Auf Nummer Sicher

Reformdrama Die Freude über den ersten Abstimmungserfolg der Demokraten im US-Senat verdeckt die Tatsache, dass nur noch über eine verwässerte Gesundheitsreform entschieden wird

Der progressive Flügel der Demokraten ist zwischenzeitlich in der Frage zutiefst gespalten, ob es das Gesetz zur Gesundheitsreform in der jetzigen Gestalt überhaupt noch wert ist, unterstützt zu werden. Auch wenn es eine ganze Reihe von Einzelpersonen und Gruppen gibt, die Verantwortung für den Gang der Ereignisse tragen, die unschöne Botschaft, die davon ausgeht, ist eindeutig: Washington wurde gegen die Interessen der Bevölkerung instrumentalisiert.

Millionen Kunden

In der vorliegenden Form ist der Gesetzentwurf für die privaten Versicherungsunternehmen ein regelrechter Segen. Mittels massiver finanzieller Unterstützung durch die Steuerzahler garantiert er ihnen Millionen neuer Kunden, ohne dabei den Wettbewerb zu gewährleisten, der für einen Abbau der Kosten und eine erhöhte Effizienz des Gesundheitssystems unabdingbar wäre. Der Versicherungsschutz wird vorzugsweise durch öffentliche Zuschüsse ausgeweitet. Bislang Unversicherte werden gezwungen, sich bei einem privaten Anbieter zu versichern.

Präsident Obama scheint längst der Meinung, keine der Versorgungsleistungen, wie sie der ursprüngliche Gesetzentwurf vorsah, ist so wichtig, um nicht geopfert zu werden, um nur irgendetwas durchzubringen, das sich als Sieg verkaufen lasse. Dies führte zusammen mit der bösartigen Verhinderungskampagne der Republikaner dazu, dass der Gesetzentwurf immer stärker verwässert und seiner wesentlichen Bestandteile beraubt wurde.

Die Demokraten haben nun zumindest erreicht, dass es im Senat zu keiner Verschleppungsstrategie (filibuster) der Republikaner mehr kommen kann. Und das, obwohl die Gesundheitskosten den Haushalt erheblich tangieren. Die aus dem Ruder laufenden Ausgaben sind der größte für das wachsende Haushaltsdefizit verantwortliche Einzelposten. Im vergangenen Jahrzehnt verdoppelten sich die Prämien und werden dies in den kommenden zehn Jahren voraussichtlich nochmals tun.

Um so mehr scheinen die Demokraten beglückt darüber, dass die Chancen groß sind, den entschärften Entwurf durchzubringen. Dass die Motive der gegnerischen Republikaner mehr machtpolitischer als inhaltlicher Natur sind, ist nicht weiter der Rede wert. Aber was in aller Welt ist mit den Demokraten geschehen? Ein im Senat tätiger Berater, der anonym bleiben will, gesteht, viele Demokraten hätten Angst davor, sich mit den Krankenversicherungen und Pharmakonzernen anzulegen. Die Wahlkampfhilfen aus diesem Lager sind beträchtlich. Das erklärt eine Menge. Es erklärt im Besonderen, warum der erste Mann der Demokraten sich in Bezug auf die public option einer staatlichen Krankenversicherung äußerst ambivalent verhalten und keinerlei Druck auf seine Abgeordneten ausgeübt hat, diese zu unterstützten. Mit anderen Worten, die Demokraten wollten auf Nummer Sicher gehen und haben sich damit nun möglicherweise erst recht in noch größere Gefahr gebracht. Die fortschrittliche Wählerbasis, der sie ihren Sieg bei den Wahlen im November 2008 verdanken, ist verstört und demoralisiert.

Der Realität gebeugt

Für fortschrittliche Demokraten bestand eine entscheidende Frage, die sie bis zuletzt beschäftigte, darin, ob Obama wirklich beabsichtige, die Politik in Washington grundlegend zu ändern und sie von den Interessen der Wirtschaft zu befreien, wie er versprochen hatte. Für viele sieht es heute so aus, als habe er sich statt dessen der hässlichen Realität gebeugt. Auch ohne staatliche Krankenversicherung wird die Gesundheitsreform vermutlich viel Gutes bewirken, aber sie wird auch einige der größten Defizite des herrschenden Systems übernehmen, zu denen der Mangel an Wahlfreiheit und Wettbewerb gehören.

Was dies für das US-Gesundheitswesen bedeutet, wird sich zeigen, aber das Aus für eine staatliche Krankenversicherung, für die es in der Bevölkerung eine breite Unterstützung gibt und die zum Symbol für die weitergehende Frage geworden ist, ob die fortschrittlichen Kräfte in diesem Land wirklich etwas zu sagen haben, spricht Bände. Paul Krugman schrieb im August, die Demokraten befänden sich nun im Aufstand – Obama habe ihr Vertrauen für selbstverständlich gehalten und es dadurch verspielt. Sollte Krugmans Einschätzung vor drei Monaten noch verfrüht gewesen sein, so dürfte sich dies mittlerweile geändert haben.

Übersetzung: Holger Hutt


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Geschrieben von

Sahil Kapur, The Guardian | The Guardian

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