Welche Bedeutung hat es, wenn man sagt, ein psychisches Leiden oder eine Verhaltensauffälligkeit habe eine biologische Ursache? Im Laufe der vergangenen Woche wurde heftig über das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Sydrom (ADHS) diskutiert: Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Cardiff hatte ein Paper publiziert, in dem eine bestimmtes genetisches Muster mit ADHS in Verbindung gebracht wird. Die Studie nahm Chromosomdeletionen und -Duplikationen, die unter der Bezeichnung copy number variants (CNV) bekannt sind, ins Visier und konstatiert nun, dass diese bei 16 Prozent der Kinder mit ADHS auftreten.
Was viele Berichte, auch jener im Guardian, nicht anmerkten, ist, dass dieselbe Struktur von CNV auch bei acht Prozent der Kinder ohne ADHS gefunden wurde. Der Unterschied ist also nicht gerade groß. Interessant waren vor diesem Hintergrund die moralischen und kulturellen Interpretationen, die diese Ergebnisse auslösten, nicht zuletzt auf Si Autoren selbst: „Nun können wir mit fester Überzeugung sagen, dass es sich bei ADHS um eine genetisch bedingte Krankheit handelt und sich die Gehirne der betroffenen Kinder anders entwickeln als die ihrer Altersgenossen“, sagte Professor Antia Thapar. „Wir hoffen, dass diese Erkenntnisse dazu beitragen, die Stigmatisierung von ADHS zu überwinden.“
Aber hilft denn der Glaube, dass derartige Probleme biologische Ursache haben, wirklich, die Stigmatisierung zu verringern?!
Angst vor den Genen
Vor neun Jahren untersuchten John Read und Niki Harré mithilfe von Fragebögen die Einstellungen von Psychologie-Studenten im ersten Semester. Die Studenten konnten auf einer Skala von eins bis sechs den Grad angeben, zu dem sie Aussagen wie dieser zustimmten: „Ich würde wahrscheinlich eher davor zurückschrecken, mit jemandem eine Beziehung einzugehen, von dem ich wüsste, dass er oder sie schon einmal in einer Nervenklinik war.“ Leute, die mehr an eine biologische oder genetische Ursache seelischer Erkrankungen glaubten, tendierten stärker dazu, dass Menschen mit psychischen Schwierigkeiten unberechenbar und gefährlich sind. Sie hatten größere Angst vor ihnen und neigten eher dazu, Kontakt zu vermeiden. Eine frühere Untersuchung im Jahr 1999 war zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.
2002 zeigten Walker und Read jungen Erwachsenen ein Video, in dem ein Mann mit psychotischen Symptomen wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen porträtiert wurde, und gaben ihnen dann entweder biogenetische oder psychosoziale Erklärungen. Auch hier verstärkte das „medizinische Modell“ maßgeblich den Eindruck von Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit.
Verlangen nach Distanz
2004 führten Dietrich und Kollegen in Deutschland, Russland und der Mongolei eine Reihe von strukturierten Befragungen mit drei repräsentativen Probandengruppen durch. Diejenigen, die die Hauptursache für Schizophrenie in der Biologie verorteten, zeigten auch hier ein größeres Verlangen nach sozialer Distanz. Schließlich bestätigte auch eine Übersicht der Literatur zum Thema bis zum Jahr 2006 diesen Zusammenhang: Von den 19 Studien, die sich mit dem Thema beschäftigten, kamen 18 zu dem Ergebnis, dass biogenetische Erklärungsmuster eine negativere Einstellung beförderten als psychosoziale.
Auch wenn diese Erkenntnisse allem widersprechen, was Leute, die sich gegen eine Stigmatisierung einsetzen, lange Zeit angenommen haben, sind sie nicht völlig unsinnig. Jo Phelan schreibt in ihrem Paper Genetic bases for mental illnesses – a cure for stigma?, wenn man Leuten erzähle, die psychischen Abweichungen hätten genetische Ursachen, würden die Betroffenen eher als „defekt“ und „körperlich verschieden“ wahrgenommen. Es kann auch dazu führen, dass die ganze Familie des Betroffenen mit dem Stigma versehen wird und Attribute wie „risikobehaftet“ und „Träger“ erhält.
Ein Kind mit diesem "Träger"?
Dieses Stigma kann sich dann noch lange Zeit halten, nachdem die ADHS-Symptome beim Erwachsen schon längst verschwunden sind. So könnte sich ein Partner möglicherweise fragen, ob er wirklich riskieren möchte, ein Kind mit der betreffenden Person zu haben. Und möglicherweise geht es sogar noch weiter und die Kinder von Betroffenen werden bereits stigmatisiert, noch bevor sie in irgendeiner Form verhaltensauffällig werden. Haben sie diese Abweichung, genau wie ihr Vater? „Es ist genetisch bedingt, wissen Sie.“ Auch die Hemmschwelle für eine ADHS-Diagnose könnte sinken: Wie bei vielen anderen Auffälligkeiten ist der diagnostische Rahmen sehr weit gefasst.
Es bringt nichts, den Eltern die Schuld zu geben. Aber bevor ich diese Untersuchungen las, hatte vermutlich auch ich, ohne darüber nachzudenken, geglaubt, dass ein „biologischer Grund“ für psychische Probleme ein Mittel sei, um die Stigmatisierung zu bekämpfen. Nun bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wer gegen Vorurteile vorgehen will, muss möglicherweise auch seine eigenen bekämpfen.
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