Selbst wenn wir in den nächsten sechs Monaten jeden Tag durcharbeiten, ist unser Job nicht zu schaffen. Wir finden nicht genug, es fehlt an Ausrüstung“, erklärt Muhammed Shaban, Offizier der Zivilen Verteidigungskräfte in West-Mossul. Er klingt erschöpft und resigniert, wie jemand, der sein Leben nicht von seiner Arbeit trennen kann. Im August 2017, einen Monat nach Ende der Kämpfe und der Niederlage des Islamischen Staates (IS), bargen Shaban und seine Leute täglich etwa 30 Tote. Noch heute liegen Leichen unter den Trümmern am Tigris-Ufer, wo es die letzten Gefechte gab. Schwärme von Ratten sind ein mehr als sicheres Indiz dafür. Viele Tiere sind katzengroß, fett und träge. Es gibt niemanden, der sie vertreiben könnte. Auf dem Trottoir liegen Uniformreste und andere Kleidungsstücke, dazu geborstene Blumenkübel, hinter der Tür einer verlassene Werkstatt werden verkohlte Autoreifen sichtbar. „Wir arbeiten oft mit bloßen Händen“, erzählt Shaban, auf eine Bezahlung warte er bisher vergeblich. Mit Wiederaufbau habe seine Arbeit vorerst nicht viel zu tun. Zu sehr sei man noch damit beschäftigt, Tote zu bergen.
Die genaue Zahl der Opfer aus der letzten Phase der Schlacht mit dem IS ist nicht bekannt. In den Vierteln, die von der irakischen Armee eingekesselt waren, konnten viele Familien Luftangriffen und Scharfschützen nicht entkommen. Laut Nachrichtenagentur AP gab es in Mossul fast 10.000 getötete Zivilisten; die Vereinten Nationen nennen die Zahl von mindestens 2.521. Wie viele auch immer – die Altstadt, früher das Herz Mossuls, wurde zur Grabkammer.
Leichen unterm Schutt
Als die irakischen Streitkräfte versprengte IS-Kämpfer auch aus der letzten Bastion vertrieben hatten, erklärte Premier Haider al-Abadi den 10. Juli zum Feiertag, aber blieb eine Antwort auf die Frage schuldig, wie es weitergehen sollte. In der ganzen Stadt begannen Freiwillige, Straßen, Geschäfte, Kontore, nicht zuletzt die Universität aufzuräumen, um diesen Orten wieder Leben einzuhauchen. Immerhin wurden fünfzehn Stadtquartiere mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht. Die Luftangriffe der US-geführten Anti-IS-Koalition zerstörten alle fünf Brücken über den Tigris. Elektrizitätswerke, Fabriken und Kläranlagen wurden getroffen oder niedergebrannt. Mossul wirkt seither, als sei die Zeit stehengeblieben. Demolierte Möbel und Schutt versperren die schmalen Straßen der Innenstadt. Autofahrer überqueren den Strom auf zwei provisorischen Brücken und müssen ansonsten ständig Kratern ausweichen. Vielerorts werden unter dem Schutt noch viele Leichen vermutet.
Obwohl etliche Straßen in Erwartung des Wiederaufbaus wieder befahren werden, weiß niemand, wann der ernsthaft beginnt. In anderen Teilen des Irak vollzieht sich die Rückkehr zu einer halbwegs intakten urbanen Infrastruktur ebenso schleppend. Jahre nachdem der IS vertrieben wurde, liegen Teile von Ramadi, Falludscha wie Sindschar weiter in Trümmern.
Genugtuung und Freude über die Rückeroberung Mossuls drohen zu schwinden, wenn die Sicherheit der Bewohner nicht garantiert ist. Werden Wohnraum, Arbeitsplätze und Schulen weiter entbehrt, sind das auch Indizien für korrupte städtische Institutionen. Folglich bleibt Mossul vielerorts eine Geisterstadt. Es gibt kein Bewusstsein für die unermesslichen Verluste, die Zehntausende in dieser Stadt hinnehmen mussten.
Der verzögerte Wiederaufbau hängt vor allem an der Frage, wer die Rechnung bezahlt. Auf einer Geberkonferenz in Kuwait Mitte Februar bat der Irak seine Verbündeten um eine Beihilfe für das seit der US-Intervention vom Frühjahr 2003 schwer kriegsgeschädigte Land in Höhe von 88 Milliarden Dollar. Bisher wurden Zusagen für Kredite und Investitionen in Höhe von etwa 30 Milliarden Dollar abgegeben, darunter drei Milliarden aus den Vereinigten Staaten. Zum Vergleich: Für den Kampf gegen die Kampfverbände des Islamischen Staates hat die US-geführte Koalition mehr als 14 Milliarden Dollar verbraucht. Mit anderen Worten, die Regierung in Bagdad wird die Hauptlast allein tragen müssen. West-Mossul so weit zu stabilisieren, dass die während des Krieges vertriebenen Familien zurückkehren können, wird mehr als 562 Millionen Euro kosten, erklärt Lise Grand, UN-Koordinatorin im Irak. „Das Doppelte von dem, was wir erwartet hatten, weil die Zerstörungen dort während der letzten Kampfhandlungen viel, viel flächendeckender waren als in Ost-Mossul.“
Und was wird aus den Binnenflüchtlingen im Irak? Immerhin mehr als 2,3 Millionen Menschen, darunter gut 700.000 ehemalige Bewohner Mossuls. Frieden allein reicht für ihre Heimkehr nicht aus. Sie brauchen Unterkünfte, doch schiebt ein akuter Mangel an nicht beschädigtem Wohnraum die Preise derart nach oben, dass viele der in Mossul Zurückgebliebenen die Miete nicht bezahlen können und von Vertreibung bedroht sind. Da erst jetzt der Ölpreis wieder steigt, kann der Staat gerade einmal gut 460 Millionen Dollar für den nationalen Wiederaufbau aufbringen. Premier al-Abadi hofft, dass ausländische Investitionen in die Wirtschaft und den Transportsektor derart wachsen, dass dem Staat ein Teil der finanziellen Lasten abgenommen wird.
Darauf zu hoffen, verbiete sich im Augenblick, urteilt Abdul Kader Sindschari, Vizegouverneur der Provinz Nineve, deren Hauptstadt Mossul ist: „Fast alle Fabriken wurden geschleift. Was an Anlagen verschont blieb, wurde oft geplündert. Wie also sollen wir Mossul wieder zu einer Stadt machen, in der die Wirtschaft blüht?“ Iraks aufgeblähter und korrupter öffentlicher Sektor scheint ein weiteres Hindernis zu sein. Dessen Zustand geht auf Saddam Husseins Baath-Partei und die UN-Sanktionen in den 1990er Jahren zurück. Versteckte Provisionen und Bestechungsgelder haben die Preise für Wiederaufbauarbeiten stetig in die Höhe getrieben. Im Vorjahr stufte Transparency International den Irak auf der Liste der korruptesten Länder auf Rang 169 von 180 ein.
Obwohl Ministerpräsident al-Abadi nach dem Krieg größere Transparenz versprochen hat, ist es ihm nicht gelungen, mit der Bestechungskultur zu brechen. Das kann gefährlich werden, befürchten Kritiker. Wird dieses Problem nicht angegangen, sind die staatlichen Institutionen möglicherweise nicht in der Lage, eine denkbare Wiederbelebung des IS aufzuhalten. Im November war Ninives Gouverneur Nofal Hammadi wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden, weigerte sich aber, sein Amt abzugeben.
Weinen um die Bibliohtek
Einwohner von Mossul sind davon überzeugt: Das vor den Parlamentswahlen am 15. Mai durch die Regierung beschworene Stabilitätsdogma soll vom vernachlässigten Wiederaufbau Mossuls ablenken. „Wenn die Iraker an die Wahlurnen gehen, wollen sie Politiker sehen, die der Korruption trotzen, statt davon zu profitieren“, meint Sajad Jiyad, Leiter des Bayan Centre, eines Forschungsinstituts in Bagdad. „Kleine Fortschritte sind zu beobachten, aber ansonsten warten die Leute darauf, endlich Taten zu sehen, mit denen die Vetternwirtschaft verbannt wird. „Sie wollen Fortschritte sehen, und ich habe das Gefühl, ihre Geduld lässt nach.“
„Das ist meine Stadt“, sagt der 29-jährige Ali Nazm vom Rücksitz des Autos, während draußen die unförmigen Ruinen der Universität von Mossul vorbeiziehen. Ali ist einer von vielen Freiwilligen, die nach dem Ende der Kämpfe auf die Straßen gingen, um beim Aufräumen zu helfen. „Wenn nicht ich, wenn nicht wir – wer sonst sollte es tun?“
Ali war gezwungen, sein Studium aufzugeben und Armbanduhren zu verkaufen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er weinte, als er hörte, dass der IS vor dem Rückzug die Universitätsbibliothek angezündet hatte. Das geschah im April 2017, als vor einem Jahr an vielen Stellen in der Stadt und auf der anderen Seite des Tigris noch gekämpft wurde. Ali Nazm rettete inzwischen einige hundert Bücher aus den ausgebrannten Depots und brachte sie in eine neue provisorische Bibliothek. „Wir taten das, weil die Regierung zu phlegmatisch ist und sich damit herausredet, nicht genug Geld zu haben. Schauen Sie sich die Stadt an – das meiste, was wieder funktioniert, haben wir selbst vollbracht. Würden wir auf die Behörden warten, wäre alles wie gelähmt.“ Die Anstrengungen der freiwilligen Helfer haben der öffentlichen Moral in Mossul gutgetan.
Am Ufer des Tigris hat ein Café-Besitzer sein Lokal instand gesetzt. An Picknick-Tischen sitzen ganze Familien und verspeisen das Essen, das sie von zu Hause mitbringen. Am Straßenrand tanzt eine Gruppe im Teenageralter zu Popmusik, die unter dem IS verboten war. Ihre Zukunft ist ungewiss, in Momenten wie diesen wird einfach nur das Leben gefeiert.
„Ich kann spüren, dass Mossul sich wieder erholt“, sagt der 87-jährige Arzt Adel Bakri, während er mit einer kleinen Tasse Kaffee in seinem sonnendurchfluteten Wohnzimmer sitzt. Sein Haus in einer stillen vorstädtischen Straße in Ost-Mossul wurde durch den Krieg nur leicht beschädigt. „Die Menschen bauen ihre Häuser und Wohnungen wieder auf und engagieren sich. Mossul ist schon so oft wiederauferstanden.“
Doch die Kehrseite dieses Optimismus ist die Tatsache, dass dieselben strukturellen Probleme, die vor dem IS Mossul dominierten, weiterhin existieren, auch wenn es um die Sicherheitslage besser steht, als viele erwartet haben. Ungeachtet dessen scheinen die Dschihadisten zum erneuten Aufstand entschlossen. Es gibt weiterhin klandestine Terrorzellen. In ländlichen Regionen im Norden werden Hit-and-Run-Attacken verübt. Ende Februar griffen IS-Milizen einen Militärkonvoi in der Nähe von Kirkuk an und töteten 27 Soldaten.
Wenn sich der IS rege, sei das organisierte Verbrechen nicht weit, erklärt Matthew Schweizer, Research Fellow am Education for Peace in Iraq Centre (Zentrum für Bildung zum Frieden im Irak, EPIC), einer US-Organisation, die den Wiederaufbau im Land unterstützt. Schweizer ist überzeugt, die Regierung müsse alles tun, damit nicht der mühsame Wiederaufbau durch einen Rückfall in instabile Verhältnisse akut gefährdet werde. „So Gott will, wird die Regierung für uns sorgen. Nach der Herrschaft des IS brauchen wir jemanden, der sich um uns kümmert“, meint Suhail Miser, der als Straßenkehrer arbeitet. Bevor ihn die Zerstörungen in den Osten der Stadt vertrieben haben, war er Bäcker in West-Mossul. Auf einen Lohn für seine Arbeit warte er allerdings zumeist vergeblich.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.