Die neunjährige Lucie Niyigena war völlig in Panik und verwirrt, als sie über die blutüberströmte Leiche ihres Großvaters stieg, um durch die Hintertür der Kirche zu entkommen. Damals – so erinnert sie sich fast zwei Jahrzehnte später – sei sie nur von einem Drang beherrscht worden, der stärker als alles andere gewesen sei – im Tod nicht von ihrer Mutter getrennt zu sein. „Alles, woran ich denken konnte, war, dass ich bei ihr sein wollte, was auch immer passiert. Noch heute – obwohl ich eigentlich von hier weg will, weil an diesem Ort so viel Schreckliches geschehen ist, und es noch immer Leute gibt, die wollen, dass sich alles wiederholt – könnte ich meine Mutter niemals verlassen.“
Im April ist Lucie in die Kirche zurückgekehrt und hat vorsichtig einige Schädel der Tutsi gewaschen, die dort im Frühjahr 1994 an einem einzigen Tag ermordet wurden. Dank einiger Hutu-Polizisten und einiger Nachbarn konnten Lucie und ihre Mutter Madalena Mukariemeria überleben. Das war in dieser Gegend weniger als einem von 30 Tutsi vergönnt. Insgesamt fielen zwischen April und Juni 1994 800.000 Angehörige dieser Volksgruppe den von einer extremistischen Hutu-Regierung ausgelösten Massakern zum Opfer.
Doch das Überleben hat einen Preis. Der Massenmord hat Lucies Leben bestimmt, auch wenn sie noch ein kleines Mädchen war, als vor 19 Jahren die Welle des Todes über die 48.000 Einwohner zählende Stadt Kibuye am Rande des Kivu-Sees hereinbrach.
War sie in der ersten Zeit danach traumatisiert, gab es später auch manchen Hoffnungsschimmer, ebenso Misstrauen und Angst. Die Regierung des ehemaligen Rebellenführers Paul Kagame, der im Juni 1994 mit seiner Patriotischen Front (FPR) dem Völkermord ein Ende bereitete, will ein neues Ruanda aufbauen, in dem die Ideologie des Hasses für immer begraben sein soll. Wie die Leichen der Opfer.
Lucie Niyigena ist Teil eines einzigartigen Experiments, bei dem ein ganzes Land dazu gedrängt wurde, Buße zu tun, zu vergeben und sich auszusöhnen, ohne zu vergessen. Das bedeutete: Die Mörder gestehen und bitten um Gnade. Sie werden von den Überlebenden, deren Familien getötet wurden, wieder als Nachbarn akzeptiert, wenn sie aus der Haft entlassen werden. Mittlerweile wird einer neuen Generation nahegebracht, die Unterscheidung in Hutu und Tutsi abzulegen und im Wiederaufbau Ruandas eine gemeinsame Mission und ein neues Selbstverständnis zu finden.
Einige nahmen diese Versöhnung tatkräftig an. In Kibuye haben Hutu, die 1994 zu Schlächtern geworden waren, ihre Verbrechen gestanden und von Reue gesprochen. Durch einige Überlebende wurden sie daraufhin als geläuterte Seelen angenommen. Kratzt man aber an der Oberfläche, wird sichtbar: Schock und Schmerz sitzen nach wie vor tief, überwunden sind sie nicht.
Als würden Fische gefangen
Ein paar Meter von der Stelle entfernt, an der Lucie die Schädel der Toten säubert, kehrt ein Mann Blätter von einem Massengrab, in dem etwa 4.000 Tutsi begraben liegen. Er kommt mir bekannt vor, trägt er doch noch immer den gleichen sauber rasierten Bart und hat noch immer den gleichen gehetzten Blick. Ich traf ihn 1994 ein paar Wochen nach dem Massaker in der Kirche, als der Geruch der Toten, die man einfach vor die Tür geworfen hatte, über der Sonntagsmesse hing. Mitglieder der Gemeinde hielten sich Tücher vors Gesicht, während sie beteten. Sie machten die Tutsi selbst für deren Tod verantwortlich.
Lucie erinnert mich schließlich an den Namen des Mannes. Er heiße Thomas Kanyeperu, sei früher schon Gärtner der Kirchengemeinde gewesen und habe wegen Beihilfe zum Genozid neun Jahre gesessen. „Er beteuerte, unschuldig zu sein“, erzählt Lucie, „und Tutsi gerettet zu haben. Vielleicht hat er ein paar gerettet. Andere aber hat er getötet. Selbst heute noch hasst er uns. Sie werden sehen.“
Die Massaker waren in Kibuye und der umliegenden Provinz so effizient – von den 250.000 in der Gegend lebenden Tutsi wurden bis auf 8.000 alle getötet –, dass sie als der „reine Genozid“ traurige Berühmtheit erlangten. Das war zum Teil das „Verdienst“ von Provinzgouverneur Clément Kayishema, eines Arztes, der vor den marodierenden Interahamwe-Milizen der Hutu-Extremisten fliehende Tutsi im Radio dazu aufforderte, in der Kirche von Kibuye Zuflucht zu suchen. Die Bedrängten bemerkten schnell ihren Fehler. Die Kirche lag auf einer kleinen Halbinsel im Kivu-See. Als dort am 17. April 1994 das Morden begann, war jeder Fluchtweg verschlossen. Einige wollten sich aus der Kirche ins Wasser retten, doch wurden aus Booten Granaten in den See geworfen – als wollten die Interahamwe-Milizionäre Fische fangen.
Lucie und ihre Mutter Madalena saßen im Inneren der Kirche fest, als die Killer hineinstürmten und mit Macheten um sich schlugen. Als Tutsi durch eine Hintertür fliehen wollten, wurden sie erschlagen. Auch Lucies Großvater. Andere wurden von Männern, die mit Nägeln übersäte Knüppel schwangen, zur Exekution aufgestellt. Am Abend dieses Tages lagen in der Kirche und ringsherum Tausende von Leichen. 24 Stunden später wurden im Fußballstadion von Kibuye noch einmal etwa 10.000 Tutsi getötet. Gerettet wurden Lucie und Madalena durch Polizisten, die so taten, als würden sie die beiden zur Hinrichtung bringen. „Als sie uns abführten, hörten wir das Weinen eines Kindes. Wir zitterten vor Angst und dachten, dadurch würden die Interahamwe angelockt“, erinnert sich Lucie. „Ich dachte bei mir: Halt den Mund! Sei still oder stirb!“ Doch ein Polizist rettete den Jungen, der heute als Offizier in der ruandischen Armee dient.
Lucie und Madalena fanden bei Nachbarn Zuflucht; als das zu gefährlich wurde, versteckten sie sich in einem Bananenhain. Doch es half nicht viel, Madalena wurde entdeckt, vergewaltigt und schließlich von einem Hutu-Geschäftsmann vor dem sicheren Tod bewahrt, weil der die Interahamwe mit seinem Geld bestach.
Nach dem Genozid nahm die heute 62-jährige Madalena sechs Waisen aus ihrer erweiterten Familie auf. Savera Mukasharango, eine ihrer Pflegetöchter, beging mit 15 Jahren Selbstmord, nachdem sie auf den Straßen Kibuyes den Mörder ihres Vaters getroffen und diesem von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte. „Das traf sie so sehr, dass sie sich danach in den See warf und ertrank“, erzählt Madalena. „Heute verlangt man von uns, mit den Leuten zusammenzuleben, die unsere Familien auf dem Gewissen haben. Man sagt uns, es tue ihnen leid, und sie würden es nicht wieder tun. Ich gehöre nicht zu denen, die an Reue glauben.“
Ein paar Jahre nach dem Völkermord reiste ich mit Tharcisse Karugarama zusammen nach Kibuye. Der damals gerade neu ernannte Staatsanwalt für die Region hatte einen kleinen verstümmelten Waisenjungen adoptiert, dem die Interahamwe die Arme abgehackt hatten. Mit der Zeit stieg Tharcisse auf, vom Staatsanwalt zum Richter und dann zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs. Als Ruandas Justizminister musste er sich mit der Frage beschäftigen, wie mit nahezu 150.000 Tätern weiter verfahren werden sollte, die nach 1994 in überfüllte, stinkende Gefängnisse gepfercht worden waren.
Die Überlebenden verlangten Gerechtigkeit für ihre toten Väter, Mütter und Kinder, doch verfügte die Regierung weder über genügend Richter noch Gerichtssäle, um allen den Prozess zu machen. Sie stand vor der Entscheidung, sie ohne ordentliches Verfahren im Gefängnis zu behalten oder freizulassen – ohne Sühne für ihre Taten. Beides drohte die bittere Erinnerung an den Genozid noch weiter zu belasten. Andererseits wollte Präsident Kagame eine neue ruandische Identität jenseits von Hutu und Tutsi. Die Antwort wurde letzten Endes bei jener traditionellen Rechtspflege gefunden, die unter dem Begriff Gacaca bekannt ist und zu einer Mischung aus Verhandlung und lokalen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen führte. Die Herausforderung bestand darin, die Mörder zu Geständnissen zu bewegen und den Überlebenden bei der Suche nach dem Ort zu helfen, an dem ihre Angehörigen ermordet worden waren. Gleichzeitig dienten die Gerichte als Mittel, um den Hutu-Extremisten im Ausland, die den Genozid leugneten, etwas entgegensetzen zu können.
Unter Leichen versteckt
250.000 ehrenamtliche Richter wurden gewählt. Bei Gacaca-Anhörungen durfte jeder das Wort ergreifen, für oder gegen einen Angeklagten. Letztere wurden aufgefordert, ihre Verbrechen zu gestehen und die Namen anderer Täter zu nennen, um dafür im Gegenzug Strafmilderung zu erhalten und oftmals vorzeitig aus den grauenvollen Gefängnissen entlassen zu werden. Die Schleusen öffneten sich. „Wir erfuhren, was sich in Wahrheit ereignet hatte. Wer tat was, wie, wann und wo“, sagt Tharcisse. „Einer der Erfolge von Gacaca besteht darin, dass alles zur Sprache kam. Mir ist nicht bekannt, dass irgendetwas Bedeutendes ignoriert oder vertuscht werden konnte. Das war nahezu ausgeschlossen.“
Seitd Louis Rutaganira bei einer Gacaca-Anhörung vom Schicksal seiner Familie erfahren hat, setzt er sich intensiv für die Aussöhnung ein. Das Letzte, was Louis von seiner Frau Marie Claire sah, war, wie sie vor der katholischen Kirche in Kibuye mit Macheten zerhackt wurde. Auch drei seiner vier Kinder, die damals zwischen sechs und zwölf Jahre alt waren, sah er nie wieder. Louis überlebte, indem er sich unter den Leichen versteckte, die sich in den Kirchenbänken stapelten. Er geht davon aus, dass 86 seiner Verwandten in und im Umfeld der Kirche gestorben sind. Heute betreibt er einen Stand für Textilien auf Kibuyes neuem Markt und hat wieder geheiratet.
Louis war skeptisch, als die Regierung begann, für Vergeben und Versöhnen zu werben. „Uns wurde nun jeden Tag gesagt, wir sollten hart arbeiten und die Vergangenheit vergessen. Wir sollten nationale Versöhnung an die erste Stelle setzen. Aber das war schwer, als die Killer nicht einmal sagen wollten, wie unsere Angehörigen gestorben waren.“ Dann kam Gacaca, und Louis erfuhr, wer seiner Frau alle Glieder abgeschnitten und sie hatte verbluten lassen. „Es war schockierend, das Bekenntnis des Mörders meiner Frau zu hören. Auch diejenigen, die meine Kinder umbrachten, gestanden ihre Tat, obwohl sie niemand gezwungen hatte, den Mund aufzumachen. Aber was blieb mir übrig, als ihnen zuzuhören? Ich habe ihre Entschuldigungen akzeptiert. Das war schmerzlich, aber notwendig. Die Mörder sind nun unsere Nachbarn.“
Zacharia Niyorurema stand ebenfalls vor einem Gacaca-Gericht. Er sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Tutsi-Nachbarn ermordet zu haben, darunter seinen ehemaligen Lehrer. Nachdem er nahezu zehn Jahre im Gefängnis gesessen hatte, bat Zacharia den Sohn des Toten, Odile Kabayita, um Vergebung. „Der sagte mir schließlich, er glaube an meine Reue, dennoch solle ich zum Gacaca-Gericht gehen und die ganze Geschichte erzählen.“ Das Gericht nahm Zacharias Geständnis an und entließ ihn 2006 aus dem Gefängnis. Heute arbeitet er auf einer Baustelle.
Manche hassen weiter
Odile Kabayita steht der Assoziation der Überlebenden in Kibuye vor. Zunächst lehnte der Verband die Gacaca-Gerichte ab und warf ihnen vor, zu milde mit den Tätern umzugehen. Als allerdings die Verhandlungen Erkenntnisse zutage förderten, wo Vermisste vergraben lagen, wo sich längst überwucherte Massengräber befanden und ganze Familien in Latrinen geworfen worden waren, ließen sich Odile und andere vom Wert der Gerichte überzeugen. Odile sagt, er habe Zacharia vergeben, um einen Beitrag zur Versöhnung Ruandas zu leisten. Im Gegenzug half Zacharia Odile beim Bau eines neuen Hauses. „Ich bin ein guter Christ und habe sein Geständnis akzeptiert. Wir müssen das für unser Land tun. Es schmerzt dennoch, weil ich nicht sagen kann, ob es die Täter wirklich ernst meinen. Doch denkt man an das Jahr 1994 zurück, gibt es einen großen Fortschritt. Wir freuen uns inzwischen, wenn jemand kommt und bekennt, Schuld auf sich geladen zu haben“, meint Odile.
In nunmehr zehn Jahren haben die Gacaca-Gerichte Anklagen gegen 1,3 Millionen Ruander geprüft. Es ging um fast zwei Millionen Verbrechen. „Den Opfern widerfährt Gerechtigkeit und den Tätern widerfährt Gerechtigkeit“, glaubt Minister Tharcisse.
In den vergangenen 20 Jahren hat sich vieles verändert. Kibuye, einst ein rückständiges und wegen seiner schlechten Straßen isoliertes Nest, verfügt heute über einen Autobahnanschluss in Richtung der Hauptstadt Kigali, es gibt mehrgeschossige Banken sowie ein Kulturmuseum. Am Strand des Sees reihen sich Touristenhotels. Straßenlaternen in den Nationalfarben erleuchten die Stadt.
Vor zehn Jahren war das Gefängnis das auffälligste Gebäude und wirkte wie eine Metapher für den Albtraum, den die Stadt ertragen musste, die Zellen voller Mörder im rosa Häftlings-Drillich. Heute liegt auf diesem Areal ein Park. Wie überhaupt die Gedenkstätten für die Opfer wohlgeordnet und gepflegt sind, wenig Pathos zulassen, eher stilles Erinnern.
Die meiste Zeit tragen die Menschen in Kibuye den Schmerz stumm in sich. Manchmal bricht er hervor. Als im April eine Prozession vom Stadion zur Kirche zum alljährlichen Gedenken an den Genozid stattfand, brach unter dem Eindruck der gefühlvollen Gesänge ein Überlebender nach dem anderen vor Schmerz zusammen.
Insofern deuten nicht alle die Gacaca-Gerichte als den Erfolg, wie ihn die Regierung feiert. Sie haben zwar zu jeder Menge Geständnissen geführt, aber allzu oft verteidigten sich die Schuldigen damit, „nur Befehle befolgt“ zu haben. So fragen sich viele Tutsi, ob einige nicht wieder tun würden, was sie getan haben, sollte es jemand „befehlen“. Lucies Mutter Madalena trat regelmäßig als Zeugin bei den Gacaca auf. „Die Mörder, die aus dem Gefängnis entlassen waren, hassten uns ganz besonders. Selbst heute noch hassen sie uns, weil wir gegen sie ausgesagt haben. Nachts werfen sie Steine gegen mein Haus. Sie töten mein Vieh, vernichten meine Bananen. Sie kaufen nicht in meinem Laden und beschimpfen mich.“
„Manche der Mörder sagten die Wahrheit über das, was geschehen ist, andere hingegen nicht“, erzählt Madalena über Gacaca. Da sie der offiziellen Linie widerspricht, wird sie von Cyriaque Niyonsaba, der die politische Verantwortung im Distrikt trägt, zu dem Kibuye gehört, als Spinnerin abgestempelt. „Sie kann sich nicht benehmen. Sie erzählt Geschichten, die nicht wahr sind“, sagt er mir bei unserem ersten Treffen. „Selbst die anderen Überlebenden fordern sie auf, endlich zu schweigen.“
Madalena räumt das ein. „Ich kann meinen Mund nicht halten. Aber ich bereue das nicht, denn ich sage die Wahrheit. Für mich ist es ein Akt der Solidarität mit den Getöteten. Ein paar Überlebende wollen nicht reden. Sie kommen zu mir und sagen: ‚Redest du? Nein? Dann halt doch einfach den Mund.‘ Aber das kann ich nicht.“
An dem Tag, da Lucie die Schädel reinigt, muss Thomas Kanyeperu, der sich früher um die Kirche kümmerte und wegen seiner Beteiligung am Völkermord neun Jahre im Gefängnis saß, einen Tag lang helfen, um das Grundstück für die alljährliche Woche des Erinnerns herzurichten. Ich erzähle Thomas, dass wir uns 1994 schon einmal hier getroffen hätten. Er missversteht mich und behauptet schnell, er sei während des Genozids nicht in Kibuye gewesen. Er müsse sich irren, am Fuße des Glockenturms hätten wir miteinander gesprochen, entgegne ich ihm. Da ändert er seine Geschichte und behauptet, ein Held gewesen zu sein, der Tutsi gerettet habe.
Zwei Bilder von Kagame
„Heute herrscht Freundschaft zwischen den Menschen“, sagt Thomas. „Die Versöhnung hat funktioniert. Mir hat die Regierung sogar ein neues Haus zugewiesen.“ Plötzlich schleichen sich Zweifel in seine Stimme. „Leider gibt es immer noch ein paar Leute, die nicht verstehen, was nationale Aussöhnung bedeutet.“ Wer? „Leute, die auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind“, antwortet Thomas.
Es wird deutlich, dass er von den Überlebenden spricht und denkt, nur die Hutu würden etwas für ethnische Brücken tun. „Manchmal sagen die Überlebenden Dinge, die nicht wahr sind. Einige behaupten, sie hätten Sachen verloren, die sie in Wirklichkeit nie besaßen. Es kann sein, dass einer kommt und behauptet, an einer bestimmten Stelle habe sein Haus gestanden, das zerstört worden sei. Diese Leute wollen nur Geld, aber manchmal kümmert sich die Regierung um sie zuerst. Daher der Hass.“
Ich frage, welchen Hass er meint. „Manche Leute hassen sich immer noch, und das kommt oft vor.“
Thomas zeigt keine wirkliche Sympathie für Opfer des Völkermordes. Doch er habe etwas gelernt. „Man erkennt, dass Mord keine Lösung ist. Wer getötet hat, musste erfahren – es brachte nur Unglück und Not. Ich hätte trotzdem nicht ins Gefängnis gehört mit all seinen Härten. Ich wurde krank und hatte großes Glück. Und das ging nicht allein mir so. Meine ganze Familie hat sehr gelitten.“
Ich erzähle Lucie und ihrer Schwester Genevieve, einer Nonne, die ihr bei der Säuberung der Gebeine hilft, dass sich Thomas für unschuldig hält. Die beiden lachen. „Er hat getötet“, sagt die Nonne. „Macht es Ihnen etwas aus, dass er leugnet?“, frage ich Genevieve. „Was soll man erwarten?“ Es gäbe viele, die genauso denken würden wie Thomas. „Diese Leute haben ihre Verbrechen nur eingeräumt, um aus der Haft entlassen zu werden. Reue kennen sie nicht. Die Überlebenden sind bereit, mit diesen Leuten zusammenzuleben, aber die wollen das gar nicht.“
Zwei Drittel der Ruander sind heute jünger als 25 und kennen nur eine schwache Erinnerung an die Gräuel. In der Schule werden sie aufgefordert, die Begriffe Hutu und Tutsi abzulegen und eine gemeinsame Identität zu finden. „Die meisten meiner Freunde sind Hutu“, sagt Lucie. „Mit ihnen kann ich nicht über die Vergangenheit reden. Sie wollen den Genozid vergessen. Ich will erinnern. Sie denken weiter in den Kategorien Hutu und Tutsi. Ich sage ihnen, Präsident Kagame hat ein paar gute Dinge getan. Wenigstens ein paar von ihnen stimmen mir zu, längst nicht alle.“
Lucie lacht, als ich sie frage, ob sie jemals einen Hutu heiraten könnte, weil es oft heißt, die Heirat zwischen den beiden Gruppen sei ein Beweis für erfolgreiche Aussöhnung. „Es wäre zu kompliziert, einen Hutu zu heiraten. Selbst wenn ich seine Familie kennen würde, glaube ich nicht, dass die mich akzeptieren könnte. Bei meiner Familie wäre es ähnlich. Es wäre schwierig für beide Familien, miteinander umzugehen. Sie sehen, ich habe nicht viel Hoffnung für die Zukunft“.
Cyriaque Niyonsaba ist überzeugt, Ruanda habe sich so weit verändert, dass ein erneuter Genozid unmöglich sei. „Jeder Ruander schämt sich doch für all das, was passiert ist – dass Menschen ihre Nachbarn und ihnen völlig Unbekannte einfach abschlachten konnten.“
In Madalenas Wohnzimmer hängen zwei Bilder von Paul Kagame. Für sie ist er der Erlöser und Beschützer. Vor ein paar Jahren sagte sie mir, wenn er je die Macht verlieren sollte – nach der Verfassung muss er sein Präsidentenamt im Jahr 2017 niederlegen –, würde sie sofort nach Uganda gehen. „Kagame kann nicht in jedes Haus kommen und den Leuten beibringen, wie sie sich aussöhnen sollen. Er spricht im Radio, und einige hören auf das, was er sagt. Aber er kann nicht von Tür zu Tür unterwegs sein, um den Menschen begreiflich zu machen, dass die Versöhnung ein Glück sein kann. Die, die getötet haben, bereuen ihre Taten nicht. Wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten, würden sie es wieder tun.“
Lucie zögert. „Den Landsleuten, die Ruanda in den vergangenen Jahren verlassen haben, geht es besser. Sicher, das ist ein Ausweg.“ Dann blickt sie zu Madalena. „Aber ich kann meine Mutter nicht allein lassen.“
Chris McGreal ist Zentralafrika-Korrespondent des Guardian
AUSGABE
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 24/13 vom 13.06.2013
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