 1960ern aufkam, haben so viele Studien ihre Erfolge bestätigt, dass heute der Begriff „empirisch gestützte Therapien“ meist gleichbedeutend ist mit Verhaltenstherapie. Sie gilt als die einzige psychologische Behandlungsform, die auf Fakten beruht.
Doch ganz verstummt ist die abservierte alte Garde der Psychoanalytiker nie. Sie vertritt eine grundsätzlich andere Sicht darauf, warum wir leiden – und wie wir inneren Frieden finden können. Die Verhaltenstherapie zielt darauf ab, schmerzhafte Gefühle auszuschalten oder erträglich zu machen. Eine Depression wäre demnach wie ein Tumor: Es mag sinnvoll sein, zu wissen, woher die Depression kommt, aber viel wichtiger ist es, sie loszuwerden. Die Ursachen unserer Probleme sind irrationale Überzeugungen, und es steht in unserer Macht, diese Überzeugungen zu ändern, sagt die Verhaltenstherapie. Wenn wir das schaffen, sind wir glücklich.
Die Psychoanalyse sieht die Dinge viel komplizierter. Als Erstes gelte es, seelische Leiden nicht zu beseitigen, sondern sie zu verstehen. Aus dieser Perspektive ist eine Depression weniger wie ein Tumor, eher wie ein stechender Bauchschmerz – der sagt uns etwas, und wir müssen herausfinden, was. Auch mit dem Glück ist es nicht so einfach, denn wir kennen uns selbst nicht besonders gut. Unsere Sicht auf das Leben ist von unseren frühesten Bindungen geprägt, was wir uns aber kaum klarmachen. Unsere Wünsche sind zutiefst widersprüchlich, unser Bewusstsein ist nur eine kleine Insel in einem dunklen Ozean.
Die Mahnrufe der Analytiker stießen aber auf taube Ohren, solange eine Studie nach der anderen die Überlegenheit der Verhaltenstherapie zu bestätigen schien. Im vergangenen Mai stellte nun eine neue, übergreifende Untersuchung aus Norwegen ebendiese Resultate infrage. Das Forscherteam kam zu dem Schluss, dass gerade bei Depressionen die Verhaltenstherapie langfristig kaum wirkt. Die sogenannte Effektgröße – eine Maßzahl, um den Nutzen einer Therapie zu ermitteln – hat sich seit 1977 um die Hälfte verringert. Hat die Verhaltenstherapie die ganze Zeit von einem Placebo-Effekt profitiert und war nur so lange wirksam, wie die Leute sie für ein Wundermittel hielten?
Im Oktober legten britische Forscher nach, mit der ersten Langzeitstudie des National Health Service über Psychoanalyse als Behandlungsverfahren bei chronischen Depressionen. Bei schwer depressiven Patienten wirken 18 Monate Analyse demnach weit besser und dauerhafter als das Standardrezept des Gesundheitsdienstes, das den Schwerpunkt auf Verhaltenstherapie legt. Zwei Jahre nach Abschluss der verordneten Behandlung entsprachen 44 Prozent der Analyse-Patienten nicht mehr dem Kriterium „schwer depressiv“, bei der Standardtherapie waren es nur 10 Prozent. Und Wirtschaftsprüfer in Schweden stellten fest, dass ein millionenschweres Programm, mit dem die Regierung die psychologische Versorgung in Richtung Verhaltenstherapie umgekrempelt hatte, ein kompletter Fehlschlag war.
Auf Sand gebaut
Die Hinweise häufen sich also, und die Psychoanalytiker treten wieder aus dem Schatten. Nicht nur sei die Vorherrschaft der Verhaltenstherapie auf Sand gebaut: Der Ansatz „Denke dich selbst zum Wohlbefinden“ mache psychische Leiden oft noch schlimmer. „Jeder denkende Mensch weiß, dass Selbsteinsicht nicht im Vorbeifahren zu haben ist“, sagt Jonathan Shedler, Psychologe an der University of Colorado und erbitterter Gegner der Verhaltenstherapie. Sein gutmütig-ironisches Auftreten weicht entnervter Ungeduld, wenn man zu lange über die Verhaltenstherapie spricht. „Dichter und Romanciers haben es schon vor Jahrtausenden kapiert. Aber seit ein paar Jahrzehnten behaupten ein paar Leute, 16 Sitzungen reichten aus, um lebenslange Muster zu ändern.“ Wenn Shedler und die anderen Kritiker der Verhaltenstherapie recht haben, könnten die Folgen sich auf die psychologische Betreuung von Millionen Menschen in aller Welt auswirken.
„Freud war voller Pferdemist“, pflegte Albert Ellis, der Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie, zu sagen. Abgesehen von der Wortwahl: Ganz abstreiten lässt sich das nicht. Das Imageproblem der Psychoanalyse liegt zum Teil auch daran, dass ihr Gründer sich in mancher Hinsicht als Scharlatan entpuppt hat, der Befunde verfälschte und Schlimmeres. In einem Fall, der erst in den 1990er Jahren ans Licht kam, redete Freud einem Patienten – dem US-Psychiater Horace Frink – ein, er leide unter der Unfähigkeit, sich seine Homosexualität einzugestehen, und deutete an, die Lösung könne in einer erklecklichen Spende für Freuds Arbeit liegen.
Schwerer noch als mit den Tricksereien des Gründungsvaters tun sich die neuen Verfechter der Psychoanalyse damit, dass sie beim Therapieren auf Mutmaßungen angewiesen sind, aber für diese Mutmaßungen Beweise vorlegen sollen. Schließlich beruht die Psychoanalyse auf der Annahme, unser Leben sei von unbewussten Kräften bestimmt, die auf indirekte Weise mit uns kommunizieren – durch Symbole in unseren Träumen, durch scheinbar versehentliche Versprecher oder durch das, was wir an anderen Menschen nicht ausstehen können, weil es auf das hinweist, was wir an uns selbst nicht leiden können. Dadurch wird das Ganze unwiderlegbar. Widersprich deinem Analytiker – „Nein, ich hasse meinen Vater nicht“ –, und es zeigt ihm bloß, wie verzweifelt du bemüht bist, dir diesen Hass nicht einzugestehen.
Solche selbsterfüllenden Prophezeiungen sind eine Zumutung für jeden, der wissenschaftlich ergründen will, was in einem Kopf passiert. In den 1960ern verzeichnete die experimentelle Psychologie so große Fortschritte, dass ihr die Geduld mit der Psychoanalyse ausging. Behavioristen hatten gezeigt, dass sich menschliches Verhalten durch Belohnung und Strafe ähnlich vorhersagbar manipulieren ließ wie bei Tauben oder Ratten. Vorgänge im menschlichen Gemüt würden sich ebenso messen und beeinflussen lassen, glaubten die Anhänger der „kognitiven Revolution“. Und der Bedarf war enorm: Zu Zigtausenden waren aus dem Zweiten Weltkrieg, dann aus Korea und Vietnam Soldaten mit schweren psychischen Störungen heimgekehrt, die nach einer schnellen, preisgünstigen Behandlung riefen.
Albert Ellis war selbst Psychoanalytiker gewesen, ehe er die Verhaltenstherapie entwickelte. Als er im New York der 1940er einige Jahre praktiziert hatte und feststellen musste, dass bei seinen Patienten keine Besserung eintrat, schloss er mit charakteristischer Selbstsicherheit, dass dies nicht an ihm lag, sondern an der Behandlungsmethode. Zusammen mit ein paar gleichgesinnten Therapeuten wandte er sich der antiken Lehre des Stoizismus zu und begann seinen Patienten zu sagen, ihr Leiden sei in ihren Annahmen über die Welt begründet, nicht in den Ereignissen selbst. Bei einer Beförderung übergangen zu werden, mochte ein Unglücksgefühl auslösen, doch die Depression entstand aus der irrationalen Neigung, sich wegen so eines einzelnen Rückschlags für einen totalen Versager zu halten. „Die Psychoanalyse“, sagte Ellis, „gibt den Patienten immer eine Ausflucht. Sie reden zehn Jahre lang über sich selbst, geben ihren Eltern die Schuld und warten auf große Erleuchtungen.“
Der forsche Ton, den die Verhaltenstherapeuten anschlugen, konnte leicht darüber hinwegtäuschen, wie revolutionär ihre Thesen waren. Für Psychoanalytiker bedeutete Therapie, in scheinbar irrationalen Symptomen – etwa einem endlos wiederholten selbstbehindernden Verhaltensmuster in der Liebe oder im Job – eine Art Rationalität aufzuspüren: als Reaktion, die im Zusammenhang mit frühkindlichen Erfahrungen Sinn ergab. Wenn einen ein Elternteil im Stich gelassen hat, liegt es nahe, zu befürchten, dass der Partner das auch tun könnte. Aus dieser Angst heraus fährt man dann selbst die Ehe vor die Wand.
Eindringlinge verscheuchen
Die Verhaltenstherapie stellt das Modell der Psychoanalyse auf den Kopf. Emotionen, die rational wirken – etwa, wenn es einen bedrückt, wie verpfuscht das eigene Leben ist –, werden als Folge irrationalen Denkens aufgefasst. Ja, du bist deinen Job los, aber das heißt nicht, dass nun alles immer schrecklich ist. Die eigenen Reaktionsmuster zu ändern wäre demnach nicht so schwer. Symptome wie Traurigkeit oder Beklemmung müssen nicht auf tief liegende Ängste verweisen: Sie sind Eindringlinge, die es zu verscheuchen gilt. Als polternder Querkopf blieb Ellis ein Außenseiter in der Zunft, doch der von ihm entwickelte Behandlungsansatz wurde respektabel, als der weitaus besonnenere Aaron Beck, Psychologieprofessor an der University of Pennsylvania, ihn übernahm. 1961 entwarf Beck einen 21-Punkte-Fragebogen, um das Leiden von Patienten zu bemessen. Er konnte zeigen, dass in etwa der Hälfte der Fälle wenige Monate Verhaltenstherapie die schlimmsten Symptome linderten. Einwände von Analytikern ließ er nicht gelten – ihnen gehe es nur um ihre Pfründe. Plötzlich fanden sich Freuds Schüler in der Rolle von Ärzten aus dem 19. Jahrhundert wieder: als Kurpfuscher, die mit ansehen mussten, wie ihre mystische Kunst auf eine Abfolge evidenzbasierter Behandlungsschritte heruntergekocht wurde.
Viele weitere Studien folgten und belegten die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie bei diversen Störungen, von Depressionen über Zwangsneurosen bis zu posttraumatischem Stress. „Die ersten Seminare in Verhaltenstherapie besuchte ich, um mich zu vergewissern, dass auch dieser Ansatz nichts taugte“, sagt David Burns, Autor des Bestsellers Feeling Good. „Aber als ich die Techniken an meine Patienten weitergab, fingen Leute, die jahrelang hoffnungslos festgefahren schienen, an sich zu erholen.“
Daran, dass diese Techniken millionenfach zumindest in gewissem Maß geholfen haben, besteht wenig Zweifel. Doch es bleibt der Eindruck, dass in ihrem Bild von der leidenden Seele etwas Wesentliches fehlt. Schließlich erleben wir selbst unsere Psyche und unsere Beziehungen zu anderen Menschen als verwirrend komplex. Man kann die gesamte Religions- und Literaturgeschichte als Versuch sehen, mit dieser Komplexität zurechtzukommen. Und täglich entdecken die Neurowissenschaften neue Feinheiten im Wirken des Gehirns. Können Antworten auf unsere Nöte wirklich lauten „Identifiziere deine automatischen Gedanken“ oder „Lehne dich gegen deinen inneren Kritiker auf“? Ist Therapie etwas so Berechenbares, dass wir sie auch von einem Computer erhalten könnten?
Es gibt da Geschichten wie diese: Vor ein paar Jahren, als die Vorherrschaft der Verhaltenstherapie im britischen Gesundheitsdienst gerade angebrochen war, wollte sich Rachel, eine junge Mutter, wegen postnataler Depression behandeln lassen. Zuerst wurde sie zu einer Präsentation geschickt, die den Anwesenden fünf Schritte „zur Verbesserung deiner Laune“ versprach. Danach hatte sie Sitzungen bei einer Therapeutin – und zwischendurch per Computer. „Nie bin ich mir so einsam vorgekommen, wie als mich ein Programm fragte, wie ich mich auf einer Skala von eins bis fünf fühle, und mir, wenn ich das traurige Emoticon anklickte, mit Computerstimme sagte: ‚Das tut mir leid.‘
Nicht das wirkliche Leben
Jonathan Shedler kann genau benennen, wann er merkte, dass an der psychoanalytischen Vorstellung, unser Verstand sei weit komplexer und seltsamer, als wir gemeinhin denken, etwas dran sein müsse. Damals war er College-Student in Massachusetts, und ein Dozent verblüffte ihn mit einer Traumdeutung. In dem Traum ging es darum, auf Brücken über Seen zu fahren und in einem Laden Hüte anzuprobieren. Dahinter stehe die Angst vor Schwangerschaft, sagte der Dozent und traf ins Schwarze. Es war ein Traum von Shedlers Freundin gewesen, die in diesen Tagen verzweifelt hoffte, nicht schwanger zu sein. Shedler war wie vom Donner gerührt: „Wenn es Leute auf der Welt gab, die solche Dinge erkennen konnten, dann musste ich einer von ihnen werden.“
Doch im Psychologiestudium, so stellte er dann fest, wurde einem die Faszination für die Rätsel des Unbewussten wieder ausgetrieben. Den Forschern ging es nur um Messungen und Quantifizierungen. Um Psychoanalytiker zu werden, bedarf es einer jahrelangen Ausbildung. Und es ist Pflicht, sich auch selbst analysieren zu lassen. Für psychologische Forschung an der Universität braucht man hingegen überhaupt nicht mit dem wirklichen Leben in Berührung zu kommen. Als ausgebildeter Therapeut, der zugleich wissenschaftliche Forschung betreibt, ist Shedler heute ein Sonderfall. „Haben Sie davon gehört, dass man 10.000 Stunden praktische Erfahrung braucht, um fachlich kompetent zu werden?“, fragt er. „Die meisten Forscher, die über die Wirksamkeit von Therapien reden, haben nicht einmal zehn Stunden.“
Bessere Langzeitwirkung
Shedlers eigene Publikationen haben die Gewissheit erschüttert, die Psychoanalyse könne keine Beweise vorlegen. Erst seit den 1990ern gibt es überhaupt empirische Untersuchungen über die Psychoanalyse, die den kognitiven Konsens infrage stellen. 2004 kam eine Metastudie zum Schluss, dass eine befristete psychoanalytische Behandlung bei vielen Leiden mindestens so gut wirkt wie andere Ansätze.
Nicht immer vergleichen die Studien analytische mit kognitiven Therapien, sondern oft mit der „üblichen Behandlung“, was eine ganze Palette von Methoden sein kann. Doch ein ums andere Mal zeigen sich die größten Unterschiede zwischen Analyse und Verhaltenstherapie in der Langzeitwirkung. Fragt man die Patienten am Ende des Behandlungszeitraums, wie es ihnen geht, kann die Verhaltenstherapie überzeugen. Ein paar Monate oder gar Jahre später aber ist die Wirkung oft verpufft, während die Effekte der Psychoanalyse anhalten oder sich sogar noch verstärken – die Psychoanalyse scheint imstande, dauerhaft Persönlichkeiten neu zu ordnen, anstatt Menschen bloß zu helfen, mit ihren Launen umzugehen.
Das schwerste Geschütz der Psychoanalytiker aber ist der Vorwurf, dass die Verhaltenstherapie seelische Leiden sogar verschlimmere. Durch Tricks, mit denen man sich Depressionen oder Ängste erträglich macht, schiebe man den Moment bloß auf, in dem man sich mit ihnen auseinandersetzen muss. Die Verhaltenstherapie verspricht eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, um Leid zu bewältigen. Doch vielleicht bringt es mehr, uns klarmachen, wie wenig Kontrolle wir haben – über unser Leben, über unsere Gefühle, über die Handlungen anderer Menschen.
Erwartungsgemäß weisen Verhaltenstherapeuten die Kritik energisch zurück: Ihre Methoden würden verzerrt dargestellt, und wenn deren Wirksamkeit nachzulassen scheine, dann nur, weil sie inzwischen so weitverbreitet sei. Die frühen Studien beruhten auf kleinen Gruppen und der Arbeit weniger, enthusiastischer Therapeuten. Bei neueren Untersuchungen ist die Zahl der Probanden viel höher. Zwangsläufig seien daher auch die Therapeuten unterschiedlich begabt. „Wer behauptet, Verhaltenstherapie sei oberflächlich, redet an der Sache vorbei“, sagt Trudie Chalder, Psychologieprofessorin am Londoner King’s College. „Ja, es geht um Selbstbilder, aber nicht um leicht zugängliche Selbstbilder, sondern etwa um die tiefe Überzeugung, man sei nicht liebenswert, die aus ganz frühen Erlebnissen resultieren kann.“
Studien werden den Streit nicht entscheiden können, denn der Konflikt geht tiefer. Was zum Beispiel zählt als erfolgreicher Therapieverlauf? Dass Symptome abklingen? Ein Prinzip der Psychoanalyse ist, dass Symptomfreiheit nicht das Kriterium für ein sinnerfülltes Leben sein kann. Möglicherweise ist man nach der Therapie sogar trauriger als vorher – zugleich aber hat man einen festeren Stand, ist weiser geworden und besser im Bild über die eigenen Reaktionsmuster. Freud erklärte es als sein Ziel, „neurotisches Elend in gewöhnliches Unglück“ zu verwandeln. Und C. G. Jung sagte: „Der Mensch braucht Probleme, sonst kann er nicht gesund sein.“
Die Vorstellung, dass unsere Seele nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden therapierbar sei, weil unser individuelles Leben sich nicht verallgemeinern lässt, ist aber bestechend. So erklärt sich wohl auch der grandiose Erfolg von Stephen Grosz’ Buch Die Frau, die nicht lieben wollte, mittlerweile in über 30 Sprachen übersetzt. Grosz stellt psychoanalytische Erkenntnisse darin als Geschichten vor, oft mit der Pointe einer blitzartigen Einsicht der Person auf der Couch in eigene Abgründe. Ein Mann lügt zwanghaft und versucht andere in seine Täuschungsmanöver mit hineinzuziehen – so, wie einst seine Mutter vertuschte, dass er ins Bett machte. Einer Frau wird, als sie einen ordentlich eingeräumten Geschirrspüler erblickt, plötzlich klar, wie hartnäckig sie die Beweise für die Untreue ihres Mannes verleugnet hat. „Jedes Leben ist einzigartig, und die Aufgabe des Analytikers ist es, die besondere Geschichte des Patienten zu finden“, sagt Grosz.
Es mag überraschen, dass nun ausgerechnet aus der Neurowissenschaft – also aus der empirischsten Ecke der Forschung über unser Innenleben – Unterstützung für diesen scheinbar unwissenschaftlichen Ansatz kommt. Viele Experimente deuten darauf hin, dass unser Gehirn Informationen weit schneller verarbeitet, als wir sie bewusst nachvollziehen können. Unzählige mentale Prozesse spielen sich demnach, wie der Hirnforscher David Eagleman es ausdrückt, „unter der Motorhaube“ ab – unsichtbar für unser Bewusstsein.
Demut vor den Rätseln
Sei es Kopfrechnen, Bremsen vor einem Hindernis oder sogar die Wahl des Ehepartners: All das könnten wir schon getan haben, ehe es uns bewusst wird. Mit der verhaltenstherapeutischen Grundannahme, dass sich schädliche Denkmuster gleichsam in flagranti abfangen lassen, verträgt sich diese Sichtweise nicht. Wohl aber mit der psychoanalytischen Lehre vom Unbewussten – und damit, dass unser Blick aufs Leben von unserer frühen Kindheit geprägt ist und sich nur mit Mühe verändern lässt.
Die einzige unumstrittene Erkenntnis aus dem Wettstreit der Therapien ist, dass wir über die Vorgänge in unserem Kopf noch immer sehr wenig wissen. „Es ist, als hätten wir einen Hammer, eine Säge, ein Bolzenschussgerät und eine Klobürste, und dazu diese Kiste, die nicht richtig funktioniert. Also bearbeiten wir sie abwechselnd mit allen Geräten und schauen, was hilft.“ So beschreibt es Jules Evans vom Zentrum für Emotionsgeschichte der Londoner Queen-Mary-Universität.
Viele Psychologen neigen mittlerweile zu der Ansicht, dass es nicht so sehr auf die Art der Therapie ankomme. Wichtig seien vor allem ein einfühlsamer, engagierter Therapeut – und die Bereitschaft des Patienten, etwas an sich zu ändern. David Pollens, der Psychoanalytiker von der Upper East Side, kann dieser Haltung viel abgewinnen: „Ein großartiger britischer Kollege stellte Medizinstudenten gerne die Frage: ‚Was, glauben Sie, ist das stärkste Medikament, das Sie Ihren Patienten verschreiben können?‘ Dann gab er selbst die Antwort: ‚Ihre Beziehung zu ihnen.‘“
Aber auch der Schluss, dass wir schlicht nicht wissen, welche Therapie am besten wirkt, ist bereits ein Sieg für Freud und seine Nachfolger. Denn die Psychoanalyse verkörpert ja gerade die ehrfürchtige Demut vor den Rätseln unseres Verstandes. Niemand, so schrieb der Psychoanalytiker James Hollis, kann wirklich die Frage beantworten: „Wessen bist du dir unbewusst?“
Sigmund Freud als Mensch mag zur Überheblichkeit geneigt haben. Doch er hinterließ uns die Mahnung, wir sollten nicht glauben, dass wir wissen können, was in uns vor sich geht. Zumal wir oft mit aller Kraft versuchen, uns die Unwissenheit zu erhalten – weil die Wahrheiten, die sonst ans Licht kämen, uns verstören würden. „Therapie bedeutet, dass jemand um Hilfe bittet und dich im nächsten Moment daran zu hindern versucht, ihm zu helfen“, sagt Pollens. „Wie soll man ihm dann helfen? Eben darum geht’s bei der Psychoanalyse.“
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