Kein Ende der Gewalt

Terror Die Türkei taumelt Richtung Diktatur – und der jüngste Anschlag in Istanbul destabilisiert das Land auch 2017 weiter
Zeichen der Trauer vor dem Instanbuler Nachtclub
Zeichen der Trauer vor dem Instanbuler Nachtclub

Foto: Dahan Kozanoglu/AFP/Getty Images

Der brutale Überfall auf einen Istanbuler Nachtclub an Silvester war der schreckliche Schlusspunkt eines Jahres voller Schrecken für die Türkei, in dem das Land von einer Vielzahl grausamer Terroranschläge sowie einem gescheiterten Putschversuch erschüttert wurde.

Mittlerweile hat der sogenannte Islamische Staat die Verantwortung für den Überfall übernommen. Die Terrormiliz hat 2016 mit mehreren Anschlägen Vergeltung für Ankaras Unterstützung der internationalen Anstrengungen geübt, die Aktivitäten des IS in Syrien und dem Irak zurückzudrängen.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte wäre zumindest theoretisch auch die PKK-Abspaltung Kurdische Freiheitsfalken (TAK) als Drahtzieher infrage gekommen. Diese bekannte sich zu den Anschlägen vor einem Istanbuler Fußballstadion im Dezember, bei denen 45 Menschen getötet wurden, sowie zu einem Anschlag in Adana im Monat zuvor.

Die TAK begründen ihre Anschläge mit dem brutalen Vorgehen der türkischen Armee und Polizei im kurdischen Südosten des Landes, das auf das Ende des Waffenstillstandes zwischen der PKK und der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan folgte und tausende Zivilisten zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht hat.

Insgesamt gab es 2016 in der Türkei dutzende schwere Anschläge. Oft galten sie dezidiert Polizei und Armee, genauso oft traf es aber auch Zivilisten. Immer wieder machen Vertreter der türkischen Regierung auch die syrischen Kurden für Anschläge verantwortlich. Die Syrischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind mit der PKK verbündet und teilen deren Ziel, in den kurdischen Regionen Syriens und der Türkei autonome Verwaltungszonen zu schaffen.

Die Intervention der Türkei in Nordsyrien 2016 heizte die Situation weiter an. Vordergründig ging es dabei darum, den Kampf gegen die Terrororganisation IS zu unterstützen. Erdoğans Hauptanliegen liegt aber vielmehr darin, die Gebietsgewinne der YPG zu beschränken und einen Zusammenschluss der autonomen kurdischen Regionen im Norden Syriens zu verhindern.

Die YPG wurde ausdrücklich von dem Waffenstillstand ausgenommen, den die Türkei, Russland und der Iran vergangene Woche ausgehandelt haben. Es bleibt aber unklar, ob Erdoğans Bemühungen auch Erfolg haben werden. Klar ist, dass das Vorgehen des Präsidenten gegen die syrischen Kurden die Türkei in Konflikt mit ihrem langjährigem Partner USA gebracht hat. Washington teil Ankaras Einschätzung nicht, bei der YPG handele es sich um eine Terrororganisation, und sieht in ihnen vielmehr eine nützliche Waffe gegen IS und Assad gleichermaßen. Amerikanische Material-und Waffenlieferungen an die YPG haben Proteste von türkischer Seite auf den Plan gerufen.

Erdoğans Intervention hat auch zu Spannungen mit dem historischen Rivalen der Türkei in der Region seit der Zeit des Ottomanischen und Persischen Reiches geführt. Obwohl sowohl Teheran als auch Ankara die Bestrebungen der kurdischen Minderheiten in ihren Ländern ablehnen, sieht die sunnitische Türkei den wachsenden Einfluss des schiitischen Irans im Irak, in Syrien und weiteren seiner traditionellen Einflusssphären mit Argwohn.

Zusammengefasst ging Erdoğans Syrienpolitik 2016 gründlich schief. Angesichts der russischen und iranischen Erfolge bei den bewaffneten Kämpfen, insbesondere des Falls von Aleppo, sah sich Erdoğan gezwungen, seine wichtigste Forderung – den Rücktritt Assads – vorerst auf Eis zu legen. Und da er seine Brücken zu Washington abgebrochen hat, musste der türkische Präsident notgedrungen auch die russischen Friedensbemühungen unterstützen.

Die Ermordung des russischen Botschafters in der Türkei unterstreicht jedoch, wie fragil das bilaterale Verhältnis nach wie vor bleibt, das vor nicht allzu langer Zeit nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets völlig am Boden lag.

Innenpolitisch wäre Erdoğan im Sommer bei einem Putsch beinahe gestürzt worden. Der Präsident reagierte mit einer Welle der Repression und der Inhaftierung tausender mutmaßlicher Unterstützer des im Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen sowie einer schonungslosen Säuberungsaktion in Justizapparat, Medien und Universitäten.

Erdoğan wirft der linken und prokurdischen HDP vor, sie unterstütze die PKK; mittlerweile sitzen mehrere ihrer führenden Köpfe in Haft. Gleichzeitig drückt der türkische Präsident eine Verfassungsänderung nach der anderen durch, die ihm immer mehr quasi-autokratische Befugnisse verleihen.

Die Weigerung der Obama-Administration, Gülen an die Türkei auszuliefern, hat die Beziehungen zu Washington noch weiter belastet. Zur selben Zeit überwarf Erdoğan sich mit der EU, weil ihm die Kritik an Menschenrechtsverletzungen und undemokratischem Gebaren zu laut wurde.

Zu Beginn des neuen Jahres scheint Erdoğan seinen Griff nach der Macht sowohl mit demokratischen als auch mit undemokratischen Mitteln zu festigen und seinen Krieg gegen die Kurden in der Türkei wie in Syrien fortzusetzen.

In einer Erklärung, die er nach dem Angriff in der Silvesternacht veröffentlichen ließ, schwor Erdoğan „bis zum Ende“ gegen die Terroristen zu kämpfen, deren Ziel es sei, „Chaos anzurichten und das Land zu destabilisieren“.

Doch die Türken hören solch verbalradikale Bekräftigungen von Erdoğan jetzt schon seit mindestens einem Jahr. Mehr und mehr Menschen könnten für sich zu der Einsicht gelangen, dass die gescheiterte Politik des Präsidenten und sein Konfrontationskurs mit den Kurden geändert werden müssen, wenn das Gemetzel ein Ende haben soll.

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Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

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