Als der Künstler Art Spiegelman seine Version der Geschichte des 11. September erzählte, wählte er für sie den Titel Shadow of No Towers – Schatten keiner Türme. So bestechend der Gedanke war, dass nicht die Türme des World Trade Centre einen Schatten werfen, ist es nun an der Zeit, aus diesem Schatten zu treten. Wir müssen die Ära des 11. September für beendet erklären.
Für diejenigen, die von den Anschlägen direkt betroffen waren, ist dies natürlich unmöglich. Niemand erwartet von denen, die immer noch um die Frau, den Sohn, ihren Ehemann oder die Schwester trauern, mit dem Ereignis abzuschließen, nur weil es sich zum zehnten Mal jährt. Die Dokumentationen und Augenzeugenberichte in den Zeitungen, die im Vorfeld des Jahrestages ausgestrahlt und abgedruckt werden, lassen keinen Zweifel daran, dass die Ereignisse die direkt Betroffenen niemals loslassen werden.
Auch Künstler und Schriftsteller werden sich weigern, das Kapitel in naher Zukunft abzuschließen. Es braucht Jahrzehnte, um Ereignissen dieser Dimension zu verarbeiten. Salman Rushdie formulierte es so: „Ich denke, diese großen Ereignisse müssen verfaulen. Vielleicht muss noch eine weitere Generation ihren Blick auf sie richten.“
Schlagkraft verringert
Aber auch wenn Trauer und Kunst sich weiterhin an den Anschlägen abarbeiten werden, so muss doch die Politik fortschreiten. Osama bin Laden ist tot; George Bush und Tony Blair sind schon lange nicht mehr in ihren Ämtern, die 9/11-Kriege im Irak und in Afghanistan sind zwar noch nicht vorbei, aber in beiden Ländern gibt es mittlerweile einen Zeitplan für den Truppenabzug. Niemand spricht mehr von der Ära des „Krieges gegen den Terrorismus“. Und al-Qaida wurde enthauptet: Nach bin Laden wurden im August auch die neue Nr. 2 des Netzwerks und dessen Chefplaner getötet. Die meisten Analysten stimmen darin überein, dass al-Qaida geschwächt ist und seine Schlagkraft verringert wurde.
Natürlich wäre es falsch, sich selbstgefällig zurückzulehnen. Polizei und Nachrichtendienste, die mit dem Schutz der Öffentlichkeit betraut sind, können nicht hinter den 11. September zurückgehen und so tun, als hätten sich die Anschläge von New York und Washington oder auch Bali, Madrid und London nicht ereignet. Die Bedrohung hat sich verändert, ist aber nicht verschwunden.Andere Folgen von 9/11 bleiben ebenfalls erhalten. Etwa Guantánamo Bay – eine der Enttäuschungen in der Präsidentschaft Obamas. Der Apparat der amerikanischen "homeland security", der 2001 ins Leben gerufen wurde, ist mittlerweile fest verwurzelt. Überhaupt leben in den USA noch heute viele der militärischen Strukturen fort, die im Kalten Krieg entstanden sind.
Keine Kriegserklärung
Aber es ist die Geisteshaltung, die verschwinden muss. In den von Benommenheit geprägten Tagen nach den Anschlägen wurde überhastet eine neue außenpolitische Doktrin aufgestellt, nach der die Welt sich einer singulären, allumfassenden Bedrohung gegenübersieht, deren Bekämpfung höchste Priorität habe und der alle anderen Kämpfe untergeordnet werden müssten: der militante Dschihadismus. Dies betraf nicht nur die Außenpolitik, auch die Kultur sollte sich am Clash of Civilisations zwischen Islamismus und dem Westen beteiligen, der in seiner Bedeutung und seinem Ausmaß als ebenbürtig mit dem Kampf gegen Kommunismus und Faschismus eingestuft wurde. Christopher Hitchens gestand, ihn habe beim Anblick der einstürzenden Türme ein „freudiges Hochgefühl“ ergriffen. Jetzt würde es zumindest einen Krieg gegen den „dumpfen und bösen theokratischen Faschismus“ geben, habe er damals gedacht. „Ich bin darauf vorbereitet, dass dieser Krieg sehr lange dauert, und ich werde nie müde werden, ihn zu führen, weil es sich um einen Kampf um Grundlegendes handelt und weil er so interessant ist“, so seine Worte.
Derartiges konnte man im Jahrzehnt nach 9/11 immer wieder hören. Es basierte erstens auf einer falschen Analyse: Die Anschläge vom 11. September waren ein verabscheuenswürdiges und gemeines Verbrechen, aber keine Kriegserklärung. Wie die frühere MI5-Chefin Eliza Manningham-Buller in ihrer ersten Reith-Vorlesung argumentierte, legitimiert die Rede vom Krieg gegen den Terror die Terroristen als Krieger. Das ist genau das, was den Größenwahn al-Qaidas förderte. Zweitens hat dieses Denken nach 9/11 zu schweren und tödlichen Fehlurteilen geführt. Das größte bestand in der Subsumierung vieler disparater und komplexer Bedrohungen unter ein einfaches Schlagwort. Das berüchtigste Beispiel hierfür wird der Irakkrieg bleiben, der als Teil des Krieges gegen den Terror verkauft wurde, ohne dass es eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und bin Laden gegeben hätte.
Chatham-House-Direktor Robin Niblett – der sich in Washington aufhielt, als Flug 77 das Pentagon traf – macht auf subtilere Formen der Wirkungsweise dieses fehlgeleiteten, weil vereinfachenden Denkens aufmerksam, wenn er daran erinnert, wie während des Kalten Krieges Regimes in Afrika und Lateinamerika allein deshalb vom Westen unterstützt wurden, weil sie die Rebellen, die in ihrem Land eine nationale Agenda verfolgten, mit dem Label des „globalen kommunistischen Todfeindes“ versahen. Im vergangenen Jahrzehnt ist der Westen abermals auf den haargenau gleichen Trick hereingefallen. Hosni Mubarak erhielt weiterem Beistand, weil er behauptete, nur er könne ein Erstarken der Muslimbruderschaft verhindern, die er als ägyptischen Ausläufer des globalen Dschihad darstellte. Diese Woche hat neue Belege dafür geliefert, dass der britische Geheimdienst in Libyen exponiert war, weil auch Gaddafi sich als Bollwerk gegen den Islamismus empfahl. „Die Gefahr, die von der Geisteshaltung ausgeht, die der 11. September hervorgebracht hat, besteht darin, alle möglichen Herausforderungen auf eine einzige Bedrohung zu reduzieren“, sagt Niblett.
Zügellose Islamophobie
Die Verabsolutierung des Krieges gegen den Dschihadismus hatte noch weitere Folgen, die bis heute nachwirken. In der Nach-9/11-Logik erschien die Schleifung der Bürgerrechte als quasi unvermeidlich. Noch schwerer wiegt der Ausbruch einer zügellosen Islamophobie in Europa, die in Norwegen vor kurzem tödliche Folgen zeitige und auch in Amerika im Aufstreben begriffen ist. Auch dies ist quasi unvermeidlich, wenn der Islamismus erst einmal als die größte Bedrohung für die menschliche Rasse ausgemacht wurde.
Nach dem 11. September sagte Tony Blair den vielzitierten Satz, das Kaleidoskop sei geschüttelt worden, die Teile befänden sich in Bewegung. Doch das Kaleidoskop wurde erneut geschüttelt, am dramatischsten durch die arabischen Revolutionen 2011. Egal, wie die Welt aussah, als sich der Staub des World Trade Centre 2001 gelegt hatte – 2011 hat sie sich erneut verändert. Tunesien, Ägypten und Libyen sind von Veränderungen ergriffen worden, die mit Osama bin Laden nichts zu tun haben.
Um es nochmals zu sagen: Das alles heißt nicht, dass die Gefahren geringer geworden wären. Möchtergern-Terroristen haben die welterschütternden Auswirkungen gesehen, die ein spektakulärer Anschlag haben kann, besonders dann, wenn er eine massive Reaktion provoziert, die der Sache der Terroristen weiteren Auftrieb verschafft – wie die Invasion im Irak für al-Qaida. Sollte eine der arabischen Revolutionen scheitern, ist es durchaus denkbar, dass der dortige Al-Qaida-Ableger Fuß fasst. Aber Wachsamkeit ist nicht gleichbedeutend mit rücksichtsloser und undifferenzierte Monomanie.
Selbst diejenigen, die es nicht selbst miterlebt haben, sagen, die Erinnerungen seien noch so lebendig – es komme ihnen vor, als sei es erst gestern passiert. Aber es ist nicht gestern passiert, sondern vor zehn Jahren. Wir sollten dem Jahrestag allen nötigen Respekt entgegenbringen und um die Verstorbenen trauern. Doch dann müssen wir dieses traurige und blutige Kapitel schließen und die Geisteshaltung zu Grabe tragen, die es hervorgebracht hat.
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