Bestenfalls ungewiss

Abtreibung In den USA findet ein Frontalangriff auf das Recht des Schwangerschaftsabbruchs statt. Es gibt keine Garantie, dass der Supreme Court es schützen wird

Am späten Dienstagabend stimmte der von den Republikanern kontrollierte Senat des Bundesstaates Alabama für ein De-facto-Abtreibungsverbot in jedem Stadium einer Schwangerschaft, einschließlich in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest. Das Gesetz würde dafür sorgen, dass Ärzte, die Abtreibungen durchführen, zu Haftstrafen von bis zu 99 Jahren verurteilt werden können.

Dabei handelt es sich nur um das jüngste in einer ganzen Reihe von Anti-Abtreibungsgesetzen, die in den USA in letzter Zeit verabschiedet wurden. In der vergangenen Woche wurde Georgia zum vierten Bundesstaat, der im Jahr 2019 ein sogenanntes Herzschlag-Abtreibungsverbot (heartbeat ban) erlassen hat. (Zwei andere Bundesstaaten – Iowa und North Dakota – taten dies bereits in den Jahren zuvor.) Diese Gesetze – das „Center for Reproductive Rights“ nennt sie „erstaunlich“ verfassungswidrig – stellen einen Frontalangriff auf Roe vs. Wade dar, jenen richtungsweisenden Fall aus dem Jahr 1973, in dem der US Supreme Court das Recht auf Schwangerschaftsabbruch für grundsätzlich verfassungskonform erklärt hat.

Anstatt die Art von stufenweisen Strategie zu verfolgen, die Anti-Abtreibungsaktivisten in der Vergangenheit favorisiert haben – wie zum Beispiel das Verbot von Abtreibungen in der späten Schwangerschaft oder der Versuch, Abtreibungskliniken mit immer härteren Vorschriften schrittweise aus der Welt zu regulieren – zielen diese neueren Gesetze darauf ab, praktisch alle Abtreibungen in dem jeweiligen Bundesstaat zu verbieten.

Die Befürworter der Wahlfreiheit sind in einem Dilemma

Die fötale Herzaktivität kann etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche festgestellt werden, also noch bevor viele Frauen ihre Schwangerschaft überhaupt bemerken. Indem sie alle Abtreibungen nach diesem Zeitpunkt verbieten, würden die sogenannten Herzschlag-Verbote bis auf einen äußerst geringen Prozentsatz alle Abtreibungen verhindern.

Bislang haben Gerichte diese Verbote allerdings stets in allen Instanzen wieder kassiert, bevor sie in Kraft treten konnten. Abtreibungen sind noch immer in 50 Bundesstaaten legal, weil Anwälte gegen die neuen Gesetze geklagt haben und die Gerichte stets zu dem Schluss kamen, dass sie eindeutig gegen die Verfassung verstoßen.

Tatsächlich ist das der entscheidende Punkt. Die Gesetze wurden in erster Linie zu dem Zweck erlassen, Roe vs. Wade infrage zu stellen und das Verfassungsrecht auf Schwangerschaftsabbruch zu eliminieren. Gouverneur Mike DeWine hat anerkannt, dass Ohios „Heartbeat Bill“ verfassungswidrig war und er erklärte, dass der Staat eine „Änderung oder Umkehrung existierender Rechtsprechung“ – namentlich derjenigen im Fall Roe – anstrebe.

Dennoch bringen diese Gesetze die Befürworter der Wahlfreiheit in ein Dilemma. Sie haben keine andere Wahl, als zu klagen, wenn sie den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen schützen wollen, selbst in einem frühen Stadium der Schwangerschaft. Und sie haben gute Chancen, dass ihnen stattgegeben wird, zumindest zunächst. Aber Anti-Abtreibungsanwälte werden in ihren Fällen weiter auf Berufung drängen und hoffen, vor einem Obersten Gerichtshof zu landen, der ihrer Sache freundlich gesinnt ist und Roe vs. Wade überstimmt.

Roe vs. Wade könnte leicht kippen

Ist das eine realistische Möglichkeit? Alle Zeichen deuten darauf hin. Seitdem Richter Anthony Kennedy im vergangenen Jahr in den Ruhestand gegangen ist und durch Brett Kavanaugh ersetzt wurde, gibt es am US Supreme Court eindeutig eine Mehrheit aus fünf Richtern, die das geltende Recht im Fall Roe vs. Wade ablehnt. Kennedy war einer der Richter, die dafür stimmten, Roe beizubehalten, als dieses das letzte Mal ernsthaft infrage gestellt wurde. Das war 1992, im Fall Planned Parenthood vs. Casey – und blieb ein verlässliches (wenn auch laues) Urteil zugunsten von Roes Kerngarantie, bis zur Pensionierung Kennedys. Vier andere Richter – die Obersten Richter John Roberts, Clarence Thomas, Samuel Alito und Neil Gorsuch – stehen den Reproduktionsrechten von Frauen allesamt feindlich gegenüber.

Auch Kavanaugh hat sich skeptisch darüber geäußert, Roe als Präzedenzfall anzuerkennen und der Entscheidung seiner Kollegen am Supreme Court vor Kurzem vehement widersprochen, Abtreibungskliniken in Louisiana auch weiterhin die Öffnung zu erlauben, solange das Gericht darüber entscheidet, ob es sich mit ihrer Klage gegen ein Gesetz befasst, das ihre Schließung zum Gegenstand hat.

Tatsächlich bräuchte es noch nicht einmal einen „Heartbeat“-Fall, um Roe vs. Wade zu kippen. Mehrere Fälle befinden sich gegenwärtig vor Berufungsgerichten, die die Gelegenheit bieten könnten, Roe aufzuheben. Das Gericht kann entscheiden, den Fall der Kliniken in Louisiana zu verhandeln. Indiana hat es angerufen, die Frage anzuhören und zu verhandeln, ob der Staat Abtreibungen verbieten kann, die wegen fötaler Anomalitäten vorgenommen werden sollen. In beiden Fällen könnte das Gericht entscheiden, dass es nicht mehr länger an Roe gebunden ist und einen neuen Standard für Abtreibungsbeschränkungen etablieren.

Es könnte zum Beispiel sagen, dass die Bundesstaaten für sich selbst entscheiden können, ob sie Abtreibungen verbieten oder nicht. Das würde die juristische Landkarte nahezu über Nacht radikal verändern. Demokratisch regierte Bundesstaaten würden den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen weiter gewährleisten, während republikanisch regierte die Möglichkeiten zu einem Abbruch weiter einschränken oder sogar gänzlich verbieten würden.

Ein 40-jähriger Präzedenzfall könnte aufgehoben werden

Andererseits ist dieser Ausgang keineswegs unvermeidlich. Erstens: Auch wenn Roberts sich nicht als Freund von Roe erwiesen hat – in dem Fall Whole Woman’s Health vs. Hellerstedt aus dem Jahr 2016 stimmte er gegen Roe – ist er gleichzeitig dafür bekannt, dass er sich um sein Vermächtnis und die Vermeidung einer Politisierung der Gerichte bemüht. Donald Trump tadelte er dafür, dass dieser einen „Obama-Richter“ kritisierte. Roberts wörtlich: „Wir haben keine Obama-Richter oder Trump-Richter, Bush- oder Clinton-Richter. Was wir haben, ist eine außergewöhnliche Gruppe engagierter Richter, die ihr Bestmöglichstes tun, um denjenigen, die vor ihnen erscheinen, gleiches Recht zuteilwerden zu lassen.“

Zweitens: Der Supreme Court kann entscheiden, welche Fälle der anhört. Er muss sich mit keinem der gegenwärtig in Vorbereitung befindlichen Fälle beschäftigen, sondern kann einfach die Urteile der unteren Instanzen stehen lassen, ohne dies zu erklären oder zu rechtfertigen. Um den Eindruck zu vermeiden, das Gericht sei ein politisches Organ, dessen Entscheidungen mehr von personellen Veränderungen beeinflusst werden als von Rechtsprinzipien, könnte es die Urteile aller niederen Instanzen einfach bestehen lassen, die die Heartbeat-Verbote für unrechtmäßig erklären. Sollte es so kommen, hätten die Abtreibungsgegner ihr Blatt überreizt.

Sie hätten zu früh versucht, das Oberste Gericht zu einer Entscheidung zu drängen, und dadurch ihre Aussichten auf einen Sieg geschmälert.
Doch im Augenblick besteht noch genug Grund zur Sorge für diejenigen, die Roe bewahren wollen. Das Oberste Gericht hat eine relativ lockere Haltung gegenüber der Einhaltung langjähriger Präzedenzfälle eingenommen, einschließlich der Aufhebung eines 40-jährigen Präzedenzfalls gerade in dieser Woche. Und auch wenn die Anti-Abtreibungsaktivisten dieses Mal scheitern sollten, so können sie es doch immer wieder versuchen. Wenn die 86-jährige Ruth Bader Ginsburg sich entscheidet, zurückzutreten oder wenn Trump eine zweite Amtszeit gewinnt, ist alles möglich.

Sicher ist nur, dass die Zukunft von Roe bestenfalls ungewiss ist.

B. Jessie Hill ist stellvertretende Dekanin für akademische Angelegenheiten und „Richter Ben C. Green“-Professorin für Recht an der Case Western Reserve University. Sie unterrichtet, schreibt und prozessiert auf dem Gebiet der reproduktiven Rechte

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

B. Jessie Hill | The Guardian

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