Cate Blanchett über Lydia Tár: „Sie nahm in meinen Träumen ein Eigenleben an“
Im Gespräch Die Stardirigentin Lydia Tár ist die kontroverseste Rolle, die Cate Blanchett bisher gespielt hat. Wie geht die Oscar-Favoritin mit den teils heftigen Vorwürfen gegen den Film um?
Cate Blanchett: „Eine Geschichte wie diese ist mir noch nie begegnet. Oder eine Figur wie diese. In meinen Träumen nahm sie ein Eigenleben an“
Foto: Valerie MAcon/AFP/Getty Images
Mit neun Jahren nahm Cate Blanchett in einem Vorort von Melbourne Musikunterricht, und es war ihre Lehrerin, Mrs. McCall, die als erste bemerkte, wo ihr wahres Talent lag. „Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Mrs. McCall ihre Hand auf meine legte und sagte: 'Du hast nicht geübt, nicht wahr?' Ich brach in Tränen aus und sagte: 'Nein, habe ich nicht'. Und sie sagte: 'Ich denke, wir sollten damit aufhören, denn ich glaube, du willst nicht Pianistin werden, sondern Schauspielerin.'“
Auch wenn sie damals enttäuscht war, weiß Blanchett heute, wie scharfsinnig ihre Musiklehrerin war. „Sie veranstaltete Konzerte, und sie merkte instinktiv, wie ich einfach daherkam und die Rolle der Musikerin spielte.“
Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was M
“Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was Mrs. McCall von Cate Blanchetts Hauptrolle in Tár halten würde, einem der umstrittensten Filme der jüngsten Zeit. Blanchett verkörpert darin eine machtbesessene Dirigentin, deren öffentlicher Sündenfall ihre steile Karriere sabotiert, gerade als diese sich ihrem Höhepunkt nähert: einer mit Spannung erwarteten Aufführung von Mahlers 5. Symphonie.Über das Drehbuch von Autor und Regisseur Todd Field sagte Blanchett kürzlich: „Ich habe es beim ersten Lesen inhaliert“. Was war es, frage ich, das sie so begeistert hat? „Das Gefährliche und Beunruhigende an diesem Film ist, dass er nicht zum Mitleid einlädt oder einfache Lösungen anbietet“, sagt sie. „Niemand ist vollkommen gut, und niemand ist vollkommen unschuldig. Es ist eine sehr nuancierte Untersuchung der Korrumption durch institutionelle Macht, aber es ist auch ein sehr menschlicher Film, denn im Mittelpunkt steht eine Person, die sich in einer existenziellen Krise befindet.“Blanchett geht als Favoritin in das Rennen um den Oscar als beste Hauptdarstellerin, sollte sie ihn gewinnen, wäre sie die fünfte Schauspielerin, die mit drei oder mehr Oscars ausgezeichnet wurde. (Die anderen vier sind Katharine Hepburn, Frances McDormand, Meryl Steep und Ingrid Bergman.)Bei der Premiere auf den Filmfestspielen von Venedig erhielt Tár im September anhaltende Standing Ovations und Blanchett den Preis für die beste Darstellerin. Seitdem wurde der Film von vielen als Meisterwerk gefeiert, aber auch kontrovers diskutiert, da er umstrittene Themen wie Cancel Culture und Identitätspolitik berührt. Außerdem hat der Film einige Kritiker mit seiner bewusst provokativen Darstellung einer mächtigen Frau irritiert, die sich so schlecht verhält, wie sonst oft mächtige Männer. Einfacher gesagt: Lydia Tár ist eine Tyrannin, eine genüssliche Manipulatorin und möglicherweise nutzt sie eine Reihe junger Frauen sexuell aus, die ihrem Genie verfallen sind.Richard Brody prangerte vergangenes Jahr im New Yorker fast alles an dem Film an, insbesondere, was er als dessen ideologische Stoßrichtung betrachtete. Er nahm sich im Speziellen eine Szene vor, in der Tár den nervösen jungen Musikstudenten Max niedermacht, der sich als „Bipoc Pangender Person“ identifiziert, und erklärt, er „stehe nicht“ auf Bach, wegen dessen Frauenfeindlichkeit. Für Brody versinnbildlichte die Szene „einen regressiven Film, der die so genannte Cancel Culture aufs Korn nimmt und die so genannte Identitätspolitik lächerlich macht“.Cate Blanchett zögerte, über den Film zu sprechenIch frage Blanchett, was sie von solchen Reaktionen hält, wenn sie sie denn überhaupt liest.„Ich habe sehr gezögert, über den Film zu sprechen“, sagt sie, „zum Teil, weil er so vieldeutig ist und ich keine Definition vorgeben möchte. Ich glaube auch, dass es für Journalisten manchmal schwierig ist, so viele Filme zu sehen und dann sofort eine Meinung abgeben zu müssen. Viele Leute, die sich mit dem Film beschäftigt oder ihn noch einmal angeschaut haben, nahmen ihn anders wahr. Nicht nur die Figur selbst ist sehr rätselhaft, auch was sich ereignet, wenn man es denn Handlung nennen will, ist sehr vage. In gewisser Weise ist der Film ein Rorschach-Test dafür, welche Urteile Leute anhand von Informationen fällen, die angedeutet, aber nie bestätigt werden.“Selbst auf Zoom hat Cate Blanchett eine enorme Präsenz. Sie sitzt an einem Tisch in einem großen, minimalistisch eingerichteten Raum in Los Angeles, hat ihr blondes Haar zurückgebunden und ihr Gesicht wird von einer breitrandigen Designerbrille gerahmt. Sie strahlt stilvolle Coolness aus, erweist sich aber als erfrischend bodenständig. „Es ist eine seltsame Sache, über etwas zu sprechen, das man selbst gemacht hat“, sagt sie, „Dafür arbeitet man mit einer anderen Form der Intelligenz im Frontallappen. Sie müssen mir also verzeihen, wenn das, was ich sage, nicht immer Sinn ergibt.“ Das Gegenteil ist der Fall: Was sie sagt, ist durchdacht und pointiert.Lydia Tár ist nicht die erste unsympathische Figur, die Blanchett verkörpert hat – man denke etwa an ihre Rolle als die ultrakonservative Aktivistin Phyllis Schlafly in der TV-Miniserie Mrs. America. Aber es ist vor allem die Perfektion, mit der sie Todd Fields intellektuellen, provokanten Film vor sich hertreibt und die sie zur wohl begabtesten – und risikofreudigsten – Schauspielerin unserer Zeit macht. Sie ist in fast jeder Szene des mehr als zweistündigen Films zu sehen und fängt brillant die dissonante, herrschsüchtige Persönlichkeit eines narzisstischen Genies ein – eine Person, deren völlige Ich-Bezogenheit, verstärkt durch Ruhm, Privilegien und einen luxuriösen Lebensstil, sie gegenüber den Gefühlen anderer abgestumpft hat.Blanchett lernte das Drehbuch auswendig, inklusive der Texte der anderen„Ich denke, sie ist eine der größten Schauspielerinnen, die je gelebt haben“, sagt Todd Field über Blanchett, als ich ihn in Los Angeles anrufe. Field hat das Drehbuch eigens für sie geschrieben und betont, dass er den Film nicht gemacht hätte, wäre sie nicht dabeigewesen. „Es ist eine Sache, eine Arbeitsmoral und unglaubliche Disziplin zu haben, aber das schlägt sich nicht immer in großartiger Schauspielerkunst nieder. Ihre Fähigkeit ist fast übernatürlich. Ich weiß nicht, woher diese undefinierbare Gabe kommt, aber nur sehr wenige Schauspieler*innen haben sie.“Bei der Vorbereitung auf die Rolle, so Field, „hat Cate etwas getan, was ich noch bei keiner anderen Schauspielerin gesehen habe: Sie hat das gesamte Drehbuch auswendig gelernt – ihren Text, den Text der anderen, sogar die Regieanweisungen. Sie tauchte richtig tief ein.“ Blanchett lernte auch Deutsch, nahm Klavierunterricht, studierte online Meisterklassen des großen sowjetischen Dirigenten Ilya Mussin und sah sich so viele Aufführungen wie möglich von Mahlers Fünfter an.„Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, wie viele Dirigenten ich mir angesehen habe“, sagt sie, „und sie waren alle einzigartig! Manche sind starre Taktgeber, andere sind darin nicht besonders klar, aber sehr, sehr ausdrucksstark. Manche bewegen sich kaum, andere hüpfen auf dem Pult auf und ab. Diese Beobachtung machte mir klar, dass ich die Freiheit hatte, etwas eigenes zu entwickeln.“Eingebetteter MedieninhaltField bestand darauf, dass sie die Musiker der Dresdner Philharmonie bei den Proben zu Mahlers Fünfter tatsächlich dirigierte, während die Kameras liefen. Wie war das? „Schrecklich. Absolut schrecklich“, sagt sie und lacht. „Ich bat sie zunächst um Geduld und sagte in meinem schrecklichen Deutsch: ‚Ich bin eine Schauspielerin, die eine Musikerin spielt, und ihr seid Musiker, die Schauspieler spielen.‘ Wir hatten von Anfang an ihr Vertrauen und haben gemeinsam unseren Weg gefunden.“Blanchett verschmilzt mit ihrer Rolle und ihre Präsenz treibt die Erzählung voran, die sich von einem realistischen, fast dokumentarischen Stil hin auf seltsameres Terrain begibt, während Társ Selbstverständnis ins Wanken gerät. Im Lauf ihrer Karriere hat Blanchett viele anspruchsvolle Rollen übernommen, von der Titelrolle in Elizabeth (1998), die ihr den Durchbruch brachte, bis zu ihrer gefeierten Darstellung in Carol (2015), Todd Haynes' opulenter Geschichte einer verbotenen Liebe. So tiefgehend wie die Zusammenarbeit mit Field, sei jedoch noch keine gewesen: „Dieser Film hatte etwas wirklich Immersives, das über alles hinausging, was ich jenseits des Theaters für möglich hielt. Eine Geschichte wie diese ist mir noch nie begegnet. Oder eine Figur wie diese. In meinen Träumen nahm sie ein Eigenleben an.“„Ist Lydia Tár ein Monster? Ich würde sagen, die Welt, in der wir leben, lädt zu monströsem Verhalten ein“In ihren schlimmsten Momenten ist Lydia Társ Verhalten der Stoff, aus dem Albträume sind. Selbst in den positivsten Kritiken häufen sich Begriffe wie „Monster“ und „monströs“, um Tár zu beschreiben. Was denkt Blanchett über sie?„Nun, für mich persönlich ist die Welt, in der wir leben, monströs“, sagt sie. „Die Welt lädt ein zu monströsem Verhalten und belohnt es oft noch. Es ist sehr einfach, zu sagen, dass Tár ein Monster ist. Der Film ist da viel zweideutiger. Er beginnt mit einer Großaufnahme, nicht von einer Person, sondern von einem Handy. Es repräsentiert die Welt, in der wir leben. Die Figur von Tár ist hingegen rätselhaft. Ich hatte das Gefühl, ebensosehr einen Zustand oder eine Reige von Atmosphären zu spielen, wie eine Person.“Marin Alsop, eine der berühmtesten Dirigentinnen der Welt, sah das jedoch anders. Wie die fiktive Lydia Tár ist Alsop lesbisch und mit einer klassischen Musikerin verheiratet, mit der sie ein Kind hat. Und genauso wie Lydia Tár leitet sie ein Kolleg für junge Musikerinnen und wurde von dem großen Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein gefördert. In einem Interview mit der Sunday Times sagte Alsop, die Entscheidung des Filmemachers, die Rolle mit einer Frau zu besetzen und sie zu einer Täterin zu machen, sei „ein harter Schlag“, da es „so viele dokumentierte Fälle von Männern gibt, auf denen der Film hätte basieren können“. Für sie als Frau, als Dirigentin, als Lesbe sei das „beleidigend“.Als ich Blanchett auf das Interview anspreche, antwortet sie gelassen: „Für mich ist das Wunderbare an dem Film und das Anspruchsvolle an der Erzählung, dass er die Macht auf eine geschlechtsneutrale Weise untersucht. Nichts ist vorgezeichnet. Es ist nicht nur ein Film über den Absturz einer Dirigentin. Ich glaube, es ist ein sehr komplexer Film, der die Zeit überdauern wird. Ihn wortwörtlich zu interpretieren, ist ein Irrweg.“Blanchett beschreibt Társ mäandernde Erzählung als „eine Art Spuk“, was sicherlich auf das letzte Drittel des Films zutrifft, in dem wir die Ereignisse – und möglicherweise Vorstellungen – aus Lydia Társ fiebriger, fragmentarischer Sicht erleben.„Es gibt eine schwer fassbare Qualität, die zum Teil Realität ist. Aber ein sogar noch größerer Teil nimmt der Albtraum ein, in den sie hinabsteigt“, sagt Blanchett. „Ich glaube, sie wird da von Dingen heimgesucht, mit denen zu beschäftigen sie nicht den Mut, die Fähigkeit, oder die Zeit hatte.“ Sie stockt einen Moment. „Es ist kompliziert, eine Person zu spielen, die sich so sehr vor sich selbst versteckt, die sich so konzentriert ist auf das Streben nach Perfektion und die plötzlich den Kopf hebt und merkt, dass sie nicht als die Person wahrgenommen wird, für die sie sich hält. Oder dass sie anderen Menschen Schaden zugefügt hat. Sie war blind dafür, weil sie von dem, was vor ihr lag, so hingerissen war.“Ihre Zeit teilt Cate Blanchett zwischen L.A. und Sussex aufTrotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der heftigen Reaktionen, die die Geschichte hervorgerufen hat, ist Tár ein Film, der Cate Blanchett kreativ beflügelt hat. „Ich bin immer noch dabei, das zu verarbeiten“, sagt sie. „Tár hat mich auf wunderbare Weise aus der Bahn geworfen.“ Bei der Arbeit mit Field, sagt sie, habe sie eine Freiheit erlebt, die sie sonst nur auf einer Theaterbühne finde. „Wir waren uns nicht sicher, wo wir am Ende dieses kreativen Prozesses landen würden. Und das war aufregend. Es fühlte sich viel dynamischer als sonst an. Im Kino hat man nicht oft die Möglichkeit, auf diese Weise zu arbeiten.“Blanchetts Wurzeln liegen im Theater, und man spürt, dass es die Natur der Live-Performance ist, die sie immer noch am meisten anzieht. Ihre erste größere Rolle hatte sie 1992 im Alter von 23 Jahren in einer Produktion der Sydney Theatre Company von David Mamets Oleanna, und noch im selben Jahr wurde sie für ihre Darstellung der Klytemnestra in Sophokles' Elektra von der Kritik gefeiert. „Wenn man das erste Mal diese Form der Katharsis erlebt“, sagt sie, „ist man im Zentrum von etwas, zu dem man immer wieder zurückkehren möchte.“Blanchett teilt ihre Zeit im Moment auf zwischen Los Angeles und Sussex in Südengland, wo sie mit ihrem Mann Andrew Upton, einem Theater- und Drehbuchautor, und ihren vier Kindern lebt. Und dann ist da noch ihre Heimat Australien, die sie sehr vermisst.Zwischen 2008 und 2013 waren Blanchett und Upton Co-Direktoren und CEOs der Sydney Theatre Company, dem australischen Nationaltheater. Einmal hätten die Vorstandsmitglieder der Company sie nach ihren Zielen fragten, sagt sie lachend. „Wir antworteten: Wir wollen, dass die Leute in ein Taxi steigen und sagen: 'Wir fahren zur Sydney Theatre Company', und dass der Taxifahrer weiß, wo das verdammt noch mal ist.“Heimat ist für Cate Blanchett auch dort, wo ihre Katze begraben liegtVor kurzem war sie wieder in Australien, um den Film The New Boy von Warwick Thornton zu drehen, dessen Co-Produzentin sie ist und in dem sie die Hauptrolle spielt. „Es hatte gerade geregnet und die Sonne kam heraus, und plötzlich war da der Geruch von Erde und Eukalyptus. Ich habe einfach geweint. Ich bin so tief mit diesem Ort verbunden“, erzählt Blanchett. Ob sie sich vorstellen kann, wieder dorthin zurückzukehren? „Wir leben in England, die Kinder gehen hier zur Schule, wir sind dabei, ein paar Bäume zu pflanzen, und unsere Katze ist gestorben. Wenn man eine Katze in dem Boden begraben hat, auf dem man lebt, ist man mit ihm verbunden. Ich bin also hin- und hergerissen.“Aber im Moment steht ohnehin etwas anderes im Vordergrund. Noch ist Blanchett dabei, die Zusammenarbeit mit Todd Field bei Tár zu verarbeiten.„Sie hat mich wirklich in einem guten Sinn aufgerüttelt“, sagt sie. „Ich will immer mit der Schauspielerei aufhören, mich einfach zurückziehen, aber das hier hat mich zum Nachdenken gebracht: Es ist nicht so, dass ich aufhören will, ich will nur weniger machen.“ Sie hält einen Moment inne. „Es ist einfach sehr schwer, zu einer guten Idee nein zu sagen.“
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