Prekär beschäftigte Arbeiter verdienen bis zu 50 Prozent weniger als fest angestellte
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Jeder Zentimeter von Margots Körper schmerzt, ihre Hände sind unter den Arbeitshandschuhen voller Blasen, die beim ständigen Schleppen geschlachteter Tiere aufplatzen können. Doch muss sie warten, bis sie nach Hause kann, um die Verletzungen mit Ammoniak zu behandeln. Es ist nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hat, als sie ihren Job in einer Kleiderfabrik in der Nähe ihres rumänischen Heimatdorfes aufgab, um in Westeuropa eine bessere Perspektive zu finden. Sie hatte geglaubt, die Arbeitsbedingungen in den Niederlanden – wo sie seit drei Jahren in einer Fleischfabrik arbeitet – seien entschieden besser als zu Hause. „Ich hatte nicht erwartet, dass es so schrecklich sein würde.“
Margot musste schnell feststellen, dass es zwei v
es zwei verschiedene Arten von Mitarbeitern gab: die Angestellten, die – wie sie sagt – meist Niederländer sind, und die prekär Beschäftigen, in der Regel Migranten wie sie, die härter arbeiten müssen, aber weniger verdienen. „Wer direkt bei der Firma angestellt ist, hat mehr Rechte, bekommt leichtere Arbeit, hat einen sichereren Job und weniger Arbeitsstunden.“Europas Fleischindustrie ist ein Multi-Milliarden-Geschäft, in dem gut eine Million Menschen beschäftigt ist. Wie die Gewerkschaften schätzen, haben in einigen Ländern Tausende von Arbeitern über Subunternehmen und Agenturen nur ein fragiles Arbeitsverhältnis und verdienen bis zu 40 oder 50 Prozent weniger als die feste Belegschaft im gleichen Unternehmen. „Eine Branche, die auf einem Zwei-Klassen-System der Erwerbsarbeit basiert“, urteilt die Gewerkschafterin Nora Labo, als sie vor dem irischen Parlament in Dublin Fleischfabriken und die „skrupellosen Praktiken“ einiger Arbeitsvermittler anprangert. „Für die Arbeitgeber ist diese Praxis ein Weg, alle Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern zu umgehen.“ Als 2020 Schlachthöfe Hotspots der Pandemie wurden, rückte die Fleischindustrie der EU ins Scheinwerferlicht. Die prekär Beschäftigten galten als besonders gefährdet. Viele beklagten, Angst um ihre Jobs zu haben, sollten sie wegen einer Corona-Infektion nicht mehr arbeiten können. Zudem waren die meisten in überfüllten und armseligen Herbergen untergebracht. Einige Firmen hatten nicht einmal die nötigen Daten, um einen Corona-Ausbruch nachverfolgen zu können. „Den Kern der Rechtsverstöße in der Fleischindustrie bildet das Subunternehmer-Modell“, konstatiert James Ritchie, Vizegeneralsekretär der Internationalen Gewerkschaft für Lebensmittelarbeiter in Genf. Der Einsatz von Leiharbeit sei in der EU-Fleischindustrie weiter verbreitet als irgendwo sonst in der entwickelten Welt. So seien in den vergangenen Jahren sogenannte Personalvermittler – Subunternehmer, Multiservice-Agenturen oder -Genossenschaften – wie Pilze aus dem Boden geschossen, um den wachsenden Bedarf der Branche an flexiblem Niedriglohn-Personal zu decken.Null-Stunden-VerträgeInzwischen werden Leiharbeiter fast durchweg von den Vermittlern eingestellt, bezahlt und „verwaltet“, inklusive Unterbringung und Transport. Fleischbetrieb und Arbeitskraft stehen demzufolge nicht mehr in einem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis. Stattdessen springt der Vermittler als Arbeitgeber ein, sodass es falsch ist, wenn Arbeiter unter solchen Umständen als „selbstständig“ deklariert werden. Dieses System unterhöhlt die Verantwortlichkeit der Betriebe für ihre Arbeiter und erlaubt es ihnen, gesetzliche Vorschriften für Bezahlung, Arbeitszeit, Unfallschutz und Krankengeld zu umgehen, und das in einem Sektor, der als körperlich anstrengend, ja, gefährlich gilt. Die Konsequenz sind „Null-Stunden-Verträge“, die festgelegte Arbeitszeiten umgehen und darauf zielen, den finanziellen Ausgleich für Überstunden und die gesetzlich verankerte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu meiden. Für die Betroffenen folgt daraus ein Leben in extremer Unsicherheit in Ländern, deren Sprache sie nicht beherrschen. Sie haben Probleme, Verträge und ihre gesetzlichen Rechte zu verstehen. Es kommt vor, dass Arbeiter nicht nur hohe Mieten für überfüllte Unterkünfte zahlen müssen, sondern zuweilen lange – manchmal Wochen – auf ihren Lohn warten. Eine weitere Schikane ist ein „Phasen-Vertragssystem“, das Vermittlungsagenturen gern nutzen, um Arbeiter für längere Zeit auf der niedrigsten Lohnstufe festzuhalten. In den Niederlanden ist es üblich, das gekündigt wird, bevor eine Lohnerhöhung ansteht oder Rentenbeiträge gezahlt werden müssen. Wer Glück hat, wird zu den bisherigen Konditionen, sprich: auf der untersten Lohnstufe, „neu“ eingestellt. Dazu befragt, erklärt der niederländische Verband der Fleischerzeuger, er könne nur für seine Mitglieder sprechen und glaube, dass diese Praxis nicht weit verbreitet sei. Der Verband habe kürzlich mit den Gewerkschaften, dem Minister für Soziales und Beschäftigung wie dem Agrarminister über dieses sogenannte Drehtür-System Gespräche geführt. Bis Ende 2021 solle es der Vergangenheit angehören.Um auf einzelne EU-Staaten näher einzugehen: Der Verband der britischen Fleischindustrie gibt an, derzeit etwa 97.000 Arbeitnehmer zu beschäftigen, und das zumeist in Betrieben, die Leiharbeit einsetzen würden. Über Daten, im welchem Umfang das geschehe, verfüge man nicht. Auf Subunternehmer werde zurückgegriffen, um den „saisonalen Bedarf“ zu decken, was dazu führe, dass die Zahl der Beschäftigten zu bestimmten Zeiten im Jahr erheblich zunehme. Schon 2010 war in einem Bericht der britischen Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission von Ausbeutung in dieser Branche die Rede. Leiharbeiter gaben schon damals an, dass sie sich wie „Bürger zweiter Klasse“ fühlten.Gewerkschaften wie Unite schätzen, dass Leiharbeiter etwa zehn bis 15 Prozent der Belegschaft in den britischen Betrieben stellen, in denen Beschäftigte Mitglieder der Gewerkschaften seien. Man habe aber keine Daten für andere Betriebe. „Die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern und Festangestellten sind die gleichen, aber Leiharbeiter werden schlechter bezahlt“, sagt Bev Clarkson von Unite. Mittlerweile warnt die britische Fleischindustrie, sie habe wegen des schrumpfenden Arbeitskräftepools durch den Brexit „einen Punkt der Verzweiflung erreicht“. Laut Clarkson wird wegen des EU-Ausstiegs der Einsatz migrantischer, durch Agenturen vermittelter Arbeitskräfte noch zunehmen, weil es Einheimische nicht unbedingt in Fleischfabriken zieht.In Italien arbeiten etwa 21.000 Menschen in diesem Sektor, wobei mehr als 50 Prozent an den Schlachtstraßen und 25 Prozent in der Fleischverarbeitung aus Osteuropa, vom Balkan, aus Nord- und Zentralafrika, sogar Ostasien kommen. Sie werden weitgehend über Dienstleistungskooperativen angestellt, über die sie nach Angaben von Gewerkschaften bis zu 40 Prozent weniger kosten. Bei vielen dieser Unternehmen handelt es sich um Scheinfirmen, die in betrügerischer Absicht von den Schlachthöfen gegründet wurden, wie eine von der EU finanzierte Untersuchung der italienischen Fleischindustrie ergab. Dafür in Betracht kommen häufig Subunternehmen aus dem Transportsektor, um die durch Tarifverträge vereinbarten höheren Löhne in der Lebensmittelindustrie zu vermeiden. Eine Praxis, wie sie auch für die belgische Fleischindustrie üblich ist.Das fragwürdige Vermittlungssystem spiegelt Veränderungen in der EU-Fleischindustrie während der vergangenen Jahrzehnte: den Griff nach großen Marktanteilen durch wenige Unternehmen und einen rasanten Rückgang kleiner unabhängiger Metzgereien und Schlachthöfe. Große Schlachthäuser können 24 Stunden am Tag produzieren, sie decken die Nachfrage von Einzelhändlern oder Lebensmittelketten, die je nach Bedarf riesige Mengen an billigem Fleisch ordern. In Gang gehalten wird dieses System durch einen enormen Pool von Rumänen, Litauern, Letten, Polen und Ungarn, die nach der EU-Erweiterung ab 2004 bereit waren zur Arbeitsmigration. Viele kamen aus postindustriellen Gegenden wie früheren Bergbauregionen in Moldawien und Rumänien, die jungen Leuten keine Beschäftigung boten. Ihr Weg auf den Arbeitsmarkt wird mittlerweile häufig über die sozialen Medien beworben, aber wie? „Die Menschen werden mit dem Versprechen eines besseren Lebens getäuscht“, kritisiert Volker Brüggenjürgen, Leiter des Caritas-Verbandes Gütersloh.Placeholder authorbio-1