Eigentlich stellt man sich Oberndorf am Neckar ja als eine Idylle vor. Schließlich liegt die 14.000-Seelen-Gemeinde in einer der sonnenreichsten Ecken Deutschlands: Im Neckartal zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, mitten in Baden-Württemberg. Doch im Zentrum liegt kein malerischer Marktplatz mit kleinen Geschäften und Kopfsteinpflaster, die Stadt besteht eher aus mehreren ins Tal geklemmten Industriekomplexen, dazwischen Wohnsiedlungen und ziemlich große Supermärkte, die an den Hängen des Neckartals emporzuklettern scheinen.
Auf die Schönheit der Natur ist man hier eh nicht unbedingt stolz. Die Gegend verdankt ihren Wohlstand dem Maschienbau: Sägemaschinen, Bohrmaschinen, Maschinenteile. Oberndorfs größtes Unternehmen aber ist Heckler & Koch, einer der weltweit führenden Hersteller von Schusswaffen. Ihre „Feinmechanik“ dürfte bereits in fast jedem Winkel der Welt zum Einsatz gekommen sein. Die MP5-Maschinenpistole wird von den US-amerikanischen und britischen Spezialeinsatzkräften verwendet; das G36-Sturmgewehr von Deutschland über Ägypten bis Brasilien und Indonesien eigentlich auch überall. Niemand kann genau sagen, wie viele Waffen von H&K zur Zeit im Einsatz sind. Friedensaktivisten schätzen aber, dass allein zwischen 7 und 20 Millionen G3-Gewehre im Umlauf sind.
Deutschland liegt mit bestätigten Waffenexporten von 2,1 Milliarden Euro im Jahr 2010 weltweit auf Rang drei hinter den USA und Russland. Doch trotz des großen Erfolges ist H&K in Schwierigkeiten. Im Juni 2013 gab das Unternehmen Schulden in Höhe von 270 Millionen Euro bekannt; ein Jahr zuvor war es von der Rating-Agentur Moody’s heruntergestuft worden. Darüber hinaus befindet sich die Waffenschmiede wegen eines illegalen Waffendeals mit Mexiko in einem Rechtsstreit mit zwei ehemaligen Mitarbeitern. Es wird erwartet, dass die Staatsanwaltschaft noch in diesem Jahr Anklage erhebt. Nun berichteten die Tagesthemen unlängst von Hinweisen auf eine weitere mögliche illegale Transaktion mit der mexikanischen Regierung. Die soll dem Unternehmen 1,2 Millionen Euro für einen Technologietransfer bezahlt haben, der es den Mexikanern ermöglicht, das G36 selbst zu bauen. Die Bundesregierung will davon nichts gewusst haben.
Ein Dorf als Waffenfabrik
H&K selbst möchte zu diesem Vorwurf keine Stellung beziehen. Ein Sprecher erklärte aber in einer E-Mail: „Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Waffen- und Export-richtlinien stellen unsere wirtschaftliche Grundlage dar – ohne sie gibt es keine Export-Lizenzen und keine Aufträge. Alle unsere Mitarbeiter sind sich darüber im klaren. Für alles weitere: Wir befolgen die politischen Richtlinien, wir machen sie nicht.“ H&K sei für Oberndorf zu einem wichtigen „ökonomischen Motor“ geworden, so der Sprecher weiter.
Die Waffenproduktion geht hier bis auf das Jahr 1811 zurück, als Friedrich I. von Württemberg in einem stillgelegten Augustinerkloster zum ersten Mal Gewehre und Bajonette fertigen ließ, die dann zwischen riesigen Gemälden von der Geburt und Kreuzigung Jesu gelagert wurden. Zwei der Angestellten, Wilhelm und Paul Mauser, nutzten im Jahr 1871 die deutsche Reichsgründung, um sich selbstständig zu machen. Jahrzehntelang statteten die Mausers ganze Armeen aus. Auf seinem industriellen Höhepunkt arbeiteten 11.000 Arbeiter am Standort Oberndorf. Später wurde die Gemeinde im Neckartal zu einem wichtigen Player im Zweiten Weltkrieg. Adolf Hitler verlangte, dass die Stadt 70.000 Mauser-Gewehre im Monat produzieren sollte. Das gelang mit dem Einsatz von 5.000 Zwangsarbeitern aus ganz Europa.
„Oberndorf ist im Grunde eine einzige Waffenfabrik“, sagt Ulrich Pfaff. Beide Wörte seien Synonyme. Der Mann ist der Pazifist im Ort. Er wurde 1937 hier geboren und kann sich noch daran erinnern, wie die Wehrmacht Flammenwerfer testete und künstlicher Nebel ins Tal gepumpt wurde, um die Fabriken vor den alliierten Bombern zu verstecken. Nachdem er viele Jahre als Entwicklungshelfer in Afrika gearbeitet hatte, kam Pfaff 2001 in seine Heimatstadt zurück. Noch immer erhält er Drohungen und anonyme Briefe. Für jemanden, der Hass-Mails bekommt, ist der 77-Jährige aber ausgesprochen gut gelaunt. Als er mich am Bahnhof abgeholt hat, beginnt er sofort mit einer Stadtführung: „Da drüben ist die alte Mauser-Fabrik. Sie wurde von Rheinmetall gekauft, jetzt machen sie da Kanonen für Kriegsschiffe. Da unten ist Westinger & Altenburger. Die stellen Sportgewehre her. Und da oben sitzt Heckler & Koch.“ Pfaff zeigt auf die Spitze eines mit Kiefern bewachsenen Berges.
Es gibt einen Grund dafür, warum die größte Fabrik hier auf einer Anhöhe liegt und vom Stadtzentrum aus nicht zu sehen ist. Drei Ingenieure – Edmund Heckler, Theodor Koch und Alex Seidel – sollen nach dem Krieg, als französische Truppen die Zerstörung der Mauser-Maschinen überwachten, nachts zwei Fräsmaschinen gestohlen, sie auf einem Lastwagen versteckt und in eine auf dem Hügel stehende Kaserne gefahren haben. Angeblich genau an dieser Stelle haben die drei dann im Jahr 1949 ihre Fabrik erbaut. Dann war es wieder legal erlaubt, auch in Deutschland Waffen zu produzieren.
Seitdem ist das Unternehmen zu einem integralen Bestandteil der Nato-Infrastruktur geworden. „Europa und Deutschland werden immer stärker in internationale Konflikte hineingezogen. Eine Reihe gegenwärtiger Krisenherde befinden sich vor unserer Haustür“, schreibt der Sprecher. „Wir fühlen uns für die Sicherheit und das Leben der Soldaten und Polizeibeamten der Nato-Mitgliedstaaten und Nato-Verbündeten mitverantwortlich. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und handeln entsprechend.“
Doch die Waffen von H&K werden nicht nur von befreundeten Ländern eingesetzt. „Wenn man auf einer Karte einzeichnen würde, wo es keine H&K-Waffen gibt, blieben nur zwei weiße Flecken übrig: Der ehemalige Ostblock, der ist mit Kalaschnikows überschwemmt. Und die Antarktis“, sagt Jürgen Grässlin. Eigentlich arbeitet er als Lehrer in Freiburg, seine Nachmittage aber verbringt er im Rüstungsinformationsbüro, das er 1992 mitgegründet hat. Hier hat er sein gewaltiges Archiv, in dem praktisch alle deutschen Waffenexporte der vergangenen Jahrzehnte dokumentiert sind.
Die Merkel-Doktrin
Auch wenn er die Aktivitäten aller hiesigen Waffenhersteller verfolgt, Heckler & Koch gilt seine besondere Aufmerksamkeit. In seinem 2013 erschienenen Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient rechnet er vor, dass seit 1961 – dem Jahr, in dem die Lizenz für das G3 zum ersten Mal an ein anderes Land vergeben wurde – 2.079.000 Menschen mit H&K-Waffen getötet worden sein dürften. Das sind umgerechnet 114 pro Tag.
Wenn die deutsche Regierung in den vergangenen 60 Jahren befragt wurde, warum sie den Waffenexporten jeweils zugestimmt habe, war die Antwort immer dieselbe: „Stabilität“. Stabilität stellt man dadurch her, dass man beide Konfliktparteien gleichermaßen bewaffnet. Deutschland hat daher Waffen nach Israel und Ägypten, Griechenland und die Türkei, Indien und Pakistan, Saudi-Arabien und Iran geliefert. „Stabilität ist die große Lüge hinter diesen Waffenexporten“, sagt Grässlin.
Es geht dabei nicht nur um das Geschäft. Es geht auch um die neue deutsche Außenpolitik. 2010 genehmigte die Bundesregierung Ausfuhren in einer Rekordhöhe von 2,1 Milliarden Euro – zehnmal mehr als noch zehn Jahre zuvor. Grässlin sagt dazu „Merkel-Doktrin“: Man schickt Waffen statt Truppen. In seinem Buch nennt er die Verantwortlichen auch beim Namen. Die Bundeskanzlerin führt die Liste an. „Ich habe Angela Merkel auf Platz eins gesetzt, weil sie, anders als die Regierungen Kohl und Schröder, dazu bereit ist, Panzer an Saudi-Arabien zu liefern. Vorher war das tabu. 2011 soll sie bei der Veranstaltung einer politischen Stiftung gesagt haben, Deutschland werde in Zukunft weniger Soldaten, dafür aber mehr Waffen in Konfliktgebiete schicken“, sagt Jürgen Grässlin.
Im April 2010, nach 26 Jahren akribischer Recherche, gelang Grässlin ein erster großer Schlag gegen H&K. Er zeigte den Konzern wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz an und bekam Recht: Der Verkauf von 9.300 G3-Gewehren an Mexiko in den Jahre 2006 bis 2009 war illegal. Es dauerte mehrere Monate, bis die Staatsanwaltschaft auf die Anzeige reagierte. Erst nachdem eine TV-Dokumentation die Vorwürfe bestätigte, durchsuchten Beamte die Firmenzentrale und der verantwortliche Manager Peter Bexerle trat zurück. H&K ließ freilich erklären, er habe sich für eine andere „Lebensplanung“ entschieden. Im Laufe der darauffolgenden vier Jahre kamen weitere Einzelheiten ans Licht. Die Bundesregierung hatte dem Verkauf unter der Bedingung zugestimmt, dass die Waffen in vier bestimmten mexikanischen Bundesstaaten nicht eingesetzt werden. Man hielt die Polizei dort für zu korrupt und brutal. Es stellte sich aber heraus, dass die Mexikaner nie von dieser Bedingung gehört und die Hälfte der Waffen direkt in diese Bundesstaaten weitergeleitet hatte. H&K reagierte mit der Entlassung von zwei Mitarbeitern und behauptete, diese hätten eigenmächtig gehandelt. Die Mitarbeiter klagten vor dem Arbeitsgericht. Im Januar nun gewannen sie ihren Fall. Die Entlassung war unrechtmäßig.
Grässlin denkt unterdessen bereits über eine neue Anzeige nach: Mexiko hat mit dem Bau eines eigenen Sturmgewehrs begonnen, das offenbar dem G36 nachempfunden ist. Wenn man sich mit ihm unterhält, kann man den Eindruck nicht vermeiden, dass es sich bei diesem Deal um genau den Skandal handelt, auf den er seit 30 Jahren wartet. „Ich weiß alles über dieses Geschäft“, sagt er. Grässlin ist davon überzeugt, dass H&K inzwischen solche Deals macht, weil der Druck der 270 Millionen Euro Schulden zu groß geworden ist. „Warum, glauben Sie, haben die mit diesen riskanten Geschäften angefangen?“, fragt Grässlin, während er sich mit dem Ellenbogen auf einem Stapel Waffenmagazine stützt. Der Geschäftsführer und Hauptanteilseigner Andreas Heeschen würde wohl gern verkaufen. „Aber wer will schon ein Unternehmen, das so hoch verschuldet ist und all diese Verfahren anhängig hat? Sie können sich vorstellen, wie sehr er mich liebt!“, sagt Jürgen Grässlin und lacht.
Ben Knight lebt in Berlin. Er schreibt unter anderem für den Guardian , Fluter und Dummy Übersetzung: Holger Hutt
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