Wir Norweger werden uns nie wieder von der Traumatisierung frei machen können, die der Terror von Oslo und Utøya bei uns ausgelöst hat. Zusätzlich verbindet uns das Mitgefühl mit den Überlebenden sowie den Familien und Freunde der 77 Ermordeten. Nach den Anschlägen im vergangenen Juli sind wir zu Demonstrationen zusammengekommen oder haben unserer Trauer auf andere Weise öffentlichen Ausdruck verliehen.
Aber ich fürchte, diese Reaktionen unterscheiden sich nur geringfügig von denen auf eine Naturkatastrophe oder einen fatalen Unfall gleichen Ausmaßes. Jetzt, wo der Prozess gegen den geständigen Massenmörder Behring Breivik begonnen hat, scheint die norwegische Politik wieder zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Obwohl Breiviks Taten, sein Prozess und seine Psyche in den nationalen Medien omnipräsent sind und die Berichterstattung dominieren, scheinen wir vor den politischen Fragen zurückzuscheuen, die im Zusammenhang mit dem Terroristen gestellt werden müssten.
In diesem Winter hat Norwegen ein Abkommen zur Abschiebung junge Asylbewerber nach Äthiopien unterzeichnet. Diese Kinder haben ihr ganzes Leben in unserem Land verbracht, sie sprechen Norwegisch und besuchen norwegische Schulen. Mehrere Organisationen haben sich zusammengetan, um diese erzwungene Rückkehr in eine instabile Diktatur zu verhindern, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Abschiebungen stattfinden werden. Die Liebe, welche die Antwort auf Breiviks Hass sein sollte, reicht nicht bis zu diesen Kindern – ebenso wenig wie zu Palästinensern, Kurden oder anderen Flüchtlingen.
In gleicher Weise wird die Debatte über Islam und Islamophobie nach 22/7 eher in härterem Ton geführt. Unmittelbar nach den Morden zeigten einige anti-islamische Organisationen und Websites sich reumütig, aber das war nur eine Phase. Jetzt ist das Gift sogar noch stärker. Diejenigen, die behaupten, der Islam stelle eine Bedrohung für Europäer und Norweger dar und die letzten 1.500 Jahre seinen eine Geschichte des nie endenden Kampfes zwischen christlicher Zivilisation und islamischer Barbarei, sind heute genau so unnachgiebig wie zuvor. Anstatt die Tür für eine faire Debatte aufzustoßen, hat der Terror die Spaltung weiter zementiert. Sowohl rechtsgerichtete Politiker als auch anti-islamische Websiten wie document.no sind nach einigen Monaten der Besinnung zum Business as usual zurückgekehrt. Norwegische Zeitungen sehen sich auch heute noch gezwungen, bei Kommentaren oder Artikeln zu den Themen Islam oder Einwanderung die Kommentarfunktion zu deaktivieren, weil es jedes Mal zu Beleidigungen kommt.
Beides berührt den Kern der Breivikschen Ideologie. Und trotz der vielen Worte, die gemacht wurden, um zu erklären, der 22. Juli habe Norwegen verändert und werde es weiter verändern, sind es immer noch genau dieselben Leute, welche die Inhumanität unserer Einwanderungspolitik kritisieren. Und es sind immer noch dieselben Politiker des rechten Flügels, die jeden kritisieren, der ihrer Meinung nach „dem Islam gegenüber klein beigibt“. Die Islamophoben weisen zurück, etwas mit Behring Breivik gemein zu haben und kämpfen heute noch verbissener, um ihre Paranoia zu verteidigen.
Neues Tabu
Nach dem Anschlag erklärte Premierminister Stoltenberg, Norwegens Antwort werde aus mehr Demokratie und mehr Offenheit bestehen. Politiker aller Parteien pflichteten ihm bei, mit den Wahlen im vergangenen September würde die Nato eine eindeutige Antwort auf den Terror geben. Die Menschen sollten wählen gehen und damit ein Zeichen zur Verteidigung der Demokratie geben. Allein: Die Wahlbeteiligung war nicht wesentlich höher als sonst.
Die Debatte und der Diskurs über den Terror von 22/7 drehen sich immer mehr um Details: Um die Tat selbst, um die Fehler von Polizei und Regierung und vor allem um die Details von Breiviks Biographie. Wir blicken dem Terroristen so eindringlich in die Augen, dass es uns blind macht. Wir kennen all seine Waffen, seine Anzüge und Uniformen, seine Familie und Freunde. Er wird zu einer Berühmtheit, zu einer Ikone des Bösen. Aber wir verschließen die Augen vor der Tatsache, dass Breiviks Weltsicht von vielen in ganz Europa geteilt wird.
Die kollektive Empörung über seine Taten findet keine Entsprechung in einer ebenso einstimmigen Empörung über seine Motive. Auf YouTube kann man unter der im September ausgestrahlten BBC-Dokumentation über 22/7 von Leuten, die behaupten, sie seien Norweger, Kommentare wie den folgenden lesen: „So etwas passiert, wenn man eine einst friedliche Nation wie Norwegen zerstört, wenn man Moslems, Afrikaner und Abschaum aus der 3ten Welt hereinholt.“
Der norwegische Premier und viele andere erklärten, wir würden nicht zulassen, dass der Terror uns verändert. Das haben wir insofern geschafft, dass es zu einem Tabu geworden ist, eine Verbindung zwischen Behring Breivik und dem politischen Leben unseres Landes herzustellen. Ich denke aber, dass wir uns nach Utøya verändern und die schwierigsten Fragen überhaupt stellen sollten: Wie halten wir es mit einer Zukunft, in der Menschen verschiedenen Glaubens in Europa Seite an Seite leben werden? Und wie gehen wir mit der Ideologie um, die uns sagt, dass das unmöglich sei? Wir müssen den ideologischen Schoß unfruchtbar machen, aus dem Behring Breivik kroch.
Folgendes steht während des Prozesses auf dem Spiel: Mehr als um Breiviks Bestrafung geht es um die Frage, wie wir 22/7 verstehen. Was werden unsere Kinder in 15 Jahren in den Schulbüchern lesen? Werden die Morde jenes Tages allein als die verrückte Tat Behring Breiviks gelten oder als das Produkt wachsender Angst vor dem Islam und zunehmenden politischen Hasses? Die Antwort wird uns für Generationen nicht mehr loslassen.
Aslak Sira Myhre ist Direktor des Osloer Literaturhauses
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