Mit einem neuen europapolitischen Eklat haben die Tories die britische Öffentlichkeit gestern eindrücklich daran erinnert, warum ihre Partei fast zwanzig Jahre lang keine Wahl gewonnen hatte. Die rekordverdächtige Revolte von 81 Tory-Parlamentariern gegen den europapolitischen Kurs ihres eigenen Premierministers David Cameron hat die zerstörerische Kraft offenbart, die das Thema Europäische Union für die britischen Konservativen noch immer hat. Die Rebellen stimmten für ein Referendum über einen EU-Austritt, das Cameron klar ablehnte. Mit den Stimmen der Opposition entging der Konservative zwar einer Abstimmungsniederlage. Doch ergibt sich ernstlich die Frage, wie viel Autorität Cameron besitzt und wie regierungsfähig die Tories überh
erhaupt sind.Schon ihre vorherigen zwei Premierminister hat die Partei über das Thema Europa zu Fall gebracht. Trotzdem scheint sie entschlossen, einen weiteren ihrer politischen Führer auf diese Weise zu demütigen – und das zu einer Zeit größter ökonomischer Bedrohung für Großbritannien, Europa und die Welt. Man denkt daran, was Talleyrand über die Bourbonen sagte: Sie lernten nichts und vergäßen nichts. Oder an Karl Marx' Wort über die sich erst als Tragödie und dann als Farce wiederholende Geschichte.Wirtschaft ist das Thema Nummer einsAnfang dieses Monats wurden die Briten in einer Erhebung für den Economist gefragt, welches derzeit die wichtigsten Themen für Großbritannien seien. Ganze fünfzig Prozent antworteten, es sei die Wirtschaft. Weitere elf Prozent nannten die Arbeitslosigkeit. Addiert man die drei Prozent, die die Inflation und die drei Prozent, die die Armut an erste Stelle setzten, kommt heraus, dass über zwei Drittel der Briten finanzielle und wirtschaftliche Themen für die drängendsten ihres Landes halten. Angesichts des Zusammenbruch des Bankensystems, der Staatsschuldenkrise, des Absturzes der Börse, des Sinkens der Realeinkommen und der Tatsache, dass der Wirtschaft kein Wachstum gelingt, setzen sie damit unbestreitbar die richtigen Prioritäten.Bei der selben Umfrage erhielten Europa, die EU oder der Euro nur ein Prozent der Nennungen. Dieser deutliche Kontrast bedeutet aber nicht, dass das Thema Europa nicht von Bedeutung ist. Die EU und die Eurozone stecken in einer tiefgreifenden Krise. Reformen sind dringlich und auch im Interesse Großbritanniens. Dabei kann man sich allerdings nicht vor der Botschaft einer heutigen Guardian-Umfrage verstecken: Darin befürworteten 70 Prozent der Befragten eine Volksabstimmung über den weiteren Verbleib in der EU. Und 49 Prozent sagten, sie würden bei einem solchen Referendum für einen Austritt votieren. Nur 40 Prozent gaben an, sie würden für den Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen.Diese Ergebnisse zeigen, dass die britische Öffentlichkeit Volksabstimmungen zugeneigt wäre. Sie offenbaren zudem eine zunehmende Europaverdrossenheit, die weder übertüncht werden kann, noch heruntergespielt werden sollte. Allerdings müssen diese Bedenken auch im Kontext des übergeordneten und durchaus begründeten Verständnisses der Öffentlichkeit für die derzeitigen ökonomischen Gefahren gesehen werden.Die Europaobsession der ToriesIn diesem Zusammenhang zeigt der Ausbruch der Europawut bei den Tories nicht nur eine enorme Schwäche. Deutlich werden zudem die innenpolitischen Gefahren, denen die Tories Tür und Tor öffnen, wenn sie beim Thema Europa ihre Zerstrittenheit derart offen zur Schau stellen. Cameron hat seiner Partei vor fünf Jahren gesagt, sie solle ihre Europaobsession aufgeben. Damit hatte er Recht. Allerdings hat er den Standpunkt nicht energisch genug vertreten. Gestern Abend zahlte er den Preis dafür.Was sich auf den Hinterbänken seiner Partei abspielte, lief nicht nur dem Interesse Großbritanniens zuwider, das derzeit eine starke Rolle in Europa spielen sollte. Diese wahnhafte Darbietung schadet auch dem Interesse der eigenen Partei. Der Premier und sein Außenminister William Hague haben gestern für die richtige Sache gekämpft. Trotzdem war es ernüchternd zu sehen, wie die Euroskeptiker unter den Tories wieder voll in Fahrt kommen. Die Liberaldemokraten konnten nur extremes Unbehagen über einen solchen Koalitionspartner empfinden – vor allem, wenn man sieht, wie vernünftig die Labourpartei im Vergleich zu den Tories an die Sache herangeht. Cameron, der für eine führende Rolle Großbritanniens in der EU plädierte und sich gleichzeitig beim Anti-Europa-Flügel seiner Partei anbiederte, hat nie mehr geklungen wie John Major, der letzte konservative Premier vor ihm: Wie ein Amtsinhaber nämlich, der machtlos ist.