Dass ein Kandidat der Muslim-Bruderschaft – der ältesten islamistischen Bewegung der Welt – im bevölkerungsreichsten arabischen Land bei freien und fairen Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, ist ein Triumph, der in der aufgewühlten Region Nachhall finden dürfte. Eine historische Errungenschaft – allerdings eine mit Makeln und Einschränkungen.
Mursi wird der erste zivile Präsident Ägyptens sein, seit Gamal Abdel Nasser und mit ihm verbündete Offiziere 1952 die Monarchie stürzten. Hosni Mubarak wurde im Februar 2011 zum Rücktritt gezwungen – doch blieben die Generäle, die ihn bis dahin gestützt hatten. Mursis größtes Problem besteht darin, dass das Militär – die wirkliche Macht hinter dem Thron – immer noch an Ort und Stelle bleibt.
Dennoch hat sich in Ägypten einiges geändert. Die Erwartungen an einen Wandel sind nun größer als vor dem Tahrir-Drama im vergangenen Jahr. Auch die politische Polarisierung ist fortgeschritten: Niemand sollte unterschätzen, welche Auswirkungen der Erfolg der Muslim-Brüder auf die Bewegung haben wird, die jahrzehntelang unterdrückt und gefürchtet wurde. Der geschlagene Ahmed Shafiq – letzter Premierminister unter Mubarak und ein Repräsentant des alten Regimes – hat immerhin 48 Prozent der Stimmen erhalten. Für viele Ägypter war es eine Wahl zwischen zwei ungenießbaren Extremen.
Keine Verfassung
Mursis Sieg folgt auf Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die freier und fairer waren als alle Voten in den 60 Jahren zuvor. Mancher allerdings betrachtete den gesamten Prozess von Anfang an als Farce: „Wie spannend diese lächerlichen Wahlen sind“, twitterte ein Zyniker vor der Bekanntgabe der Ergebnisse am Wochenende. „Man stelle sich vor, das Ganze sei echt.“
Was ist geschehen? Der Wahlbetrug der Mubarak-Jahre ist Manipulationen auf höherer Ebene gewichen. In Ägypten ist von einem „sanften Coup“ die Rede – eine Verfassungserklärung gibt dem Obersten Rat der Streitkräfte nie gekannte Befugnisse, nachdem per Gerichtsentschluss das von Islamisten dominierte Parlament aufgelöst wurde. Eine neue Magna Charta muss erst noch geschrieben werden. Mursis eigene Autorität in dieser Konstellation scheint extrem begrenzt.
Was im Geheimen hinter den Kulissen zwischen Muslimbrüdern und Militärrat ausgehandelt ist, weiß man nicht. Es wäre jedenfalls überraschend, wenn der Militärrat finanziellen Einfluss und vorhandene Privilegien nicht behalten, wenn er vor allem die Macht aufgeben würde, Krieg zu führen, Außenpolitik zu betreiben und für die innere Sicherheit zu sorgen. Das ist die Heilige Dreifaltigkeit des „tiefen Staates“ in Ägypten. Es wird den Obristen perfekt ins Konzept passen, bald schon dem zivilen Präsidenten den schlechten Zustand der Wirtschaft anzulasten.
Premierminister El-Baradei?
Er war zuletzt eine seltsame Wendung, dass Anhänger des Wahlverlierers Shafiqs den USA vorwarfen, sich stillschweigend für einen Sieg Mursis einzusetzen, um so die Dominanz des Militärrats zu zementieren und das strategisch wichtige Friedensabkommen mit Israel zu sichern.
Vom Gesichtspunkt der Ausgewogenheit her ist Mursi die bessere Alternative. So entsteht die Möglichkeit fortgesetzter Verhandlungen zwischen Armee und Bruderschaft, deren gut organisierte Basis weiterhin in Bereitschaft ist, auf die Straßen zu gehen und Druck auf die Generäle auszuüben. Ein Sieg Shafiqs hätte sofort wieder Proteste ausgelöst und es der Armee einfacher gemacht, diese im Namen der Stabilität niederzuschlagen.
Nun steht Mursi die größte Herausforderung bevor. Wird er der Armee die Stirn bieten? Seine Behauptung, er repräsentiere „alle Ägypter“ wird sich daran messen lassen müssen, wie und ob er auf liberale und unabhängige Kandidaten zugeht, die in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen ausgeschieden sind.
Wen wird er zum Premier ernennen? Jemanden, der nicht der Bruderschaft entstammt. Man munkelt, die Wahl könnte auf Mohammed El-Baradei fallen, um Pluralismus zu demonstrieren und der Wirtschaft zu signalisieren, dass ihr besonderes Augenmerk zuteil wird. Die Befürchtungen von Kopten und Frauen müssen zerstreut werden, doch es glaubt nicht jeder an den neuen, alle einbeziehenden Geist der Muslimbrüder: Immerhin haben die während des vergangenen Jahres die Übergangspläne des Militärrats unterstützt und dann das Versprechen gebrochen, nicht zu viele Kandidaten bei den Parlaments- und gar keinen bei den Präsidentschaftswahlen aufstellen zu wollen.
Mit Mursis Wahlsieg ist nicht das Ende des turbulenten postrevolutionären Spiels in Ägypten erreicht. Aber vielleicht das Ende vom Anfang.
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