Ein Augustabend in London. Eine zierliche Person betritt die Bühne im Hof des Somerset House, eines renommierten Kulturzentrums unweit der Themse. Christiane Kubrick spricht vor einer Open-Air-Vorführung von Wege zum Ruhm ein paar einführende Worte. „Bei wichtigen Ereignissen im Leben kommt es einem oft vor, als seien sie erst gestern passiert“, sagt sie. „Aber es ist bereits 53 Jahre her, dass Stanley mich im deutschen Fernsehen sah und engagierte.“
In Wege zum Ruhm gab Kubrick ihr die Rolle einer deutschen Barsängerin während des Ersten Weltkriegs – ein Auftritt mit Folgen. Ein Jahr nach den Dreharbeiten heirateten der Regisseur und die Schauspielerin. Die folgenden 42 Jahre, bis zum Tod Stanleys im März 1999, wichen sie einander kaum von der Seite. Zusammen zogen sie drei Kinder groß: Ihre gemeinsamen Töchter Anya und Vivian – sowie Katharina, Christianes Tochter aus einer früheren Ehe.
Heute leitet Christiane Kubrick mit 78 Jahren weiter ihre eigene Kunstschule in Hertfordshire, vor allem ist sie aber die Hüterin von Stanleys Vermächtnis. Auf der Bühne des Somerset House erzählt sie: „Ich hielt Stanley für außergewöhnlich – und wunderbarer Weise dachte er das Gleiche von mir. Deswegen führte ich ein wunderschönes Leben.“ Für die Gegenwart trifft das leider nicht mehr uneingeschränkt zu. Nach vier glücklichen Jahrzehnten auf ihrem Landsitz – wo die Kubricks sich eine inspirierende Symbiose aus Filmproduktion und Familienleben schufen – erlebte Christiane mehrere Schicksalsschläge. Jener, der ihre Tochter Vivian betraf, war bisher ein Familiengeheimnis. Aber an diesem Abend möchte sie mit mir darüber reden.
Über 1.000 Kisten Nachlass
Ich kenne Christiane Kubrick seit acht Jahren. Ich hatte viel mit ihr zu tun, als ich 2007 einen Dokumentarfilm über Stanleys Kisten drehte. Damals durfte ich auf Kubricks Anwesen die über 1.000 Kisten durchstöbern, die der geniale Regisseur mit Recherchematerial und Aufzeichnungen zu seinen Filmprojekten hinterlassen hatte. Als Christiane einmal sah, wie ich gerade einen von Stanleys alten Notizblöcken durchblätterte, sagte sie: „Ich werde sehr wütend, wenn ich seine alten Sachen sehe. Das Papier ist so staubig, alt und gelb. Es lässt den Menschen, der es einst benutzte, so ganz und gar tot erscheinen.“
Es gab damals Dinge, nach denen ich mich nicht zu fragen traute. Zum Beispiel nach ihren Erinnerungen an ihren Onkel, den Nazi-Regisseur Veit Harlan. Aber an diesem Abend, während eines gemeinsamen Essens nach der Filmvorführung, spricht sie das Thema selbst an: „Stanley und ich kamen aus so entgegengesetzten familiären Verhältnissen. Ich glaube, das gab unserer Beziehung einen besonderen Reiz. Für jemand wie Stanley war mein Hintergrund erschreckend.“ Der Regisseur hatte einen jüdischen Vater.
Christiane Kubrick hält einen Moment inne. „Ich hatte aber als Kind viel Spaß mit meinem Onkel. Er und mein Vater wollten ursprünglich zum Zirkus. Sie waren Akrobaten und warfen mich oft herum. Niemand Außenstehendes kann sich vorstellen, wie man jemanden, der sich so schuldig gemacht hat, dermaßen gut kennen kann, ohne von seiner Schuld zu wissen.“
In der Zeit, in der Veit Harlan mit seiner Nichte Zirkus spielte, führte er zugleich bei Goebbels’ Propaganda-Filmen Regie. Er drehte den berüchtigten antisemitischen Hetzfilm Jud Süß, in dem Juden eine deutsche Stadt in den Ruin treiben und arische Frauen schänden. Der Film wurde SS-Einheiten gezeigt, bevor diese losgeschickt wurden, um Juden zu ermorden. Harlan wurde nach 1945 zweimal wegen Kriegsverbrechen angeklagt und freigesprochen, weil er nachweisen konnte, dass Goebbels bei Jud Süß eingegriffen und ihn gezwungen hatte, den Film umzuarbeiten und antisemitischer zu machen.
„Wie viele begabte Leute verwechselte mein Onkel sein Talent mit Intelligenz. Er war ein berühmter Schauspieler und Regisseur. Er sah gut aus, konnte gut reden und hatte einen gewaltigen Charme“, erzählt Christiane Kubrick. „Deshalb dachte er, er sei auch intelligenter als Goebbels. Aber Goebbels war 10.000 Mal schlauer als er.“ Sie macht eine Pause. „Filmleute sind nur Marionetten. Wir sind ziemlich dumm.“
Die Geschichte ihres Onkels habe sie genauso wie Stanley in dem Grundsatz bestärkt, Mächtigen stets zu misstrauen. „Sein ganzes Leben lang hat Stanley gesagt: ‚Begib dich niemals in die Nähe der Macht. Freunde dich mit niemandem an, der wirkliche Macht besitzt. Das ist gefährlich.’“ Auf Reisen seien sie beide sehr aufgeregt gewesen, wenn sie bei einer Grenzkontrolle ihre Pässe zeigen mussten. „Stanley mochte diese Augenblicke gar nicht. Wir mussten meist durch verschiedene Türen gehen – er ging mit unseren beiden amerikanischen Töchtern nach oben, ich mit meiner deutschen Tochter nach unten. Da wurde er immer nervös und hielt nach uns Ausschau – würde er uns jemals wieder bekommen?“
Sie lacht bei dieser Erinnerung, denn selbstverständlich kamen sie immer wieder zusammen. Sie verbrachten fast ihr ganzes Leben gemeinsam auf ihrem Landsitz, wo Stanley sich ein Studio einrichtete und die Kinder antiautoritäre Schulen besuchten. Christianes deutsche Tochter lebt bis heute auf dem Anwesen und hilft ihr bei der Leitung der Kunstschule. Aber die beiden Töchter von Stanley sind nicht mehr da.
Als ich 2007 Anya traf, hatte ich keine Ahnung, dass sie krank war. „Das größte Geschenk, das Anya ihrem Sohn machte, war, ihn nichts von ihrer schrecklichen Krankheit spüren zu lassen“, erzählt Christiane. „Ihr Sterben zog sich über zehn Jahre hin. Mit allem, womit man es zu tun bekommt, wenn man Krebs hat – dem Haarausfall, der Verzweiflung, allem.“ Im Juli 2009 starb Anya mit 50 Jahren.
Scientology statt Familie
Christianes jüngste Tochter Vivian habe ich nie getroffen. Während der Dreharbeiten an meinem Dokumentarfilm hieß es, sie sei in Los Angeles. Ich hatte aber das Gefühl, ich sollte besser nicht nachfragen, weil irgendetwas passiert sein musste. Früher hatte Vivian eine zentrale Rolle in der Familie eingenommen. Mit 17 führte sie bereits bei dem Making-of zu Kubricks Horroklassiker Shining Regie. Mit 24 komponierte Vivian die Musik zu Full Metal Jacket und drehte hinter den Filmkulissen. Das Material umfasst 18 Stunden, wurde aber nie bearbeitet. Auf dem, was ich einmal sichten konnte, ist sie manchmal kurz selbst zu sehen: Sie ist schön und eigensinnig. Es gibt eine Stelle, in der Stanley die Kamera auf sie richtet. Sie droht, wenn er die Kamera nicht ausmache, werde sie ihr Oberteil ausziehen, um alle in Verlegenheit zu bringen. Er stellt die Kamera sofort ab.
„Sie ist ein großartiger Mensch“, sagt Christiane. „Geistreich und talentiert. Sie konnte singen, tanzen, schauspielern. Es gab nichts, was sie nicht konnte.“ Sie seien öfter mal aneinander geraten, aber sie habe Vivian sehr geliebt. „Jetzt habe ich sie verloren.“ Christiane macht eine Pause. „Ich habe es geheim gehalten, weil ich hoffte, es würde sich wieder einrenken. Nun habe ich die Hoffnung verloren: Sie ist weg.“
Alles begann, erzählt Christiane, während Stanley an Eyes Wide Shut mit Tom Cruise und Nicole Kidman arbeitete. Stanley fragte Vivian, ob sie die Musik schreiben wolle. Im letzten Augenblick sagte sie ab und verschwand stattdessen nach Kalifornien. „Stanley und Vivian hatten einen Riesenkrach deswegen. Stanley war danach sehr unglücklich und schrieb ihr einen 40-seitigen Brief, in dem er sie anflehte zurückzukommen. Ich bin froh, dass er nicht mehr miterleben musste, was danach geschehen ist.“ Am Tag der Beerdigung Stanleys sei Vivian mit einer Frau gekommen, die niemand kannte. „Sie saß nur in Vivians Zimmer und sagte nichts. Wir fanden das alle gruselig. Später stellte sich heraus, dass sie irgendetwas mit Scientology zu tun hatte“
Hat Vivian erzählt, warum sie zu Scientology gegangen ist? „Das ist ihre neue Religion“, sagt Christiane und zuckt hilflos mit den Schultern. „Es hatte übrigens überhaupt nichts mit Tom Cruise zu tun.“ War es Vivians Art, den Tod ihres Vater zu verarbeiten? „Ich denke, dass dieser sie sehr mitgenommen hat, aber: Ich weiß es nicht. Ich komme auch überhaupt nicht mehr an sie ran.“ Seit Stanleys Tod habe sie zweimal mit ihrer Tochter gesprochen, das letzte Mal vor acht Jahren. „Sie wollte als Scientologin nichts mehr mit uns zu tun haben. Sie besuchte ihre todkranke Schwester nicht, kam nicht zu Anyas Beerdigung.“
Was hätte Stanley getan?
Als Stanley noch lebte, hatten sie beide ihre Töchter verwöhnt, sie von allen unangenehmen Dingen fern gehalten. Sie fragt sich heute oft, was er wohl denken würde. Wäre er mit der Sache mit Vivian anders umgegangen? Wäre er damit einverstanden, wie sie in Interviews über ihn spricht?
„Ich fühle mich von seinem Geist umgeben, wenn ich diese Dinge mache“, sagt sie, während sie mit der Hand auf die Bühne im Hof von Somerset House deutet. In den vergangenen Jahren gab es eine Vorführung von 2001: Odysee im Weltraum mit einem Live-Orchester in der Royal Festival Hall, Kubrik-Ausstellungen in mehreren Filmmuseen und ein großes Buch im Taschen-Verlag: Stanley Kubrick‘s Napoleon: The Greatest Movie Never Made. „Hätte ihm all das gefallen? Ich führe immer diese Gespräche mit ihm, wenn ich mir nicht sicher bin. Und ich versuche, so zu leben, wie ich glaube, dass er es sich gewünscht hätte.“
Als wir mit dem Essen fertig sind, sage ich Christiane noch, dass ich sie für eine sehr inspirierende Persönlichkeit halte. Sie denkt eine Weile nach und antwortet schließlich: „Ich bin sehr froh, dass Stanley mich mochte.“ Etwas später erzähle ich einem Freund und großen Kubrick-Bewunderer, dass ich gerade mit Christiane Kubrick zu Abend gegessen habe. „Seltsam“, sagt er. „Ich musste erst heute an sie denken. Ein Fan der Twilight-Vampir-Saga fragte mich: ‚Gibt es etwas Romantischeres als Edward und Bella?‘ Und sofort dachte ich: ‚Ja, das gibt es. Christiane Kubricks Sorge um das Vermächtnis ihres Mannes.‘“
Schauspielerin, Malerin, Nachlassverwalterin
Christiane Kubrick wurde in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Am 10. Mai 1932 kam sie in Braunschweig als Tochter des Opernsängers Fritz Moritz Harlan und der Opernsängerin Ingeborg Harlan zur Welt. Ihr Onkel väterlicherseits war Veit Harlan. Nach einer Tanz- und Schauspielausbildung spielte Christiane Susanne Harlan, in den fünfziger Jahren Nebenrollen in deutschen Fernsehproduktionen. Dabei wurde der junge US-Regisseur Stanley Kubrick auf sie aufmerksam. Er verpflichtete sie für die Schlussszene von Wege zum Ruhm (1957). Es war erst ihr vierter Auftritt vor der Kamera. Nach ihrer Hochzeit mit Kubrick 1958 beendete sie aber ihre Schauspielkarriere und widmete sich ausschließlich der Malerei. Unter anderem malte sie Bilder für die Kubrick-Klassiker Uhrwerk Orange und Eyes Wide Shut. Zusammen mit ihrem Bruder Jan Harlan ist sie seit dem Tod von Stanley Kubrick am 7. März 1999 als dessen Nachlassverwalterin tätig. Kubrick war für seinen Perfektionismus berühmt-berüchtigt. Für einen nie gedrehten Napoleon-Film archivierte er etwa 17.000 Bildmotive zeitgenössischer Abbildungen. jap
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