Der „Guardian“ als Profiteur von Sklaverei: „Wie konnte das so lange ignoriert werden?“
Kolonialismus John Edward Taylor gründete im Jahr 1821 die Zeitung „The Guardian“. Auch er profitierte von Sklaverei, das ergaben aktuelle Recherchen. Die Chefredakteurin Katherine Viner erklärt, was aus dieser Entdeckung für die Zeitung folgen muss
Der Zusammenhang zwischen der Baumwollindustrie in Manchester und Sklavenarbeit auf den Plantagen war weithin bekannt
Illustration: Diana Ejai
Ich erinnere mich gut an den Moment, als wir uns mit den Historiker:innen trafen, die im Auftrag des Scott Trust, dem der Guardian gehört, unsere Vergangenheit unter die Lupe nehmen sollten. Die Black-Lives-Matter-Bewegung hatte uns dazu inspiriert, uns als Zeitung selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen. Cassandra Gooptar, eine Expertin für die Geschichte versklavter Volksgruppen, hatte erste Untersuchungen angestellt – und die Beweise waren erdrückend: Ohne Zweifel wurde der Guardian mit Geld gegründet, das zum Teil durch Sklaverei erwirtschaftet wurde. Für David Olusoga, einen der renommiertesten Historiker Großbritanniens, der im Aufsichtsrat des Scott Trust sitzt, kam das nicht überraschend. Diese Geschichte lag in vieler Hinsicht im Offe
eler Hinsicht im Offenkundigen verborgen. Als Chefredakteurin des Guardian erschütterte mich die Entdeckung bis ins Mark.Es ist zutiefst irritierend zu wissen, dass einer meiner Vorgänger, der Gründungsherausgeber John Edward Taylor, einen Großteil seines Vermögens mit der Baumwollindustrie in Manchester gemacht hatte. Diese Industrie fußte auf Unternehmen wie dem seinen, die Handel mit Baumwollplantagen in verschiedenen Teilen der Amerikas betrieben, wohin Millionen Schwarze unter Zwang aus Afrika als Sklaven gebracht worden waren. Der bekannte amerikanische Abolitionist Frederick Douglass (1818 – 1895) hatte den Zusammenhang klar benannt: „Den Preis eines Menschen auf dem Mississippi diktiert der Baumwollpreis in Manchester.“Der Manchester Guardian wurde 1821 in Folge des Peterloo-Massakers gegründet – der blutigen Niederschlagung einer Protestkundgebung, bei der 15 Menschen getötet und Hunderte verletzt wurden. Die Zeitung ging mit einer Mission an den Start, die viele inspirierte: Sie trat für das Recht der Arbeiter:innen auf eine parlamentarische Vertretung ein und für mehr Bildung für die Armen. Die Zeitung befürwortete auch die Abschaffung der Sklaverei.Inhaltlich wirkte es sich ausUnd doch profitierte John Edward Taylor wie so viele, die ihm für die Gründung des Guardian Geld liehen, von der Baumwollindustrie, die auf der systematischen Versklavung von Millionen basierte. Einer von Taylors Unterstützern war nicht nur Baumwollhändler, sondern auch Miteigentümer einer Plantage auf Jamaika, auf der 122 Menschen versklavt wurden. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Interessen die inhaltliche Politik der Zeitung nicht beeinflussten. Als die Sklavenhalter 1833 eine gigantische finanzielle Kompensation für die Aufgabe ihres menschlichen „Eigentums“ forderten, unterstützte ein Kommentar des Guardian sie: „Wir sind überzeugt, dass kein Plan für die Abschaffung der Sklaverei angemessen hätte sein können, der nicht auf den großen Prinzipien der Gerechtigkeit für den Plantagenbesitzer (also den Sklavenhalter) ebenso wie für den Sklaven basiert.“ Gerechtigkeit für den Plantagenbesitzer bedeutete einen Anteil an 20 Millionen Pfund, die der Staat zur Verfügung stellte; Gerechtigkeit für die Versklavten bedeutete lediglich Freiheit, ohne einen Penny Entschädigung.Diese Fakten, die der Scott Trust nun in seinem Bericht Legacies of Enslavement (dt. „Vermächtnisse der Sklaverei“) öffentlich gemacht hat, sind erschütternd. „Andere Zeiten“ ist keine Entschuldigung, es geht um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.Wir haben mehr als zwei Jahre lang recherchiert. Während dieser Zeit beschäftigten wir uns mit quälenden, schwer zu beantwortenden Fragen. Wie konnten diese Gründer Reformer – ja, Gegner der Sklaverei – sein und gleichzeitig unbekümmert Geld aus der Sklaverei beziehen? Wir wissen, dass afroamerikanische Abolitionisten wie Frederick Douglass und Sarah Parker Remond in Manchester Reden vor vollen Hallen hielten. Warum findet sich in den zahlreichen Abhandlungen zur Geschichte des Guardian nichts zu den Verbindungen zwischen der Zeitung und der Sklaverei? Warum wurden diese bisher ignoriert, selbst unter C.P. Scott, der als Chefredakteur (1872 – 1929) und Eigentümer (von 1907 an) den Guardian in Richtung der antikolonialen Linken drehte und mit so vielem aufräumte, was an der Zeitung im 19. Jahrhundert unattraktiv war?Was folgt für den „Guardian“ daraus?Für uns, die wir heute für den Guardian verantwortlich sind, ist die größte Frage aber die nach dem Hier und Jetzt: Was folgt aus diesem Wissen? Wie sollte es uns als Unternehmen verändern?Der Scott Trust hat sich für unsere Vergangenheit entschuldigt und stellt Mittel zur Finanzierung von Community-Projekten auf Jamaika und den amerikanischen Sea Islands zur Verfügung. Und es werden Gelder für weiterreichende Forschung bereitgestellt, unter anderem um die Geschichte des Observer zu beleuchten, unserer Schwesterzeitung.Dabei war und ist das Erbe der Sklaverei nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent spürbar. Es spielte eine Rolle – manche sagen, die entscheidende – für den Rassismus und die Ungleichheit, die bis heute in vielen Gesellschaften und Wirtschaftsbranchen bestehen. Auch im Journalismus. Deshalb will der Guardian sich noch stärker für mehr Repräsentanz in unserer Branche einsetzen. Für den Guardian arbeiten viele herausragende Schwarze Autor:innen, Redakteur:innen und Kolumnist:innen, und wir können und werden noch diverser werden. Ich bin überzeugt, dass Diversität für Nachrichtenunternehmen ein praktischer ebenso wie moralischer Imperativ ist: „Wenn Journalist:innen Distanz zur Lebensrealität anderer haben“, schrieb ich 2017, „verfehlen sie Geschichten und die Menschen vertrauen ihnen nicht.“ Und doch zeigen Studien, dass nur 0,2 Prozent der Journalist:innen in Großbritannien Schwarz sind (obwohl Schwarze rund drei Prozent der Bevölkerung ausmachen, PoC 18 Prozent).Der Guardian hat sich seit Langem einer internationalen Berichterstattung für unsere weltweite Leserschaft verpflichtet. Wir werden diese weiter ausbauen und mehr für eine substanzielle Berichterstattung über Schwarze Communities auf der ganzen Welt tun. Unter anderem werden wir neue Posten für die Berichterstattung in der Karibik schaffen. Geplant ist, unsere Teams in Südamerika und Afrika zu verstärken. Derweil sollen in Großbritannien und den USA mehr Journalist:innen den Fokus auf den Alltag und die Erfahrungen von People of Colour legen. Es gibt Geschichten, die nicht erzählt werden, und der Guardian ist in der Lage dazu.Die Geschichte aufarbeitenSeit mehreren Jahrzehnten schon unterstützt ein Stipendienprogramm der Guardian Foundation junge Talente auf dem Weg zu einer Karriere in den Medien. Das Programm werden wir in Großbritannien ausbauen und auf unsere Redaktionen in den USA und Australien ausweiten. Ebenso wichtig, wie den Einstieg zu fördern, ist es, Schwarze Journalist:innen in der Branche zu halten und sicherzustellen, dass sie die Führungsebene erreichen, wo sie nach wie vor unterrepräsentiert sind. Daher stellen wir auch Mittel für ein neues Weiterbildungs- und Führungsprogram für Schwarze Journalist:innen bereit, die sich in der Mitte ihrer Karriere befinden.Ganz unmittelbar starten wir die neue journalistische Reihe Cotton Capital. In den kommenden Monaten werden wir uns auf guardian.co.uk und in der Zeitung mithilfe von Essays, interaktivem Journalismus, Videos, Podcasts und Newslettern mit der Geschichte des Guardian im Kontext von Großbritanniens historischen Verstrickungen in die Sklaverei befassen, sowie der damit einhergehenden Politik und den Auswirkungen heute. Ich hoffe, dass diese Aufarbeitung andere Institutionen dazu anregt, es uns gleichzutun.Der Schriftsteller und Bürgerrechtsaktivist James Baldwin formulierte es einmal so: „Nicht alles, dem man sich stellt, lässt sich verändern, aber nichts lässt sich verändern, bis man sich ihm stellt.“ Beim Guardian stellen wir uns der Tatsache, dass unser Gründer und die, die ihn finanzierten, ihren Wohlstand durch Praktiken erlangten, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren. Und wir entschuldigen uns dafür. Mit Olusogas Worten: „Teil der finanziellen DNS des Guardian sind die gestohlene Arbeitskraft und das Leben von versklavten Menschen in den USA, Jamaika und Brasilien.“Während wir in unser drittes Jahrhundert als Nachrichtenorganisation aufbrechen, muss diese Vergangenheit dazu führen, dass wir unseren Journalismus entschlossen nutzen, um Rassismus, Ungerechtigkeit und Ungleichheit aufzuzeigen und die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen; und mit Klarheit und Vorstellungskraft Hoffnung zu wecken.Placeholder authorbio-1
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