Als ein chinesischer Außenpolitik-Experte Anfang 2010 gefragt wurde, was China für die beste Option in Nordkorea halte, stand ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. „Den Status quo“, antwortete er. Wie WikiLeaks nun enthüllte, mag China vielleicht auf diese Option hoffen, doch aktiv trifft es Vorkehrungen für einen ganz anderen Ausgang des koreanischen Dramas.
Das „verzogene Kind“ entzieht sich immer mehr der Kontrolle Chinas. Das Regime in Nordkorea hat in diesem Jahr sein Nuklear-Programm fortgesetzt und eine südkoreanische Insel bombardiert. Die Frage für Peking lautet jetzt, welche Auswirkungen die Veröffentlichung der Dokumente auf das nordkoreanische Regime haben wird. Die Regierung in Peking hat die einheimischen Medien angewiesen, über die WikiLeaks-Dokumente nicht zu berichten, die Webseite der Enthüllungsplattform ist gesperrt. Dasselbe gilt für die Download-Seite des Guardian. Doch obwohl Peking seinen Bürgern nun vorübergehend den Zugang zu den Details verwehrt, ist der Nutzen der Freundschaft mit Pjöngjang seit längerem heftig umstritten. Nicht nur innerhalb der diskreten außen- und sicherheitspolitischen Zirkel, sondern auch in den öffentlichen Medien.
Nach den Bomben auf die südkoreanische Insel schrieb die größte chinesische Wirtschaftszeitschrift Caixan vergangene Woche: „Eine große Frage, die viele umtreibt, ist, in welchem Umfang die Gelder der Steuerzahler auf die Unterstützung Nordkoreas verwendet werden ... Angesichts dieser Tatsache geht es allein um eine Frage des Prinzips. Weshalb unterstützt China Nordkorea weiterhin?“
Letztes Relikt
Die genauen Zahlen stehen unter Verschluss, doch einigen Analysten zufolge schluckt Nordkorea beinahe 40 Prozent des gesamten chinesischen Etats für Auslandshilfen. Außerdem soll Peking Pjöngjang monatlich mit 50.000 Tonnen Öl versorgen, um sich einen Pufferstaat gegen Japan, Südkorea und die USA zu erhalten. Doch im post-maoistischen China von heute, betont Caixin, sind dies nicht länger die Feinde. Handel mit allen dreien sowie Investitionsströme sind Milliarden wert, während Nordkorea eine kostspielige Peinlichkeit bedeutet.
Dass Chinas Staatsbeamte sowohl mit US-amerikanischen als auch südkoreanischen Botschaftern so offen sprechen, ist ein Anzeichen dafür, wie weit die Regierung von ihrer Ideologie des Kalten Krieges abgerückt ist. Zu Pekings außenpolitischen Zielen zählt der Erhalt eines friedlichen internationalen Umfeldes und die Sicherung ausreichender Ressourcen für das weitere Wirtschaftswachstum, da China befürchtet, dass ein Abflauen die innere Stabilität gefährden könnte. Jeder Wert, den eine Provokation der USA durch einen Stellvertreter haben könnte, wird durch den Schaden aufgewogen, den die Beziehung zu Nordkorea für Chinas sorgfältig kultiviertes Image eines friedlichen Mitgliedes der Staatenfamilie bedeutet.
Die Auseinandersetzung auf der koreanischen Halbinsel ist das letzte Relikt des Kalten Krieges. Sie stellt Pekings Bereitschaft auf die Probe, die Führungsstärke zu beweisen, die seinem wachsenden ökonomischen Gewicht angemessen ist, was es bislang versäumte. Es hat sich herausgestellt, dass Peking der Aufgabe nicht gewachsen ist, Nordkorea davon zu überzeugen, Chinas Übergang in eine Marktwirtschaft zu folgen. China gilt als das letzte Land, das noch Einfluss auf Pjöngjang hat, doch was die Depeschen enthüllen, das belegt, wie eingeschränkt dieser Einfluss ist.
Instabile Situation
Peking war nicht bereit, wirklich etwas zu investieren, um Nordkorea zu überzeugen, stattdessen verwies es auf Nordkoreas Wunsch, mit den USA auf Augenhöhe zu verhandeln. China hat die mittlerweile zum Stillstand gekommenen Sechs-Parteien-Gespräche gefördert, doch es scheut davor zurück, ein verantwortungsvolles Verhalten zu erzwingen oder den Zusammenbruch des Regimes zuzulassen. Die USA wiederum zögern, Nordkoreas Forderungen nach Anerkennung stattzugeben, und flehen China an, seinen Junior-Verbündeten unter Kontrolle zu bekommen. Die Enthüllung, dass China anfängt, die einst undenkbare Alternative zu akzeptieren – eine Wiedervereinigung unter der Herrschaft Südkoreas – könnte die ohnehin instabile Situation verschlimmern.
Das bedeutet jedoch nicht, dass China bereit ist, Auslöser des Zusammenbruchs Nordkoreas und der daraus resultierenden Krise zu sein. Die Frage ist nun, ob das Regime in Pjöngjang durch die Erkenntnis zur Vernunft gebracht wird, wie weit China mit seiner Geduld mittlerweile ist – oder ob es entscheiden wird, dass es durch weitere und noch verzweifeltere Provokationen nichts mehr zu verlieren hat.
Die Journalistin Isabel Hilton ist Herausgeberin der Seite chinadialogue.net.
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