Schon der Titel von Iamus' Komposition Transits – Into an Abyss lässt ahnen, dass da etwas sehr Anspruchsvolles und Modernistisches auf den Hörer zukommt. Die Streicher häufen dissonante Akkorde an, gespenstisch und unheilvoll. Wer Bartók, Ligeti und Penderecki mag, dem könnte es gefallen. Man kann kaum leugnen, dass der Kerl genau weiß, was er da tut.
Dabei hat er genau genommen keine Ahnung von nichts. Denn Iamus ist ein Computerprogramm. Bis die Partitur dem Londoner Symphony Orchestra (LSO) ausgehändigt wurde, hatte kein Mensch Einfluss auf die Musik genommen. „Wenn wir das den Leuten erzählen, glauben sie, wir wollten sie zum besten halten“, sagt Francisco Vico, der Iamus mit einer Forschungsgruppe der Universität von Malaga entwickelt hat. „Einige sagen, sie würden uns das einfach nicht abnehmen. Andere finden es gruselig.“ Vico erwartet, dass die Musik viele Leute irritieren wird, wenn Iamus' erste CD, die von hochrangigen Musikern wie dem LSO aufgenommen wurde, im September veröffentlicht wird.
Mensch oder Maschine?
Man kann sich aber schon heute Abend einen Eindruck verschaffen, wenn einige der Kompositionen in einem Live-Stream aus Malaga zu hören sein werden.
Die Veranstaltung findet aus Anlass des hundertsten Geburtstages von Alan Turing statt – dem Mann, der einen Großteil der theoretischen Grundlagen der modernen Computertechnologie entwickelt hat. Turin entwickelte auch den nach ihm benannten Test zur Unterscheidung von menschlicher und künstlicher Intelligenz, der durch die Anfangssequenz von Blade Runner berühmt wurde. (Wer möchte, kann auf der Seite es Guardian selbst eine Art musikalischen Turing -Test machen und erraten, welches der Stücke von einem Computer „erdacht“ wurde)
Iamus – benannt nach dem Sohn Apollos, der die Sprache der Vögel verstehen konnte, komponiert, indem er einfaches Ausgangsmaterial in einer Weise verändert, die der biologischen Evolution verwandt ist. Jede der Kompositionen besitzt einen musikalischen Kern, ein „Genom“, dessen Komplexität stufenweise zunimmt. „Iamus generiert automatisch einen bestimmten Bestand an Kompositionen, deren Genome allerdings so einfach sind, dass sie sich kaum zu einer Handvoll von Tönen entwickeln und nur wenige Sekunden lang andauern. Mit fortschreitender Entwicklung werden Inhalt und Ausmaß des ursprünglichen genetischen Materials verändert, so dass die Stücke immer länger und elaborierter werden“, erläutert Vico. Alles, was die Wissenschaftler vorher festlegen, sind die ungefähre Länge des Stücks und die Instrumentierung.
„Ein einziges Genom kann viele Melodien enthalten“, erklärt der Komponist Gustavo Díaz-Jerez von Musikene, der Musikhochschule des Baskenlandes in San Sebastian. Er hat von Anfang an mit dem Team in Malaga zusammengearbeitet und bei den Aufnahmen das Piano eingespielt. „Die Musik ergibt für uns Sinn, weil man dieselbe Idee eines Genoms in unsrem westlichen Kanon findet.“ Der Computer gibt keinerlei besondere Ästhetik vor. Auch wenn die meisten seiner ernsthaften Stücke im Stile der modernen Klassik gehalten sind, so kann das Programm dennoch auch in anderen Genres und für jede erdenkliche Besetzung komponieren. Der darwinistische Kompositionsprozess bietet sich auch dafür an, Variationen altbekannter Stücke zu schaffen, oder zwei und mehr Stücke zu vermischen, um Nachkommen zu zeugen – musikalischer Sex, wenn man so will.
Schwedische Kinderlieder & Bach-Harmonien
Die Verwendung automatisierter Regelsysteme wie Computer und Algorithmen zur Komposition hat eine lange Tradition. Der griechische Komponist Iannis Xenakis hat bereits in den 1960ern damit gearbeitet, und in den folgenden zwei Jahrzehnten entwickelten zwei schwedische Wissenschaftler einen Algorithmus zur Komposition von Kinderliedern im Stile des schwedischen Komponisten Alice Tegnér. In den 1980er Jahren entwickelte der Informatiker Kemal Ebcioglu ein Programm, das Choräle mit Harmonien im Stile Bachs unterlegte.
Mit der Erweiterung der Möglichkeiten künstlicher Intelligenz und der zunehmenden Lernfähigkeit der Maschinen nahmen auch die Möglichkeiten für maschinelle Musik zu: Computer waren von nun an in der Lage, aus menschlichen Kompositionen die Regeln und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, anstatt lediglich mit ihnen gefüttert zu werden. Der Informatiker John „Al“ Biles entwickelte einen Algorithmus namens GenJam, der sich Jazzimprovisationen beibringen kann. Unter dem Namen Al Biles Virtual Quintet spielt Biles Trompete zu den von GenJam produzierten Klängen. Er räumt allerdings ein, dass es sich bei dem Alogrithmus um einen eher mittelmäßigen Musiker handle. Dasselbe gilt für GenBebop, der von den Kognitionswissenschaftlern Lee Spector und Adam Alpern entwickelt wurde. Das Programm improvisiert Soli im Stile Charlie Parkers, indem es dessen Spiel „anhört“ und seine eigenen Versuche unter den Ohren eines letztlich wenig anspruchsvollen automatisierten internen Kritikers wiederholt.
Eines der überzeugendsten Systeme war der von François Pachet in Sonys Pariser Informatik-Labor entwickelte Continuator. In einem Turing-Test, bei dem der Continuator Licks (Musikalische Phrasen oder Wortgefüge) mit einem improvisierenden menschlichen Pianisten austauschte, waren die zuhörenden Experten zumeist nicht in der Lage, zu sagen, wer gerade spielte.
Für den Aufzug taugt es allemal
Aber auch das war kein Beweis dafür, dass ein Computer aus sich heraus passable Musik schaffen kann. Einer der bekanntesten Versuche ist das von Musikprofessor David Cope geschaffene Programm Emily Howell. Doch Howells langweilige, in aufgelösten Akkorden gehaltene Kompositionen klingen wie ein technisch begabtes Kind, das versucht, Beethoven oder Bach nachzuahmen; wie Michael Nyman, wenn er einen schlechten Tag erwischt hat: gut für den Aufzug, aber nicht für den Konzertsaal.
Iamus ist anders. Hier wurde von einem Computer gesetzte Musik zum ersten Mal für gut genug befunden, um von Spitzen-Instrumentalisten aufgeführt zu werden. Gustavo Díaz-Jerez sagt, das London Symphonic Orchestra sei am Anfang ein wenig skeptisch, dann aber sehr überrascht gewesen. Die Sopranistin Celia Alcedo habe gar nicht glauben können, welche Ausdruckskraft manche der von ihr zu singenden Passagen besitzen.
Anders der Vorsitzdende des LSO, Lennox Mackenzie: „Mir kam es vor wie eine Wall of Sound. Wenn man dieser Musik eine Farbe zuweisen sollte, wäre das Grau. Sie hat kein Ziel, ist zu dicht und massiv, kein Instrument hebt sich an irgendeiner Stelle ab. Aber am Schluss fand ich es dann doch irgendwie ganz gut. Was mich auch gewundert hat, waren all die Vortragsbezeichnungen, die völlig willkürlich und bedeutungslos wirken. Normalerweise versenke ich mich in eine Musik, um herauszufinden, was es mit ihr auf sich hat. Aber hier glaube ich nicht, dass ich etwas finden werde.“ Das soll aber auf keinen Fall entmutigend klingen. „Ich fühlte mich davon nicht abgestoßen. Es hat etwas. Ich würde sagen, sie sollten es weiter versuchen.“
Und wie soll man das interpretieren?
Beunruhigend ist, dass Iamus dieses Material endlos produzieren kann: tausende von Stücken komplett auskomponiert und spielfertig, von denen Díaz-Jerez viele für „großartig“ hält. Kann die Musik aber wirklich gut sein, wenn es so einfach ist, sie zu erzeugen? Díaz-Jerez ist der Ansicht, die Stücke seien oft besser als die Werke einiger Avantgarde-Komponisten, die in ihrer eigenen Logik schwelgten, aber praktisch unspielbar seinen.
Wie aber interpretiert man als Musiker ein solches Stück, hinter dem keine „Intention“ eines Komponisten steckt, die man ergründen könnte? „Wenn ich eine Partitur in einer Bibliothek finde, von der ich nicht weiß, wer sie komponiert hat, nähere ich mich ihr genauso wie diesen Stücken. Ich analysiere die Partitur, um herauszufinden, wie sie funktioniert“, sagt Díaz-Jerez. In dieser Hinsicht kann er keinen Unterschied zur Erschießung der Struktur einer Bachfuge erkennen.
Der Musikphilosoph Stephen Davies von der Universität von Auckland in Neuseeland meint, man könne es mit Computerschach vergleichen. „Lange Zeit hat es geheißen, dass Rechner nicht zu originärem Denken in der Lage seien, sondern lediglich willkürliche Berechnungen anstellen könnten. Heute aber fällt es sehr schwer, in Bezug auf die Kreativität Unterschiede zwischen Computern und Menschen zu erkennen. Auch Musik wird auf eine Weise von Regeln bestimmt, die sie leicht imitierbar machen müsste.“
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