Es ist schon komisch, wie die Dinge sich ändern. Als die Bush-Regierung Anfang 2003 um Erlaubnis bat, ihre Truppen durch türkisches Territorium in den Irak schleusen zu dürfen, wiesen der kurz vor seiner Amtseinführung stehende Premier Tayyip Erdogan, und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) diese Bitte unverhohlen zurück. Ihr mutiges Aufbegehren gegen den Willen Amerikas brachte den Türken Applaus in der gesamten arabischen Welt, nicht zuletzt in Syrien.
Jetzt, da man in Ankara das Regime Präsident Bashar al-Assads – nicht das Saddam Husseins – als gefährlichen Feind einstuft und mit der Aussicht auf einen regionalen Konflikt, der seit dem Abschuss eines türkischen Militärjets ein Stück näher gerückt ist, hat Erdogan eilig einen anderen Ton angeschlagen. Da er nicht allein gegen Assad vorgehen will, wendet er sich an die USA und die NATO. Soviel zur viel diskutierten „strategischen Neuausrichtung“ der Türkei.
Türkische Kommentatoren haben zwar vehement, dabei aber wenig überzeugend, betont, Erdogan habe keinen Gesichtsverlust erlitten, weil er vor einer direkten militärischen Reaktion zurückgeschreckte und statt dessen die westlichen Partner um Hilfe ersuchte. Eine solch bedachte Reaktion werde dem Status eines ernstzunehmenden Staates gerecht, schreibt Mehmet Ali Birand in der Zeitung Hurriyet.
Gemeinsame Manöver
Doch Erdogans Versprechen, das syrische Militär anzugreifen, sollte es sich der gemeinsamen Grenze nähern, die Oppositionsgruppen „um jeden Preis“ zu unterstützen und alles zu tun, um die Assad-Dynastie zu Fall zu bringen, kann die Schwäche der türkischen Position nur schwerlich verschleiern. Ankara hat zwei Prioritäten, die beide innenpolitischer Natur sind: Modernisierung und Wachstum. Die Türkei will keinen Krieg entlang ihrer südlichen Grenze und kann sich einen solchen auch nicht leisten. Er würde diese Ziele aufs Spiel setzen, die Kurden-Gebiete weiter destabilisieren und ihren weiterreichenden regionalen Interessen ernsthaften Schaden zufügen. Assad dürfte dies vermutlich ebenfalls klar sein.
Diese türkische Schwäche war bereits offensichtlich, bevor im Vorjahr der Aufstand in Syrien begann. Sie wurde von einer Reihe von Fehlurteilen des Triumvirats der türkischen Außenpolitik – Premier Erdogan, Außenminister Ahmet Davutoglu und Präsident Abdullah Gül – verstärkt, die dazu geführt haben, dass man auf die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit nicht vorbereitet war.
Davutoglu ist der Stratege unter den dreien. Als ehemaliger Professor für internationale Beziehungen und mit dem positiv gemeinten Spitznamen „der türkische Kissinger“ versehen, beschrieb er die außenpolitische Devise der AKP mit den Worten „null Probleme mit den Nachbarn“. Dies sollte, kurz gesagt, wie folgt erreicht werden: Die Türkei sollte ihre Verbindungen zu ihren arabischen Nachbarn stärken, die sie früher kolonisiert hatte, als vertrauenswürdiger Vermittler mit dem Iran auftreten und ein pragmatisch positives Verhältnis zu Israel unterhalten. Theoretisch könnte dies alles zu einer Stärkung der türkischen Position als aufstrebende Regionalmacht und Drehkreuz zwischen Orient und Okzident beitragen.
Manche nannten diese Politik eine Re-Osmanisierung. Eine Zeitlang schien diese Strategie auch aufzugehen, wie Davutoglu 2010 gegenüber dem Guardian behauptete. Speziell bei Syrien wurde alter Streit über gemeinsam genutzte Wasservorräte, den Grenzverlauf in der Provinz Hatay und den Beistand aus Damaskus für die PKK vergessen; stattdessen unterzeichnete man 2004 ein Freihandelsabkommen und regte Visafreiheit an. Gül and Erdogan statteten dem Nachbarn Staatsbesuche ab und 2009 führten beide Länder gar gemeinsame Militärübungen durch. Syrische Kommandanten wurden eingeladen, die türkischen Grenzanlagen zu inspizieren. Dieser Großmut wirkt heute ebenso unglücklich, wie vieles andere an Davutoglus Politik der guten Nachbarschaft. Die Beziehungen zu Israel liegen seit dem Streit um die Gaza-Flotille auf Eis. Der Irak scheint die Nähe Teherans derjenigen Ankaras vorzuziehen. Die Verantwortlichen für das iranische Nuklearprogramm scheinen den Türken ihre Vermittlungsbemühungen in keiner Weise zu danken. Und die Kurden-Frage ist so unbeantwortet wie eh und je, wofür jüngste Luftangriffe auf den Nordirak ein Beleg sind.
Depots mit Massenvernichtungswaffen
Die syrische Krise gibt der türkischen Führung die Gelegenheit zu einer außenpolitischen Neuausrichtung, bei der sie weiß, wer ihre wahren Freunde sind – nicht, wer sie möglicherweise einmal sein könnten. Die USA und Großbritannien sind wie die meisten anderen NATO-Mitglieder trotz des anti-türkischen Ressentiments, das durch Sarkozy und einige seiner deutschen Gesinnungsgenossen geschürt wurde, mit Sicherheit dem ersten Lager zuzurechnen. Russland und Iran werden hingegen nicht an der Seite der Türkei stehen, wenn es mit Syrien hart auf hart kommt.
Sollten die wachsende Zahl syrischer Flüchtlinge und Deserteure, die Bedrohung des Libanon, der wirtschaftliche Schaden und das rücksichtslose Vorgehen der Assad-Armee nicht ausreichen, um der türkischen Führung Klarheit zu verschaffen, an wessen Seite das Land am besten aufgehoben ist, sei ihr ein Blick auf das große syrische Arsenal an konventionellen und Massenvernichtungswaffen empfohlen.
„Während Syrien immer tiefer in Gewalt versinkt und Teile des Landes der Kontrolle der Regierung entgleiten, könnten die Arsenale an chemischen und biologischen Waffen, die Luftabwehrsysteme und ballistischen Arsenalöe in die Hände radikaler Gruppen fallen“, ist diese Woche im Christian Science Monitor zu lesen. „Harte Zahlen über Syriens Kapazitäten an Massenvernichtungswaffen sind rar, aber man vermutet, das Land besitzt einen der weltweit größten Vorräte an chemischen Wirkstoffen inklusive der Nervengifte VX und Sarin. Des weiteren verfügt die Armee über eine beeindruckende Zahl an Boden-Boden-Raketen, die mit chemischen Sprengköpfen ausgestattet werden können, sowie modernen russischen Batterien mit Flugabwehrraketen. Die umfassen auch tragbare Systeme, die von der Schulter aus abgefeuert werden.“
Die Vorstellung, einige dieser Bestände könnten von einem verzweifelten Regime, das um sein Überleben kämpft, eingesetzt werden, oder in die Hände von Terroristen fallen, ist beängstigend. Das sich daraus ergebene Chaos könnte leicht übertreffen, was in Libyen nach dem Fall Muammar al-Gaddafis geschah. Es stellt für die Türkei und ihre Nachbarn eine potenziell tödliche Bedrohung dar. Bleibt zu hoffen, dass Erdogan und seine Umgebung dies vollauf begreifen.
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