Seit den 1980ern war klar, dass die westlichen Gesellschaften einen Preis dafür zahlen würden, auf ein neues Wirtschaftsmodell zu setzen. Er bestand in der Opferung der europäischen und amerikanischen Arbeiterklassen. Doch glaubte niemand, dass die Folgen auch die untere Mittelschicht treffen würden. Inzwischen ist offensichtlich, wie das neue Modell nicht nur proletarische Randgruppen, sondern die ganze Gesellschaft geschwächt hat.
Paradoxerweise spiegelt sich darin nicht das Versagen eines globalisierten Wirtschaftssystems, sondern dessen Erfolg. In den vergangenen Jahrzehnten hat die französische Wirtschaft ebenso wie die US-amerikanische weiter Wohlstand geschaffen. Wir sind reicher geworden, zumindest im Durchschnitt, doch wuchsen zugleich Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Armut. Die zentrale Frage ist daher: Wie verfährt man mit diesem Modell, wenn es ihm nicht gelingt, eine kohärente Gesellschaft zu schaffen – vor allem zu tragen?
Wie alle westlichen Länder hat sich Frankreich innerhalb weniger Jahrzehnte stark gewandelt. Aus einem System, das ökonomisch, politisch und kulturell die Mehrheit integriert hat, wurde eines, das Ungleichheit forciert. Dass immer mehr Reichtum produziert wird, bringt nur denen Vorteile, die bereits wohlhabend sind. Hinter dieser Zäsur steckt weder eine Verschwörung noch der Wunsch, die Armen abzuhängen. Die Ursache ist ein Wirtschaftsmodell, in dem Beschäftigung zunehmend polarisiert, was mit einer neuen Sozialgeografie einhergeht: Arbeitsmöglichkeit und Wohlstand konzentrieren sich in den Metropolen, während deindustrialisierte und ländliche Regionen, kleine und mittelgroße Städte zusehends an Dynamik verlieren. Aber genau dort, im „peripheren Frankreich“ oder im „peripheren Amerika“, existiert das Gros der Arbeiterklasse. Erstmals in der Geschichte des Kapitalismus leben die „Arbeiter“ damit nicht mehr dort, wo Beschäftigung geschaffen wird. Gesellschaftliche und kulturelle Erschütterungen sind die Konsequenz.
In Tuchfühlung zu La France périphérique ist die „Gilets jaunes“-Bewegung entstanden. Auch die den Westen erfassende Welle des Populismus hat ihren Ursprung in diesen peripheren Räumen, sie hat Donald Trump bis ins Weiße Haus gebracht. Im peripheren Italien, vorrangig im süditalienischen Mezzogiorno wie in den kleinen Industriestädten des Nordens, begann der Aufstieg der italienischen Populisten. Was diese proklamieren, wird von Bevölkerungsschichten getragen, die zu vergangenen Zeiten der zentrale Referenzpunkt einer politischen und intellektuellen Welt waren, die sie heute vergessen hat.
Eine Benzinpreiserhöhung hat die „Gelbwesten“ sich sammeln lassen, aber sie ist nicht die Ursache des Aufruhrs. Die Wut sitzt tiefer und ist das Ergebnis einer kulturellen Weichenstellung in den 1980er Jahren. Deren ökonomische und räumliche Folgen haben dazu geführt, dass die Welt der Eliten nach außen abgeschottet ist. Diese Beschränkung vollzieht sich nicht nur geografisch, sondern auch intellektuell. Globalisierte Metropolen werden so zu den neuen Burgen des 21. Jahrhunderts – reiche und ungleiche Orte, in denen nicht einmal mehr die einstige untere Mittelschicht einen Platz finden darf. Stattdessen wirkt in den globalen Großstädten eine duale Dynamik, die von Gentrifizierung und Einwanderung geprägt ist. So führt die offene Gesellschaft bezeichnenderweise zu einer Welt, die einer Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung verschlossen ist.
In Frankreich offenbart die Spaltung zwischen peripherer Provinz und privilegierten Metropolen die Verbannung des Volkes ins Hinterland. Die westlichen Eliten können so nach und nach die Menschen vergessen, die sie nicht mehr sehen. Die Wirkung der „gilets jaunes“ und der Beistand, den sie in der öffentlichen Meinung erfahren (acht von zehn Franzosen heißen ihre Aktionen gut), haben Politiker, Gewerkschaften und Akademiker überrascht, als hätten sie eine neue ethnische Gruppe am Amazonas entdeckt.
Der ursprüngliche Sinn gelber Westen besteht darin, die Person, die sie trägt, auf der Straße sichtbar zu machen. Wie auch immer der Konflikt ausgeht, die „gilets jaunes“ haben auf jeden Fall dort gewonnen, wo es wirklich zählt – im Kampf um die kulturelle Repräsentation. Menschen aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht sind wieder sichtbar, und mit ihnen die Orte, an denen sie leben. Umso mehr müssen ihre Forderungen respektiert und nicht länger als „bedauerliche Probleme“ eingestuft werden. Der US-Philosoph Michael Sandel verweist zu Recht auf das Unvermögen der Eliten, die Bestrebungen der Ärmsten ernst zu nehmen. Dabei haben sie nachvollziehbare Ziele: ihr soziokulturelles Kapital und ihre Arbeit zu erhalten. Um das zu erreichen, muss die „Sezession“ der Eliten – ihre Loslösung aus dem Gesamtstaat – gestoppt werden. Zudem sollten die politischen Angebote links wie rechts der Programmatik des Protests angemessen sein. Diese kulturelle Revolution ist ein gesellschaftlicher Imperativ – kein System kann bestehen, wenn es nicht die Mehrheit seiner ärmsten Bürger zu integrieren versteht.
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