Es wirkt so, als sei die gestürzte Regierung nur mal eben zum Mittagessen ausgegangen. Jemand hat einen Aktenkoffer auf einem ovalen Tisch liegen gelassen. An dessen Kopfende steht ein grünes Schild, auf dem auf Arabisch zu lesen ist: „Dr. Al-Baghdadi Ali Al-Mahmoudi, Premierminister Libyens“. Neben dem verlassenen Sessel sind weitere für die Kabinettskollegen reserviert: Für den Finanz- und Bildungs-, den Umwelt- und Fischereiminister. Im Warteraum nebenan summt leise die Klimaanlage.
Das Büro des Regierungschefs in Tripolis' Diplomatenviertel ist – wenig überraschend - verlassen, Muammar Gaddafis Ministerriege auf der Flucht. Die Rebellen haben das Gebäude am 23. August eingenommen. An einigen Wänden hängen noch Portraits des verschwundenen Diktators, und die Papiere, die von den Ministern zurückgelassen wurden, erzählen eine eigene Geschichte – Petitionen sind darunter, eine Hochzeitseinladung und ein Libyen-Investitionsbericht der Beraterfirma Ernst Young („Qualität in allem, was wir tun“). Libyen hat derzeit keine Regierung, denn Premier Al-Mahmoudi hat sich nach Tunesien abgesetzt. Wo sich die anderen Kabinettsmitglieder aufhalten, ist nicht bekannt. Wie die libysche Bevölkerung zum Gaddafi-Regime und seinen dekorativen Vertretungen steht, geben zwei Graffiti auf einer der Außenwände des Regierungssitzes zu verstehen: „Zur Hölle mit Gaddafi“, steht da und „Nieder mit dem Krauskopf“.
Verkohlter Billardtisch
Die Rebellen mögen Gaddafi gestürzt haben, der Preis dafür aber war hoch. Im von Italien erbauten Zentralkrankenhaus in Tripolis sind die Ärzte noch nicht dazu gekommen, die Toten zu zählen, die erst einmal in einem Nebenzimmer abgelegt wurden. In der heftigen Schlacht um Gaddafis Militärkomplex Bab al-Aziziya gab es am 23. August viele Tote – andere, die schwer an Kopf oder Bauch verletzt wurden, liegen verbunden und in ernstem Zustand auf der Intensivstation.
Dr El-Mahdi, ein Orthopäde der Klinik, meint, die Libyer würden hinter der Bombardierung von Regierungsgebäuden durch die NATO stehen und hätten sich nicht von der anti-westlichen Staatspropaganda überzeugen lassen. Er halte die libysche Revolution für eine Fortsetzung vorhergegangener Umbrüche: „Es hat in Osteuropa angefangen und sich dann auf dem Balkan ausgebreitet. Nun erreicht die Umwälzung unsere Welt, bevor sie auf Afrika übergreift und andere Länder, in denen Diktatoren herrschen.“
In einem der Krankenzimmer erholt sich der 32-jährige Abdul Karim, dem ein Polizist ins Bein geschossen hat. Er erzählt, er habe sich vor einer Woche nach dem Moschee-Besuch einigen Demonstranten angeschlossen. „Wir haben gerufen, dass Gaddafi der Feind Gottes ist. Da haben sie das Feuer eröffnet. Einer wurde getötet.“ Die Polizei verfrachtete ihn auf die Ladefläche eines Pickups und warf ihn ins Gefängnis. Dort wurde er sechs Tage ohne medizinische Behandlung festgehalten. „Meine Wunde fing an zu stinken“, sagt er. Am Dienstagmorgen wurden er und etwa 70 andere Gefangene schließlich von Rebellen befreit, während sich die Wächter ebenso verstecken wie die Mitarbeiter des Hauptquartiers der Geheimpolizei von Tripolis. Dort erschien niemand zur Arbeit. Auch im Außenministerium, einem charmanten Bau am Meer, das der von Gaddafi 1969 entthronte König Idris erbauen ließ, hat niemand den Dienst angetreten. Die Türen der EU-Abteilung sind verschlossen. Einer der Rebellen versucht, ein goldgerahmtes Portrait des ehemaligen libyschen Führers zu ergattern, begnügt sich dann aber damit, das Glas zu zertrümmern.
Nur einen kurzen Fußmarsch entfernt befindet sich die britische Botschaft in Libyen, die im März vor den Augen der Soldaten Gaddafis zerstört und geplündert wurde. Das einst ansehnliche Art-Deco-Gebäude ist nun eine verkohlte Ruine. Ein Feuer hat das gesamte Erdgeschoss zerstört, die geschwungene Marmortreppe ist mit Trümmern übersät – vom Billardtisch ihrer Majestät ist nur noch ein verkohlter Rahmen übrig.
Viele, viele Gewehre
Ohama Mohamad, ein Meereswissenschaftler, der die Zerstörung der Residenz mitangesehen hat, berichtet, Gaddafis Leute hätten Anwohner angehalten, das Gebäude auszurauben. Er selbst sei enttäuscht über die engen Beziehungen, die Großbritanniens mit Gaddafi unterhielt. Auch habe der libysche Botschafter eine Einladung zur Hochzeit von Prinz Williams erhalten (die wurde allerdings später zurückgezogen).
Draußen im sonnigen Hof stehen die Überreste von vier ausgebrannten PKW, aus dem Swimmingpool des Botschafters wurde inzwischen ein von Algen befallener Teich – Richard Northern und seine Familie haben diesen Ort offensichtlich in größter Eile verlassen. Die Räume im oberen Stockwerk sind voll mit Papieren. Auf dem Fußboden liegen die Tripoli Post, daneben eine Landkarte Libyens und ein Arabisch-Lehrbuch. Eine auf der Schreibmaschine verfasstes Schriftstück des ehemaligen Botschafters gibt einen Hinweise auf die landesüblichen Gepflogenheiten. „Das einzige wirkliche Ungemach ist das Fehlen eines guten Glases Wein in der gesamten Botschaft, sobald die Weihnachtsration aufgebraucht ist.“
Es liegt auch die Menü-Karte eines Dinners herum, das zu Ehren des Labour-Ministers Charles Clarkes gegeben wurde – ein Zeichen für das gute Verhältnis, das die letzte Labour-Regierung zu Tripolis pflegte. Clarke kam unter anderem in den Genuss von "scharfer Kürbis-Suppe" und "nordafrikanischem Lamm mit Couscous und gemischtem Gemüse". Die Weinsituation hatte sich zu diesem Anlass augenscheinlich verbessert. Dem Minister wurden eine Flasche Chablis Grand Crû sowie Kaffee und Trüffel serviert. Für die meisten Bewohner von Tripolis ist solche Opulenz undenkbar. Die Armut in einem Land mit den größten Ölreserven auf dem afrikanischen Kontinent war einer der Hauptgründe für den Mitte Februar ausbrechenden Aufstand.
Weniger Schüsse
An einem der Kontrollpunkte der Rebellen sitzen einige Freiwillige auf einem edlen schwarzen Ledersofa, das sie sich aus einer Wohnung in der Nähe geholt haben. „Bei uns zu Hause beaßen wir so etwas nicht“, sagt Moaied al-Nadami und zeigt auf seinen neuen Anzug. „Gaddafi hat viele teure Sachen. Er hat unser Geld für Partys und Gewehre ausgegeben.“ Al-Nadami zeigt einen Zehn-Millimeter-Revolver, den er im Anwesen Gaddafis ergattert hat. „Viele, viele Gewehre“, habe es dort gegeben.
Überall in Tripolis betreiben die Rebellen Checkpoints, so dass eine Autofahrt nun der Tour durch einen Hindernis-Parcours gleicht. Noch sind Schüsse zu hören, freilich sehr viel weniger als zu Beginn der Woche. Einige Läden haben wieder geöffnet, zwei Frauen gehen beladen mit frischen Baguettes über die Straße. Die meisten Rebellen verhalten sich freundlich, es gibt aber auch Ausnahmen. Im Gewirr der Gassen rund um die Gaddafi-Residenz verlangt eine Rebellengruppe aufgeregt die Ausweise ausländischer Korrespondenten, die jetzt ins Land strömen. Man suche nach Informanten und Verrätern, heißt es. „Woher sollen wir wissen, dass ihr keine Spione seid?“, fragte einer. Es wird lange dauern, das zur Gewohnheit gewordene Misstrauen zu verlernen.
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