David Chipperfield steht in der Halle des Folkwang-Museums in Essen. Draußen warten mehrere tausend Menschen in einem Schneeregen, der sich zu einem stürmischen Graupelschauer auswächst. Die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie ihre Museen lieben, insbesondere hier im Tal der Ruhr. Doch diese Schlange ist selbst dort bemerkenswert. Weshalb sind sie hier? Da wären zum einen natürlich das Gebäude selbst und die Werke, die darin ausgestellt sind. Aber die eigentliche Attraktion ist, dass hier ein Museum, das von den Nazis geplündert, von den Alliierten zerstört und in den Achtzigern unschön wieder aufgebaut wurde, von einem britischen Architekten kraftvoll und elegant zu neuem Leben erweckt wurde, der einen Großteil seines Lebens der Aufgabe widmete, Deutschland wieder Form zu verleihen.
„Der größte Feind der Kunst ist der Architekt“, sagt Chipperfield, der unlängst von der britischen Königin zum Ritter geschlagen wurde, mit einem Blick auf die Schlange. Dies sei, fügt er mit einem Lächeln hinzu, ein Zitat des großen Kunstkritikers David Sylvester. „In den vergangenen Jahren haben sich die Kunstgalerien zu Schauerkabinetten entwickelt. Alles drehte sich darum, wie verrückt die Gebäude sind, es ging zu wenig um die Kunst.“ Er weist auf die verglasten Galerien im Folkwang, die, leuchtend zwischen all dem geschliffenen Beton und dem grauen Stahl, um ein Raster von Innenhöfen angeordnet sind. „Hier steht die Kunst an erster Stelle: Man muss nicht mehr als ein paar Schritte gehen, um sie zu finden.“
Chipperfield ist verärgert darüber, dass die Architektur seit einigen Jahren einer skrupellosen Kommerzialisierung unterworfen ist. Das Resultat seien nichtssagende Billig-Gebäude, ein Phänomen, das vor allem in Großbritannien zu beobachten sei. Es ist kein Zufall, dass Chipperfield drei seiner besten neuen Werke in Deutschland realisiert hat: Das Folkwang Museum, das exquisit proportionierte Literaturmuseum der Moderne in Marbach und das Neue Museum in Berlin, das ebenfalls im Krieg zerstört und nun sehr beeindruckend wieder aufgebaut wurde.
Und so wurde Chipperfield sowohl für seine Verdienste um die Architektur in Großbritannien als auch in Deutschland zum Ritter geschlagen. Gerade in Deutschland schätzt man qualitativ hochwertige Architektur immer noch so sehr wie stabile Autos und glänzende Züge. Das Folkwang, das eine beidruckende Sammlung beherbergt, ist ausdrücklich ein Bau der Moderne. Mit seiner eingeschossigen Struktur, den Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichen, den horizontalen Linien, seinen frei stehenden Ebenen und der sorgfältig gearbeiteten Struktur ist es Chipperfields Hommage an Mies van der Rohe. Dessen kristallklare Gebäude setzten den Standard für eine Form des architektonischen Purismus, die bis heute unübertroffen ist.
Eine moderne Burg
„Großbritannien mag Schnäppchen“, meint Chipperfield, „aber für ein Butterbrot bekommt man keine gute, nachhaltige Architektur. Sieht man sich die Gebäude von Mies van der Rohe an, dann meint man im ersten Moment vielleicht, dass sie sehr simpel sind. Doch auf den zweiten Blick begeistern die wahre Qualität der Konstruktion und der Materialen und die Idee, die dahinter steht.“
Chipperfields Kompromisslosigkeit hat ihm in Großbritannien, wo architektonische Meisterleistungen die Ausnahme sind, nicht immer nur Freunde eingebracht. Allerdings ist es ein Mythos, dass er dort keine Aufträge bekäme. Zu seinen aktuellen Projekten in Großbritannien zählen die Hepworth-Wakefield-Skulpturengalerie in Yorkshire, die Turner Contemporary im Margate und eine umfassende Überholung der Royal Academy in London. Gerade mit der Turner Contemporary kann Chipperfields die Fähigkeit unter Beweis stellen, dass er sein strenges Design an jede Umgebung anpassen kann, selbst wenn es sich dabei um einen so bodenständigen Ort wie das britische Fischerdorf Margate handelt. Die Turner Contemporary soll ein leuchtender Bau aus spitzen Winkeln werden, der die Silhouette von Margate erhellt. Sie soll wie eine moderne Burg hoch über den Wellen aufragen, vom Museum aus soll man einen grandiosen Blick über das Meer haben.
Es hat jedoch eine ganze Weile gedauert, bis Chipperfield mit solchen Projekten beauftragt wurde. Der Architekt, der 1953 in London geboren wurde und an der Architectural Association studierte, erwarb seine Meriten in den Achtzigern in Japan. Seinen Erfolg begründete, wenn auch langsam, seine Hingabe an die Qualität, die Idee und die Fertigung der Gebäude. Er ist als Architekt und als Dozent tätig, eine Zeitlang betrieb er eine Architekturgalerie, die er, in Anlehnung an die entsprechende Bleistifthärte, 9H nannte. Die Galerie sollte insbesondere damals noch unbedeutende europäische Architekturbüros wie Herzog de Meuron bekannt machen.
Mit Sternchen
Kraftvoll, aber anmutig, voller Wucht, aber ohne Kunstkniffe – damit könnte Chipperfields Architektur nach den Exzessen der Neunziger den Weg in ein neues Zeitalter der Enthaltsamkeit weisen. Man kommt kaum umhin, das Folkwang als eine Rüge des Architekten an sein Heimatland zu deuten, insbesondere wenn man hört, mit welcher Leidenschaft er über dieses Thema spricht:
„In Großbritannien pflegen wir eine Art Bordmagazin-Lifestyle, anstatt dass wir die architektonische Kultur schätzen, wie das in den meisten Ländern Europas der Fall ist. Die Marke, der Verkauf und die 'Zugänglichkeit' sind alles, letzteres bedeutet im Prinzip nichts anderes als Verflachung. Wir behandeln die Leute – selbst die, die bereit sind, eine Wanderung durch den Schnee auf sich zu nehmen, um eine Galerie oder ein Museum zu besuchen –, als hätten sie keine Ahnung von nichts.
Doch das ist falsch. Wir rühmen uns in Großbritannien eines Planungskonzepts, der sogenannten 'developement control', die klingt, als ginge es um die Eindämmung der Pest und nicht darum, unsere Städte zu interessanteren Orten zu machen. Die meisten Architekten arbeiten in Büros, die von der akademischen Welt vollkommen losgelöst sind, als wären Ideen, Kritik und Geschichte irrelevant. Und wir tun viel zu wenig, um junge Architekten zu fördern, die eigentlich Architekturwettbewerbe für öffentliche Gebäude gewinnen sollten. Wir haben keine Bau- und Planungsbehörden, die solche Wettbewerbe ausschreiben und durchführen, zumindest nicht in dem Ausmaß, wie es bei euch auf dem Kontinent der Fall ist. Man bekommt in Großbritannien den Eindruck, dass neue Architektur eher zufällig als geplant entstehen.“
Als ich ihn in seinem Büro in London besuche, zeigt Chipperfield mir eine Webseite, die alle neuen Ausschreibungen sammelt, die Architekten aus ganz Europa offenstehen. Auf dem Kontinent gibt es viele, in Großbritannien nur wenige. Die meisten Ausschreibungen auf dem Kontinent sind mit Sternchen versehen. „Das bedeutet, dass es sich um Wettbewerbe handelt, bei denen der Architekt mit dem gesamten Projekt betraut wird. Bei denen ohne Sternchen werden lediglich Architekten gesucht, die ein paar Zeichungen für die Baugenehmigung erstellen. Wenn der eigentlich interessante Prozess beginnt, können sie abhauen.“
Die deutsche Presse scheint ausnahmslos zu lieben, was Chipperfield in Essen gemacht hat. Etwa 300 deutsche Journalisten waren bei der Eröffnung anwesend, nicht alle kamen von den anspruchsvollen Qualitätszeitungen. Selbst der Boulevard applaudierte. „Ich habe sogar von der BZ einen Kulturpreis verliehen bekommen,“ erzählt Chipperfield. „Das ist in etwa so, als würden The Sun oder The Daily Sport Preise für moderne Architektur ausloben.“
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