Autorschaft Indem Brooke Magnanti ihren eigenen Namen unter den Belle-de-Jour-Blog gesetzt hat, schließt sie sich einer der ehrenwertesten Traditionen der Literaturgeschichte an
Die Geschichte von Belle de Jour, jener anonymen Sex-Bloggerin, deren Geheimnis investigative Journalisten, Literatur-Detektive und Blog-Knacker jahrelang quälte, hat selbstverständlich für Schlagzeilen gesorgt. Sex sells. Und die Frau, bei der es sich weder um die Bestsellerautorin Isabel Wolff (Bräutigam zu verschenken; Ein Mann zum Geburtstag) noch um den Journalisten und Autor Toby Young (New York für Anfänger) oder irgendeine andere Größe der Kulturwelt auf pornografischem Exkurs handelt, sondern um eine Medizinerin namens Dr. Bruce Magnanti, erwies sich als eine geschickte Autorin. Sie verführte ihr voyeuristisches Publikum gekonnt mit der Fantasie der Prostituierten, die eine ganz gewöhnliche Frau von nebenan ist.
Unter dem Deckmantel
mit der Fantasie der Prostituierten, die eine ganz gewöhnliche Frau von nebenan ist.Unter dem Deckmantel der Anonymität verfolgte Dr. Magnanti eine Karriere, um die sie viele Autoren, die weit anerkannter sind, wohl beneidet haben werden: Gigantische Verkaufszahlen, Bestsellerstatus und eine TV-Verfilmung ihres Buchs. Wenn wir die zeitgenössischen Implikationen abziehen, dann ist das alles nicht so neu. Die Literaturgeschichte, insbesondere die des 18. Jahrhunderts, kennt Heerscharen von Autoren, die sich für die Anonymität entschieden haben. Die schlechteren von ihnen sind alle in Vergessenheit geraten; die Namen der besten aber reichen von Autoren wie Jonathan Swift und Walter Scott bis zu Jane Austen und Charlotte Brontë. Und wie es in der Vergangenheit so oft der Fall war, hat auch Dr. Magnanti schließlich etwas dazu bewogen, auszupacken.Die Zeitungsberichte über ihre Selbstoffenbarung legen nahe, dass sie sich selbst enttarnte, um den Enthüllungen eines Ex-Freundes zuvorzukommen. Ich glaube allerdings, dass ihre Enthüllung einen viel einfacheren und gleichzeitig komplizierteren Hintergrund hat, der mit dem Wesen der Autorschaft zu tun hat.Man möchte etwas zu sagen habenEs gibt viele Gründe zu schreiben – Freud hat sie bekanntermaßen auf Geld, Berühmtheit und Frauen heruntergebrochen. Darüberhinaus gibt es selbstverständlich den Drang, eine zündende Idee, eine Meinung oder ein Gefühl mitzuteilen – man will „etwas zu sagen haben“. Diese Motivation steht hinter zahllosen Blogs, Büchern und Zeitungsartikeln. Am Ende kann man alle diese literarischen Aktivitäten unter dem Begriff „Selbstdarstellung“ zusammenfassen.Und genau dieser Begriff ist der Schlüssel zu Dr. Magnantis Schritt: Sie wollte sich ihre eigene Identität wieder aneignen. Spät, dafür aber offenherzig, tat sie, was alle Autoren tun müssen, wenn sie veröffentlichen: Sie bekannte sich zur Urheberschaft. Der Ursprung des Wortes „Autor“ ist da aufschlussreich, es kommt vom lateinischen „auctor“, was soviel bedeutet wie „Förderer, Urheber oder Schöpfer“. Anders gesagt, hat Dr. Magnanti sich für Eigenständigkeit und ein gewisses Maß an persönlicher Authentizität entschieden, als sie ihre Tarnung aufgegeben hat. Wie sie kürzlich in ihrem Blog schrieb: „Nicht nur der Teil meines Lebens, in dem ich nicht Belle bin, ist echt. Beide Teile sind echt. Belle und die Frau, die ihre Geschichte aufschrieb, waren viel zu lange getrennt. Ich musste sie wieder zusammenbringen.“Die Anonymität der Blogosphäre ist aufregend und irritierendWas, so frage ich mich nun, können wir daraus über das Bloggen lernen? Für viele Schreiber, die das Genre neu entdecken, ist die Anonymität der Blogosphäre sowohl aufregend als auch irritierend. Kostenlose Inhalte und anonyme Selbstdarstellung sind befreiend, aber auch per se verantwortungslos. Für Autoren, die in der geordneteren Welt der Printmedien aufgewachsen sind, kann die Anpassung an das Internet schwierig sein. Es kann sogar sein, dass sie sie als echten Widerspruch zum eigentlichen Wesen ihrer Kunst sehen.Ich stelle mir vor, dass Dr. Magnanti, die mit ihren 34 Jahren noch die Anfänge des Internets erlebt hat, diese Erfahrung gemacht haben wird. Auf die anfängliche Euphorie wird das Bewusstsein gefolgt sein, dass sie eine Verantwortung trägt, sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber ihrem Publikum. Und schließlich wird sie stolz gewesen sein, auf das, was sie da in ihrem „Diary of a London Call Girl“ geschrieben hat und sie wird entschieden haben, sich der harten Konkurrenz auf dem Buchmarkt auszusetzen. Indirekt räumt sie damit ein, dass Meinungen, die hinter einer Maske geäußert werden, etwas Beschämendes, ja sogar Unehrliches haben.Mag sein, dass dies eine sehr spießbürgerliche Ansicht ist, aber ich bin der Meinung, dass die Urheberschaft am geschriebenen Wort für die literarische Tradition der westlichen Hemisphäre fundamental ist. Deshalb begrüße ich Dr. Magnantis Entscheidung, weil sie damit eine Lanze für die beste Art der Selbstdarstellung bricht.
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