Ein Mann wie Jair Bolsonaro, der in Runde eins der Präsidentenwahl 46 Prozent erhielt, spricht sich für die Legalität des Folterns aus und sieht in einer Militärdiktatur einen Weg, Brasilien zu befrieden – und erntet bestenfalls verhaltenen Protest. Was erklärt, warum Fernando Haddad als Kandidat der Arbeiterpartei (er kam am 7. Oktober auf 30 Prozent) bei der Stichwahl am 28. Oktober nur auf ein Wunder hoffen kann, um einen Fanatiker im höchsten Staatsamt zu verhindern.
Fast parallel zum Präsidentenvotum in Brasilien zeigte in Washington die Berufung von Brett Kavanaugh an den Obersten Gerichtshof die Gleichgültigkeit, wenn nicht Verachtung, mit der die Republikaner im US-Kongress demokratische Normen schleifen. Trotz verschiedener politischer Kulturen in Brasilien und in den USA stellt sich die besorgniserregende Frage, wer in Nord- und Südamerika eigentlich noch als Bürger zählt, dem nicht zugemutet werden darf, dass sein Demokratieverständnis übermäßigen Schaden nimmt.
Demagogische Floskeln
Brasilien ist die viertgrößte Demokratie der Welt. 2002 wurde dort ein Staatschef gewählt, wie es ihn noch nie gab: ein früherer Stahlarbeiter und Gewerkschaftsführer mit wenig formaler Bildung. „Lula“ da Silva beschwor soziale Gerechtigkeit und wollte Gleichberechtigung für sexuelle und ethnische Minderheiten. Kaum vereidigt, setzte er einige seiner Wahlversprechen tatsächlich um. Mit dem Bolsa-Família-Programm holte er Millionen aus der Armut, öffnete die Universitäten für dunkelhäutige Studenten und Kinder aus Arbeiterfamilien. Vergleichbares vollzog sich in den USA mit dem 2008 gewählten Barack Obama, der mit seiner Gesundheitsreform dafür sorgte, dass Millionen US-Bürger Zugang zu medizinischer Fürsorge fanden. Freilich wollten sich weder Lula nach Obama wirtschaftspolitisch auf irgendwelche Abenteuer einlassen. Beide hielten sich an konventionelle Muster für ein substanzielles Wachstum – und auf beide folgte ein brutaler rechter Backlash. Die Parallelen reichen sogar noch weiter: Lula und Obama wurden in ihren Parteien von Präsidentschaftskandidatinnen beerbt, die ebenfalls für mehr gesellschaftliche Teilhabe standen. Beide Politikerinnen – Dilma Rousseff und Hillary Clinton – erschienen etablierter und massenkompatibler als ihre Vorgänger und folgten einer moderat fortschrittlichen Agenda.
Rousseff gewann die Wahlen 2010 und 2014, doch bevor sie ihre zweite Amtszeit beenden konnte, sorgten rechte Kräfte für ihren Abgang und implementierten den konservativen Vizepräsidenten Michel Temer. Auch wenn der Vorgang streng genommen legal war, wurde Rousseff wegen marginaler Vergehen des Amtes enthoben – und das von bekanntermaßen korrupten Politikern. 2016 gewann Donald Trump die Wahl gegen Hillary Clinton, auch dies war legal, wurde jedoch von dem Vorwurf russischer Einflussnahme, dem Hacken von E-Mail-Accounts und politisch getimten FBI-Enthüllungen wie fehlender Stimmenmehrheit flankiert. Trotz der fragwürdigen Art und Weise, wie sie ins Amt kamen, haben sich sowohl Trump wie Temer umgehend bemüht, die Sozialreformen ihrer Vorgänger zu kassieren. Mit einem drakonischen Kurswechsel entkernten sie Programme für Bildung, Familien und Umweltschutz. Um diesen Kahlschlag zu bewirken, bildeten sie Kabinette, die sich nahezu ausschließlich aus reichen weißen Männern rekrutierten.
Der jetzige brasilianische Wahlkampf hat Ähnlichkeiten mit der US-Politik verstärkt. Bolsonaro spricht in abwertender Weise über Frauen, sexuelle Minderheiten und Einwanderer. Wie Trump ermutigt er die Polizei, erst zu schießen und dann zu fragen. Schließlich preist Bolsonaro autoritäre Herrscher wie jene Obristen, die Brasilien von 1964 bis 1985 diktatorisch regierten. Viele Brasilianer fürchten, dass eine Amtsübernahme Bolsonaros das Militär wieder zurück in die Politik bringt, zusammen mit Folter und Repression. Als Bolsonaro 2016 im Parlament seine Stimme zugunsten der erzwungenen Demission Dilma Rousseffs abgab, tat er dies ausdrücklich zu Ehren von Carlos Brilhante Ustra, dem am meisten gefürchteten Folterer der Diktatur.
Bei einem Interview für den Kanal TV Globo im August ignorierte Bolsonaro alle Fragen nach seinen politischen Vorstellungen und ritt stattdessen beharrlich auf der Gefahr herum, die es angeblich mit sich bringe, wenn in Schulen über Gender und Sexualität diskutiert werde. Er äußerte sich bewusst falsch über Unterrichtsinhalte und erklärte, kein Vater würde es gern sehen, wenn „sein Sohn mit Puppen spielt, weil ihm ein Lehrer dies vorgeschlagen hat“. Wie Trump schätzt Bolsonaro demagogische Floskeln und verachtet Medien, die sich ihm widersetzen.
Brutale Gegenreaktionen
Was haben diese Parallelen zu bedeuten? Ich bin im August in den Süden Brasiliens gereist. In einer Region mit einer langen Geschichte sozialer Bewegungen traf ich auf Menschen, die zwischen Wut und Ohnmacht schwankten. Das kam mir bekannt vor, weil ich bestätigt fand, wie sehr heute Medienspektakel die Politik ersetzt. In Brasilien ist das nicht mehr aufzuhalten, seit Bolsonaro Anfang September bei einem öffentlichen Auftritt mit einem Messer angegriffen wurde, operiert werden musste und den Wahlkampf von einem Krankenhausbett aus fortsetzte, was seine Beliebtheitswerte nochmals steigerte.
Sowohl in Brasilien wie in den USA hat die Mehrheit wiederholt für eine fortschrittliche, demokratische Politik und für Regierungen votiert, die gegen ein allzu krasses soziales Gefälle vorgehen. Diese Wähler, von denen viele jung sind und noch nicht lange wählen dürfen, haben nicht selten geglaubt, mit Lula und Obama sei eine neue Zeit angebrochen. Tatsächlich kam es in beiden Ländern zu einer eher zaghaften Politik, die einen sozialen Wandel anstrebte, der das ökonomische System nicht weiter erschütterte.
In vielen Gesprächen mit Brasilianern wurde mir klar, dass eine weit verbreitete Empörung über die fragwürdige Amtsenthebung Rousseffs, die viele als Putsch bezeichneten, der Entrüstung entspricht, mit der US-Amerikaner das Ausmanövrieren des Juristen Merrick Garland, nominiert für den Obersten Gerichtshof, durch die Republikaner quittierten. Sie mussten danach mit ansehen, wie Brett Kavanaugh durchgedrückt wurde. Die Weigerung des US-Senats, für Garland zu stimmen, war sicher ebenso legal wie die Amtsenthebung Rousseffs, doch wurden in beiden Fällen elementare Normen des politischen Anstands verletzt.
Die Anhörungen Kavanaughs, die Debatte über seine Vergangenheit wie die halbherzige Untersuchung der ihm vorgeworfenen sexuellen Nötigung haben das Unbehagen über eine manipulierte Legalität verstärkt. In den USA hat es sich unter Trump eingebürgert, kaum mehr über die Grenzen des Landes hinauszusehen. Geschieht es ausnahmsweise doch, dann unter Verweis auf einen virulenten Populismus in Europa, den dort Einwanderer entfacht hätten.
Ich habe festgestellt, dass Ähnliches für die Brasilianer gilt. Während sie die Präsidentschaft Trumps vollauf durchschauen, sind sie nicht in der Lage, die Dynamik der politischen Krise in ihrem Land zu verstehen. Ende August, als ich durch das Land reiste, erwischte ich mich wiederholt dabei, die Gemeinsamkeiten zwischen den Flugbahnen beider Länder resigniert abzuhaken und mich zu fragen, wie es in zwei derart unterschiedlichen Demokratien dazu kommen kann.
Jedenfalls scheint die jüngste Geschichte Nord- und Südamerikas die folgende zu sein: Schwarze Präsidenten beziehungsweise Präsidenten aus der Arbeiterklasse wollen ein ökonomisch auskömmliches Leben und kulturelle Teilhabe. Zur Enttäuschung ihrer Wähler lassen sie dabei übermäßige Vorsicht walten und versuchen nicht, den Wohlstand umzuverteilen oder die Märkte zu regulieren. Was daraus folgt, ist eine gewaltige Enttäuschung. Die Menschen merken, dass sozialer Aufstieg bestenfalls eine Episode, wenn nicht Illusion war.
Und dann sehen sie in Brasilien die 13 Millionen Arbeitslosen, die anzeigen, wie ein Schwellenland auf der Stelle tritt. Sie wissen um die schamlose Korruption der politischen Klasse, die dafür verantwortlich ist. Und plötzlich lösen unvollendete Sozialreformen wie die von Lula und Rousseff brutale Gegenreaktionen aus, die wieder eine Umverteilung von unten nach oben forcieren. Davon profitieren Brandstifter wie Bolsonaro, bei dem befürchtet wird, dass er Brasilien in die 1960er Jahre zurückstößt – all seinen Schwüren zum Trotz, ein „Sklave der Verfassung“ zu sein.
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