Als Ovidio Tecos Heimat am Amazonas 2011 von der bolivianischen Regierung für „unantastbar“ erklärt wurde, hatte er geglaubt, sein Kampf sei gewonnen. Man hatte auf die Bedenken von Leuten wie ihm gehört. Ihr wunderbares altes Land sollte durch eine gut 300 Kilometer lange Autobahn in zwei Teile zerschnitten werden. Daraufhin marschierten tausende Indigene zwei Monate in Richtung La Paz, um sich dagegen zu wehren. Die Teilnehmer mussten Tränengas und Polizeiknüppel ertragen, hielten aber stand, verschafften sich öffentliche Aufmerksamkeit und brachten Präsident Evo Morales dazu, ihnen zuzuhören und zu handeln. Der Bau der Trasse wurde storniert und dem Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Secure (kurz: Tipnis) ein Sonderstatus gewährt, der das Gebiet künftig derart invasiven Großbauprojekten entziehen sollte. Sechs Jahre später macht die Regierung plötzlich einen Rückzieher. In Rekordzeit wurde im Juli ein Gesetz durch das Parlament gebracht und am 13. August von Präsident Morales unterzeichnet. Danach ist es um den Sonderstatus des Parks geschehen, der Weg für das bereits zuvor erwogene Straßenbauprojekt wieder frei.
Teco sitzt an seinem Küchentisch. Die Stimme zittert, während er wild gestikuliert und sich aufregt. „Sie haben uns angelogen. Nach der Demonstration dachten wir, der Park werde nie mehr angerührt. Alles Lügen.“ In der Gemeinde Mojeño bei Gundonovia, einer abgelegenen Siedlung mit ungefähr 40 Familien im Nordosten des Parks, baut er Kakao an, um damit eine kleine Schokoladenfabrik zu beliefern. Nur ein paar Meter entfernt fließt der Isiboro gemächlich dahin, unterbrochen wird die Ruhe nur hin und wieder von den Geräuschen der Amazonasdelfine, die an die Oberfläche kommen, um Luft zu holen. Mit offenen Mäulern liegen Alligatoren an den Ufern und sonnen sich bewegungslos.
Der Nationalpark umfasst eine Fläche von 1,2 Millionen Hektar. Die rund 14.000 Menschen, die das Gebiet bevölkern, sind in der Hauptsache Angehörige der indigenen Gruppen der Mojeño-Trinitario, der Yuracaré und Tsimané. Wie Teco fürchten viele, dass der Bau einer Straße durch das indigene Schutzgebiet die Artenvielfalt zerstört. 2011 kam eine Studie des Program for Strategic Investigation in Bolivia zu dem Ergebnis, dass es innerhalb von nur 18 Monaten zu einer 64-prozentigen Entwaldung kommen könne, sollte hier eine Straße asphaltiert werden.
„Es ist nicht die Trasse selbst, sondern das, was sie mit sich bringt. Koka-Produzenten werden zur Landnahme schreiten und sich niederlassen. Sie werden sich das Holz aneignen, Koka-Blätter pflanzen und unser Naturreservoir zerstören. Und dort, wo die Straße verlaufen soll, herrscht nun einmal die größte Artenvielfalt“, sagt Pablo Solón, ein früherer UN-Botschafter des Landes, der wegen des Streits um Tipnis 2011 aus der Regierung Morales ausgeschieden ist.
Das Kernstück des Parks, durch das die geplante Route führen soll, ist vielen indigenen Gruppen heilig. Viele kommen hierher, um die Tiere zu jagen, die während der Regenzeit in der Gegend Zuflucht suchen. „An dem Tag, an dem die Regierung das Land aufreißt, wird das alles verschwinden. Wer wird darunter leiden? Wir, die wir im Tipnis leben. Die Tiere werden sterben. Uns wird es ebenso ergehen“, sagt Teco.
Die Regierung erklärt dazu, es sei notwendig, dem Gebiet den Sonderstatus zu entziehen, um die im Park gelegenen Gemeinden besser an die öffentliche Infrastruktur anbinden zu können, Schulen und Hospitäler zu bauen. Immer wieder werden die Ergebnisse einer Befragung aus dem Jahr 2012 zitiert, die den Eindruck erweckt, die betroffene Bevölkerung unterstütze die Planungen. „Es ist ihre Entscheidung. Die Leute wollen, dass sich ihre Lebensbedingungen verbessern, und dazu gehört eine Straße“, meint Susana Rivero Guzmán, Abgeordnete des regierenden Movimiento al Socialismo (MAS), und weist auf das Meinungsbild hin: 58 der 68 im Tipnis gelegenen Gemeinden hätten sich dafür ausgesprochen, den Status der Unantastbarkeit aufzuheben. Die Gegner des Projekts reklamieren hingegen, die Umfrage sei manipuliert worden. Man habe nur handverlesene Leute in den verschiedenen Gemeinden befragt. Wer teilnahm, dem seien zudem Vergünstigungen in Aussicht gestellt worden. „Sie gaben den Leuten Mobiltelefone, sie schenkten ihnen Küchenherde, Fernsehgeräte, teilweise Geld. So kam am Ende heraus, dass eine Mehrheit die Straße will – alles sehr dubios“, glaubt Teco.
Eine gemeinsame Beurteilung durch Menschenrechtsorganisationen und die katholische Kirche kam Ende 2016 zu dem Schluss, dass die Befragung weder frei war noch auf informierte Bürger Wert legte. Sie habe auch nicht dem Grundsatz von Treu und Glauben entsprochen.
Manche Bewohner könnten mit einer Straße durch den Park gut leben, sollte die ihnen einen besseren Zugang zur Außenwelt verschaffen. Das trifft allerdings nicht auf Gemeinden zu, die entlang der östlichen Flanke des Schutzgebiets liegen „Wenn das für uns Vorteile hätte, würde ich das Projekt unterstützen“, sagt Carmen Leni, die in Gundonovia als Grundschullehrerin arbeitet, während sie mit einem Geschirrtuch die Moskitos von ihren Beinen vertreibt. „Wenn es den Leuten ermöglichen würde, Waren schneller zu versenden und zu empfangen, wäre das in Ordnung, aber dazu kommt es nicht, da die Straße hier nicht verlaufen wird.“
Die Befragung war nicht frei
Nutzen würde die Straße stattdessen den Cocaleros, den Kokabauern, glauben die Menschen hier. Diese haben bereits die im Süden des Parks gelegene Region Polygon 7 kolonisiert. Die Carretera würde ihnen erlauben, weiter in Richtung Norden vorzudringen und neues Land für ihre Sträucher zu erschließen. Die Bauern, die Koka-Blätter anbauen – diese werden in den Anden seit Jahrhunderten wegen ihrer heilenden wie betäubenden Wirkung konsumiert, sind daher zugleich Grundstoff für die Herstellung von Kokain –, verschaffen der jetzigen Regierung sozialen Rückhalt. Präsident Morales soll selbst einst Koka-Bauer gewesen sein.
Letzten Endes gehe es in diesem Konflikt um völlig entgegengesetzte Sichten sozialer Gruppen, die auf ihrem Existenzrecht beharren würden, meint Carwil Bjork-James, ein Anthropologe der Vanderbilt University in Tennessee. „Grundsätzlich glaube ich, dass die Weltanschauungen der Koka-Bauern und der Bewohner der Gemeinden Yuracaré, Mojeño und Tsimané meilenweit auseinanderdriften, zumindest, wenn es um die Pläne geht, wie Biotope und Territorien genutzt werden sollen.“ Tatsächlich dreht sich für die Cocaleros alles darum, ertragreiche Pflanzen zu finden und ein kleines Stück Wald in eine Parzelle zu verwandeln, auf der sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aber für Menschen, die weiter in Tuchfühlung mit dem Wald leben, handelt es sich um heiliges Land, das keine Eigentumsgrenzen kennt. „Diese indigenen Gemeinschaften“, sagt Bjork-James, „sind es gewohnt, sich aus ihrem Lebensraum, nicht zuletzt aus den Flüssen, das holen zu können, was sie eben brauchen.“
Pablo Solón, der ehemalige UN-Diplomat, fürchtet, es könnte jetzt ein Wendepunkt erreicht sein. Die Regierung wolle Stärke demonstrieren, sie sei begierig darauf, ein Zeichen zu setzen, sich von den indigenen Gemeinden nichts vorschreiben zu lassen. „Ich glaube, es geht im Tipnis um viel mehr als eine Straße. Es soll einem Entwicklungsmodell Vorschub geleistet werden, das die Regierung als Muster etablieren möchte. Es ist so, als würde jemand auf den Tisch hauen und sagen: ‚Seht, wir werden es tun, weil wir es tun müssen.‘“
Für Teco handelt es sich um den Teil eines größeren Patts zwischen denjenigen, die ihre Umwelt bewahren wollen, und Interessen von außen, die ihr schaden. „Die Natur gibt uns Leben. Wenn es jedoch mit dem Schutzstatus für dieses Gebiet vorbei ist, wird dessen Ökosystem kollabieren. Wir spüren den Klimawandel bereits. Weltweit werden Menschen darunter leiden. Doch werden wir bis zum Ende weiterkämpfen. Solange wir leben, werden wir das tun ...“
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