Um sieben Uhr in der Frühe segelt am 12. November ein mit Stückgut beladenes Handelsschiff mit 29 Mann Besatzung an Bord 680 Seemeilen östlich der omanischen Stadt Salala. Plötzlich wird der Kapitän durch ein sich näherndes Schiff in Alarmbereitschaft versetzt, doch die Warnung kommt zu spät. Der Tanker wird von Piraten gekapert, die Mitglieder der Besatzung werden als Geisel genommen. Was wie ein Ausschnitt aus einem schlechten Roman klingen mag, stammt aus einem Bulletin des International Maritime Bureau (IMB).
Der Bericht wurde zwei Tage vor der Freilassung des britischen Ehepaars Paul and Rachel Chandler zusammengestellt, die vor über einem Jahr beim Segeln vor den Seychellen entführt worden waren. Ihre Freilassung – nach 13 Monaten wur
Seychellen entführt worden waren. Ihre Freilassung – nach 13 Monaten wurde schließlich Lösegeld bezahlt – bewegte ganz Großbritannien. In der Handelsschifffahrt sind solche Geschichten jedoch nichts Außergewöhnliches. In der Tat ist die Piraterie eine der stärksten Wachstumsbranchen Afrikas. Laut IMB fanden in diesem Jahr weltweit bislang 376 Überfälle auf Schiffe statt – 172 davon werden Piraten aus Somalia zugeschrieben. 2009 kam es insgesamt zu 410 Zwischenfällen.Bei den Überfällen in diesem Jahr kam es zu 44 tatsächlichen Entführungen, für 40 davon werden Somalis verantwortlich gemacht. Im Moment sind 22 Schiffe und 508 Besatzungsmitglieder in der Hand von Piraten.Die Zahl der Fälle hat nur geringfügig zugenommen, das eigentliche Wachstum ist bei den Lösegeldern zu verzeichnen. Roger Middleton, Experte des Thinktanks Chatham House, das auf das Horn von Afrika spezialisiert ist, sagt dazu: „Die Lösegelder belaufen sich inzwischen im Schnitt auf 3 Millionen Dollar. Sie steigen von Jahr zu Jahr. Letztes Jahr waren wir davon ausgegangen, sie hätte sich auf etwa 1 Million eingependelt. Dann haben einige Piraten 3 Millionen Dollar bekommen, dann 4 Millionen, und die Tendenz ist steigend.“Die Inflation erreichte im November einen neuen Höhepunkt, als für die Freilassung des südkoreanischen Öltankers Samho Dream, der im indischen Ozean entführt worden war, 9,5 Millionen Dollar bezahlt wurden. Und das ist noch längst nicht alles: Recherchen des Versicherungsmaklers Jardine Lloyd Thompson zufolge macht das Lösegeld nur 40 Prozent der gesamten Schadenssumme aus, da die Reedereien auch Anwälte, Unterhändler, Entschädigungen für die Crew und Strafen für die verzögerte Lieferung der Fracht zahlen müssen.Trotzdem kann in der Gesamtbilanz die Zahlung ihr Geld wert sein, abgesehen davon, dass es um die sichere Rückkehr der Besatzung geht. Im Fall der Samho Dream stiegen die Piraten mit einer Forderung von 20 Millionen Dollar im Gegenzug für 26 Besatzungsmitglieder und ein Schiff mit einer Fracht im Wert von 170 Millionen Dollar ein. Selbst ein massiver Anstieg der Lösegelder kann also mit höchster Wahrscheinliche den Wert eines Schiffes und der Fracht nicht übertreffen. So oder so werden die Zahlungen von den Versicherungen beglichen – wobei einige inzwischen 40.000 Dollar für Premiumversicherungen verlangen, die auch den Golf von Aden vor der somalischen Küste abdecken. Ferner scheint eine reine Chancen-Risiken-Kalkulation auch für die Piraten nur wenige Kehrseiten zu zeitigen. Wenige Länder haben bislang versucht, sie in Europa vor Gericht zu stellen – in den meisten Fällen tragen Kenia und die Seychellen die juristische Bürde, abgesehen von einem Fall im Jemen, wo unter großer Aufmerksamkeit der Medien sechs somalische Piraten im Mai zum Tode verurteilt wurden.Lieber Piraten als Islamisten?Verschwörungstheoretiker gehen sogar davon aus, dass die Piraten und ihre Milizen die einzige Kraft sind, die in Somalia eine totale Kontrolle durch die Islamisten vorhindern kann – was bedeuten würde, dass der Westen auch aus diesem Grund insgeheim zögert, in diesen Gewässern zu energisch gegen Piraten vorzugehen. Ob an dieser Hypothese nun etwas dran ist oder nicht – Tatsache bleibt, dass nur wenige Piraten je bestraft werden. Stephen Askins, Partner der Kanzlei Ince Co., erklärt: „Im Juli erschien in einem Bericht des UN-Sicherheitsrats eine verblüffende Statistik, aus der hervorging, dass 700 potentielle Piraten zwischen Januar und Juni durch Seestreitkräfte festgenommen und wieder entlassen wurden. Der politische Wille, Gefangene zu machen, sie mit zunehmen und vor Gericht zu stellen, erscheint sehr gering.“Simon Church von der Nafor-Mission der EU, die im Rahmen einer UN-Resolution vor der Küste Somalias operiert, besteht darauf, dass ihr Mandat vorsieht, „gefährdete Schiffe zu schützen“ und nicht, Angreifer zu verfolgen – doch selbst Patrouillen zu See können nicht für die Sicherheit der Schiffe garantieren. „Die Bedrohungen haben sich ausgeweitet, die Angriffe können inzwischen 1.200 Meilen vor der somalischen Küste erfolgen.“ Zwar gebe es Richtlinien für den Ernstfall, mit diesen gelinge es aber nur in bestimmten Fällen, potenzielle Angreifer abzuschrecken, so Church.An anderer Stelle haben Maßnahmen gegen die Piraterie neue Geschäftmöglichkeiten für Firmen eröffnet, mit denen wohl keiner gerechnet hätte. Der Wertpapier- und Derivatemakler ICAP vermittelt nun Schiffseignern Sicherheitsfirmen, die auf die Schifffahrt spezialisiert sind. Diese beraten sie in Abwehrmaßnahmen und stellen bei Bedarf bewaffnetes Sicherheitspersonal zur Verfügung. ICAP betont, das Unternehmen selbst stelle keine Kommandos zur Verfügung – einige Schiffsunternehmen wählen jedoch diese Option, auch wenn sie sich damit juristisch in eine Grauzone begeben.Dass alles kann das Problem eher verstärken, als zu seiner Lösung beizutragen. Wie Askins beobachtet: „Der Piraterie könnte wahrscheinlich nur ein Ende gesetzt werden, wenn es eine umfassende Veränderung der politischen Situation in Somalia gäbe, oder es dürften gar keine Schiffe mehr den Golf von Aden durchqueren. Keines von beidem ist wahrscheinlich.“