Beweglich bleiben

Mexiko/USA Täglich pendeln Schulkinder zwischen Ciudad Juárez und dem texanischen El Paso hin und her. Auf Donald Trump reagiert man mit Spott und Trotz
Ausgabe 11/2017
Reger Verkehr, Grenzgänger zwischen El Paso und Ciudad Juárez
Reger Verkehr, Grenzgänger zwischen El Paso und Ciudad Juárez

Foto: Chip Somodevilla/AFP/Getty Images

Anders als die meisten Teenager beginnt Ashley Delgado ihren Schultag mit einem Grenzübertritt. Sie steht morgens um fünf Uhr auf, damit ihre Mutter Dora sie durch den dichten Verkehr von Juárez zur Brücke Paso del Norte fahren kann, wo Ashley dann den vergitterten Fußgängerübergang zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten nimmt. Die Zollabwicklung dauert im Schnitt eine halbe Stunde, oft aber auch doppelt so lange, je nach Länge der Schlange und Laune der Beamten. „Manchmal bringen sie die Leute in einen kleinen Raum, um sie zu überprüfen und zu befragen“, sagt die 14-Jährige, als ihre Mutter sie am Ende eines Schultages wieder auf der mexikanischen Seite abholt. „Woher kommst du? Was hast du dabei? Was wirst du in den USA machen? Mir ist das noch nie passiert, aber einigen meiner Freunde passiert es alle drei Tage.“ Ashley entgeht diesen Fragen, weil sie eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzt – in den direkt aneinander grenzenden Städten Ciudad Juárez und El Paso ermöglicht die maximale Bewegungsfreiheit.

Die in der Wüste gelegene und von niedrigen Bergen umgebene Industriestadt Ciudad Juárez im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua ist von den USA nur durch einen schmalen Streifen des Rio Grande getrennt, der an diesem Punkt seines Laufs in einem schmutzigen, mit Beton ausgegossenen Flussbett jedoch eher einer Wasserlache gleicht. Ein niedriger elektrisch geladener Zaun markiert die Trennlinie zwischen beiden Städten, vier Grenzpassagen bewältigen den nie abbrechenden Verkehr. Nach den Nachbarstädten San Diego und Tijuana handelt es sich hier um die zweitgrößte binationale Metropolregion entlang der Grenze mit einer Gesamtbevölkerung von 2,5 Millionen Menschen.

Dabei gehörte das heutige El Paso bis 1846 ebenfalls zu Mexiko, fiel aber im mexikanisch-amerikanischen Krieg, der die Grenze an den Rio Grande verschob, an die USA. Seither führen beide Städte eine quasi symbiotische Existenz – Einwohner, Kultur und Ökonomie sind zu einem Cluster dies- und jenseits einer zunehmend militarisierten Grenze verschmolzen. Kommt man über den Paso del Norte nach El Paso, bieten die Schaufenster Matratzen, Decken und Teppiche auf Spanisch feil; in den Tankstellen kann man mit Pesos zahlen und erhält Dollars zurück.

Kampf der Kartelle

Wie in Tijuana haben billige Arbeitskräfte und die Grenzlage Juárez zu einem Drehkreuz des produzierenden Gewerbes gemacht. Als 1994 das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft trat, machten in El Paso die Textilfabriken dicht, während in Juárez neue entstanden. Heute setzen Arbeiter in über 350 Maquiladores importierte Einzelteile zu Fahrzeugen, medizinischen oder anderen Geräten zusammen. Die meisten verdienen weniger als elf Dollar pro Tag. Ironischerweise kaufen die Einwohner von Ciudad Juárez ihre Elektrogeräte in El Paso, weil sie dort viel billiger sind.

Für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft wie Ashley, die sich frei über die Grenze hin- und herbewegen können, bietet die Nähe der beiden Zwillingsstädte einmalige Vorteile, von Einkaufsmöglichkeiten bis hin zu besseren Jobs. „Ich möchte in den USA Karriere machen. Dort gibt es weniger Beschränkungen als hier“, sagt Ashley. Wie viele Mexikanerinnen, die an der Grenze leben, ist ihre Mutter Dora zur Entbindung in die USA gefahren. Sie erzählt. „Solange man die Hospitalgebühren bezahlen kann, ist das kein Problem. Man rechnet in den Staaten einfach auf eine bessere Behandlung. Ich machte mir damals Sorgen wegen der Lage in Juárez.“

Zwischen 2008 und 2012 hatte Ciudad Juárez den wenig schmeichelhaften Ruf, eine der gewalttätigsten Städte der Welt zu sein. Kämpfe zwischen rivalisierenden Drogengangs ließen die Mordraten in die Höhe schnellen und versetzten die Einwohner in Angst und Schrecken. Im Gegensatz dazu wurde El Paso mehrfach zur sichersten Großstadt der USA gewählt. Derzeit ruht in Juárez der Kampf der Kartelle. Eine Reihe neuer Restaurants und kultureller Institute hat wieder Farbe in die Stadt gebracht und so langsam trauen sich auch die Bewohner El Pasos, die früher aus Vorsicht auf ihrer Seite geblieben sind, wieder über die Grenze.

An der University of Texas in El Paso, an der auch viele Mexikaner studieren, leitet Josiah Heyman das Center for Interamerican and Border Studies. Er sagt, die Einwohner von El Paso wüssten die Vorteile von Juárez mindestens so sehr zu schätzen wie andersherum. „Die mexikanische Seite verschafft vielen Amerikanern ein soziales Auffangnetz. Viele nehmen dort private medizinische Dienste in Anspruch, die ihnen in den USA zu teuer sind. Im Gegenzug werden gut 15 Prozent des Einzelhandels in El Paso von Kunden aus Juárez abgedeckt.“

Für viele ist das Familienleben derart über beide Städte verteilt, dass keine Gewalt der Welt sie daran hindern könnte, die Grenze zu passieren, um Verwandte zu besuchen. Julio Chavez ist in El Paso geboren, aber in Juárez aufgewachsen. Wie Ashley musste auch er an Schultagen beim US-Zoll Schlange stehen. Als er 14 war, trennten sich seine Eltern und seine Mutter zog mit ihm nach El Paso. So wurden Besuche auf der anderen Seite der Grenze Teil des Familienlebens. An Thanksgiving bereitet Chavez zu Hause in El Paso einen Truthahn zu und fährt dann zum Essen über die Grenze zu seinem Vater. „Das ist mein Leben, ich bin so aufgewachsen. Ich kann mir die eine Stadt ohne die andere nicht vorstellen“, sagt er.

In El Paso, wo vier Fünftel der Einwohner lateinamerikanische Wurzeln haben, spiegelt sich die Durchlässigkeit der Grenzen überall im Leben der Menschen wider. „Mein Vater feiert Thanksgiving nicht aus den gleichen Gründen wie die Amerikaner“, meint Chavez, „sondern weil ich ihn darum bitte. Als amerikanische Kinder sind wir damit aufgewachsen, dass es an Thanksgiving ein Festessen gibt. Und unsere Eltern halten sich daran.“

Als binationaler Bürger kennt Chavez die jeweiligen Vor- und Nachteile sehr genau. „Wenn man in die Staaten zurückkommt, atmet man eine andere Luft, man atmet Gelassenheit.“ Gleichzeitig ist ihm El Paso mit seinen breiten, leeren Straßen und seinem winzigen Stadtzentrum oft ein wenig zu beschaulich. „Da sind die meisten Straßen abends um sieben wie leergefegt.“

Definitiv binational

Die Wartezeiten in Richtung Norden sorgen überall entlang der Grenze für Frust. Auf der Bridge of the Americas schlängeln sich Essensverkäufer durch den vierspurigen Verkehr, der langsam in Richtung USA unterwegs ist; die Wartezeiten reichen von 30 Minuten bis zu zwei Stunden. Die Einwohner geben sich auf einer Facebook-Seite Tipps, wo und wie man am schnellsten auf die andere Seite kommt. In Richtung Süden können Fahrzeuge und Fußgänger hingegen völlig frei passieren, Ausweiskontrollen sind die Ausnahme.

Wer von Tijuana nach San Diego möchte, braucht dafür unter Umständen noch länger. Der Grenzübergang San Ysidro ist der meistfrequentierte in der westlichen Hemisphäre. Hier überqueren pro Tag 50.000 Fahrzeuge und 25.000 Fußgänger die Grenze in Richtung USA. Trotz eines 742 Millionen Dollar schweren Ausbauprojekts müssen die 34 Fahrspuren in Richtung Norden und der neue Fußgängerübergang noch immer einen enormen Andrang aufnehmen – bis 2030 erwartet die Administration von San Diego einen Anstieg des Fahrzeugverkehrs von 87 Prozent. Pendler können SENTRI beantragen, einen Fünf-Jahres-Pass für 250 Dollar, der es Pendlern, denen ein geringes Sicherheitsrisiko attestiert wird, erlaubt, die Grenze schneller zu passieren.

Anderen bleibt nichts übrig, als zu warten. „Es nervt“, stöhnt der Doktorand Jose Ibarra Gonzalez aus Tijuana, der zweimal im Monat nach San Diego fährt, um Freunde zu besuchen und einzukaufen. Gonzalez unterscheidet in seiner Stadt drei Gruppen von Leuten: die der inländischen Migranten aus dem Süden Mexikos, die kein Visum haben und in ihren Traditionen verhaftet bleiben; eine andere, die „border-style“, sei wie er, und eine dritte Gruppe, die „definitiv binational“ sei. Das sind Leute mit doppelter Staatsbürgerschaft oder einem Visum, die in Tijuana leben und in den USA arbeiten. Sie sprechen beide Sprachen, sind in beiden Kulturen zu Hause.

Projekte in Planung

Vorausblickend arbeiten die Behörden daran, die Infrastruktur der Grenze zu ihrem Vorteil anzupassen. So plant etwa die Stadt Chula Vista südlich von San Diego den Bau einer binationalen Universität und eines Innovationsquartiers, um sich an die speziellen Möglichkeiten der Grenzregion zu halten. Im benachbarten Otay Mesa hat seit Ende 2015 das erste binationale Flughafenterminal geöffnet – eine 150 Meter lange Fußgängerbrücke, die direkt über die Grenze in den Airport von Tijuana führt.

25 Autominuten von El Paso entfernt liegt Santa Teresa, New Mexico, wo der mexikanische Architekt Fernando Romero sogar noch größere Pläne für die Gestaltung der Grenzregion verfolgt. „Border City“ heißt sein Masterplan für eine binationale Stadt, die zu einem freieren Grenzverkehr von Waren und Menschen anregen soll. Es gibt eine integrierte intelligente Technik, die helfen soll, die Grenzübertritte zu beschleunigen.

Romeros Vision ist um einen strategischen Grenzübergang herum entworfen, dem ein über 90 Hektar großer Gewerbepark, der I-10- Highway und nationale Bahnanschlüsse angegliedert sind – bestens geeignet, um ein Stück vom mexikanisch-amerikanischen Handelsaufkommen von gut 580 Milliarden Dollar abzubekommen. Romero hofft, das Modell könnte zu einem Prototyp für Grenzstädte weltweit werden. „Die Grenze ist heute in gewisser Hinsicht symbolträchtiger als jemals zuvor, zumindest aus ökonomischer Sicht“, meint der Architekt. Auch wenn der neue US-Präsident ganz andere Vorstellungen hat, glaubt Romero nicht, dass sein Projekt betroffen sein wird. „Das hat nichts mit Politik zu tun, hier geht es um Menschen, Lebensqualität und Zusammenhalt.“

In Juárez-El Paso reagiert man auf Donald Trump mit einer Mischung aus Spott und Trotz. Obwohl es im traditionell von den Republikanern dominierten Staat Texas liegt, ist El Paso eine Hochburg der Demokraten. 69 Prozent haben hier für Hillary Clinton gestimmt. Und in Juárez scheint nicht einmal das produzierende Gewerbe von den protektionistischen Drohungen des neuen Präsidenten beunruhigt. Die Fabriken suchen verzweifelt nach Mitarbeitern; große Plakate, auf denen freie Stellen ausgeschrieben werden, hängen an Zäunen und Mauern.

„Es herrscht eine gewisse Unsicherheit“, räumt Manuel Ochoa von Tecma ein, einem Unternehmen, das Betrieben hilft, sich wieder an der Grenze anzusiedeln. „Wir sehen, dass es zu geringfügigen Verzögerungen kommt, wenn es um die allerletzten Entscheidungen geht. Wir spekulieren gerade. Wir wissen, dass er der mächtigste Mann auf der Welt ist, aber wird er wirklich alle Entscheidungen allein treffen können?“

Sophie Eastaugh arbeitet als Freelancerin für britische Fernsehsender und als freie Autorin für den Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Sophie Eastaugh | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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